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Die DDR hatte ihre Straßen im Winter im Griff: Winterdienst 05.01.1986 in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Bildrechte: imago images / HärtelPRESS

Die vereiste RepublikWar der Winterdienst in der DDR besser als heute?

09. Dezember 2022, 17:24 Uhr

Der Winter stellte sowohl die Volkswirtschaft als auch die Räumdienste regelmäßig vor große Probleme. In einem beliebten Witz wurde der Winter daher sogar als einer der "Hauptfeinde des Sozialismus" ausgemacht. Doch Zeitzeugen erinnern sich auch an vorbildlich und schnell geräumte Straßen - und einen Rechtsanspruch darauf.

Fiel im Dezember der erste Schnee, wurde immer von einem "Wintereinbruch" gesprochen, als wäre es ein unerwartetes Ereignis. Der Winter und seine Folgen waren im Grunde - so jedenfalls schienen es die Verantwortlichen in der Republik zu sehen - ein heimtückischer Angriff des Wetters auf die sozialistische Volkswirtschaft. Bei der Deutschen Reichsbahn froren die Weichen ein, Wasserrohre platzten und in den Straßenbahnen fielen die Heizungen aus. Noch heute sind im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig Plakate zu sehen, die die "Kampfbereitschaft" der Bevölkerung signalisieren sollten: mit dem Schnee schippenden Leipziger Löwen und der allseits bekannte Losung "Nehmt den Winter auf die Schippe".

Winterschlacht im DDR-Fernsehen

Seit den 60er-Jahren gab es die "Woche der Winterbereitschaft" und alle Zeitungen schrieben darüber, wie gut der Winterdienst in der DDR gegen den bevorstehenden Winter gerüstet sei. Selbst Herr Fuchs vom Kinderfernsehen zeigte sich von den ewig wiederkehrenden Erfolgsmeldungen genervt und sagte im "Abendgruß" des Sandmännchens: "Kreuzspinne und Kreuzschnabel. Diese Aufrufe: Schippt fleißig Schnee! Denkt an die hungernden Vögel im Winter! Ich kann das nicht mehr lesen …"

Die ZIL-Fräse: das Kronjuwel des DDR-Winterdienstes

Die Erfolge in der Winterschlacht waren nicht immer proportional zu den vorwinterlichen Kampfansagen. Oft fehlte die entsprechende Technik, und so wurden notgedrungen Multicars und Traktoren zu Schneepflügen umfunktioniert. Erst als Anfang der 1970er-Jahre die sowjetische ZIL-Fräse zum Einsatz kam, verbesserte sich die technische Lage. "Sie hatte ein Armaturenbrett, das aussah wie ein Flugzeug-Cockpit", erinnert sich Heinz Mittelbach von der damaligen Straßenmeisterei Stollberg.

Die ZIL-Fräse war das Kronjuwel des DDR-Winterdienstes: mit einem Panzermotor ausgerüstet, schaffte sie bis zu 1.000 Tonnen Schnee pro Stunde. Kein Wunder, dass sie schnell zum Liebling der Straßenmeistereien im Erzgebirge wurde. "Das war russische Technik: robust, widerstandsfähig und kräftig. Mir ist fast kein Beispiel bekannt, wo diese Fräse die Straße nicht hätte aufmachen können", erinnerte sich Roland Taut, damals Technischer Direktor einer Bezirksdirektion Straßenwesen, im Interview mit dem MDR-Fernsehen.

Neue Ära: organisierter Winterdienst im Erzgebirge

Im Erzgebirge hat aber schon vor Einführung der ZIL-Fräse eine neue Ära - mit dem organisierten Winterdienst ab den 1950er-Jahren. Denn bis dahin galt der Winter als eine Naturgewalt, der man sich einfach fügen muss. Schneereiche Winter sind dort keine Ausnahme, allein auf dem Fichtelberg herrscht nicht selten an 200 Tage Frost im Jahr. "Die Leute haben sich früher damit abgefunden. 'Wir sind eingeschneit, dann bleiben wir eben zu Hause, gehen halt nicht auf Arbeit. Es war normal, dass der Ort erst am nächsten Tag wieder erreichbar war. Da war der organisierte Winterdienst der Fünfziger- und Sechziger-Jahre schon ein enormer Fortschritt", so Taut.

"Rechtsanspruch auf geräumte Straßen"

Später gab es in der DDR sogar einen Rechtsanspruch auf Räumung der Straßen, erinnert sich Taut: "Es war per Gesetz festgeschrieben, dass nach Eintritt des Ereignisses, so nannte sich das, innerhalb von zwei Stunden die Straße geräumt und gestreut sein muss. Heute steht in den Straßengesetzen der Länder, dass der Baulastträger der Straße, also der Eigentümer, nach besten Kräften versuchen sollte, die Straße im Winter schnee- und eisfrei zu halten. Der große Unterschied besteht darin, dass in der DDR der Bürger, also der Kraftfahrer, einen Rechtsanspruch hatte." Inwieweit sich diese staatliche Vorgabe in der Realität auch einlösen ließ, bleibt allerdings ein Geheimnis. Zumindest bei Extremwetterlagen wie dem Katastrophenwinter 1978/1979 war das nicht der Fall.

Katastrophenwinter 1978/1979 legt DDR lahm

Dieser Winter wird für viele unvergessen bleiben. Nach Weihnachtstauwetter mit starkem Regen folgte ein plötzlicher Temperatursturz von plus 10 auf minus 20 Grad. 72 lang Stunden tobte vor allem im Norden der Republik ein Schneesturm. Der Wind türmte meterhohe Schneewehen auf. Die Bevölkerung der DDR erfuhr anfangs nur durch den Klassenfeind von der Katastrophe. Die "Tagesschau" meldete am 29. Dezember 1978: "Das nördliche Europa kämpft gegen Schnee. Glatteis, meterhohe Schneeverwehungen verursachten in Schottland im Norden der Bundesrepublik Deutschland, in der DDR sowie in Dänemark ein Verkehrschaos. Zerstörte Versorgungsleitungen führten zu Stromausfall und verschärften die Situation."

Rügen nicht erreichbar

Die DDR-Medien sprachen an diesem Tag hingegen noch verniedlichend von einer "Ostseeküste im Winterkleid". Erst am Silvestertag wurde die Bevölkerung durch die "Aktuelle Kamera" über die Wetterlage informiert. Zu diesem Zeitpunkt war beispielsweise die Insel Rügen nicht mehr erreichbar; die Wasserleitungen waren seit Tagen eingefroren und viele Haushalte ohne Strom und Heizung. In einigen Häusern lag die Temperatur weit unter dem Gefrierpunkt. Erst am 3. Januar 1979 schickte die DDR-Führung, die das Ausmaß der Katastrophe völlig verkannt hatte, Panzer der NVA zur Unterstützung des völlig überforderten Winterdienstes auf die Insel Rügen.

ZIL-Fräse schreibt Geschichte im Kältewinter 1978/1979

Fräsenfahrer Heinz Mittelbach schrieb in diesem Kältewinter 1978/1979 Geschichte: Als die Insel Rügen unterm Schnee versank, machte er sich als Helfer mit seiner sowjetischen Wunderfräse auf die Reise gen Norden. Obwohl er Vollgas gab, erreichte er die Ostseeküste erst nach einem ganzen Tag Fahrt - die Fräse fuhr nur 40 Stundenkilometer. Vor Ort angekommen, fräste er mit seiner Supermaschine zunächst den Rügendamm frei. Eine ganze Woche dauerte es dann, bis alle Straßen auf der Insel freigelegt waren.

Über das Ausmaß der Schäden im Katastrophenwinter gibt es bis heute keine verlässlichen Zahlen. In der BRD wurde der Schaden mit 140 Millionen D-Mark beziffert und 17 Todesopfer gemeldet. In der DDR war von fünf Todesopfern die Rede.

Protest: Tannenbäume in Schlaglöcher gepflanzt

Rechtsanspruch auf geräumte Straßen hin oder her: In den 1980er-Jahren wurde die Lage des Winterdienstes in der DDR immer prekärer. Die Räumflotte war hoffnungslos überaltert und marode. Die Autofahrer beschwerten sich über den Zustand der Straßen: Vor allem in den Bergregionen waren die Fahrbahnen durch den ständigen Streusalz-Einsatz brüchig geworden und der Frost hatte Schlaglöcher gerissen. Manche waren so groß, dass die Anwohner die Löcher mit Erde auffüllten und aus Protest Tannenbäume hineinpflanzten. Als die Mauer fiel, waren 120.000 Kilometer der öffentlichen Straßen in einem desolaten Zustand, das entspricht etwa eineinhalb Erdumrundungen.

Der Artikel erschien erstmals im Dezember 2012.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | DDR vereist | 28. Januar 2020 | 22:05 Uhr