Nach dem 11. September 2001 Nine Eleven und warum eine Lehrerin suspendiert wurde: Der "Fall Petra S."

23. November 2021, 16:51 Uhr

Eine Lehrerin aus dem sächsischen Hohenstein-Ernstthal spricht am 12. September 2001 im Unterricht mit den Schülern und Schülerinnen über die islamistischen Anschläge des Vortages. Die Situation ist für alle hochemotional. Die Aussagen der Lehrerin entwickeln eine Eigendynamik, die zu ihrer Suspendierung führt. Rekonstruiert man den Fall zwanzig Jahre später, fällt auf, dass Vorverurteilung und Dramatisierung dabei eine große Rolle spielten.

Der "Fall Petra S.": Hohenstein-Ernstthal in Aufruhr

Als die Lehrerin Petra Seedorff am 12. September 2001 in die zehnte Klasse kommt, in der sie Geschichtsunterrricht halten will, ist es kein normaler Schultag. Am Vortag verübte das islamistische Terrornetzwerk "al-Qaida" mit vier Flugzeugen den bis heute größten Anschlag im Westen, bei dem mehrere Tausend Menschen starben.

Aus dem Mitteilungsbedürfnis der Schülerinnen und Schüler entsteht schnell eine lebhafte und emotionale Diskussion, in der die Beteiligten versuchen, die Anschläge auch im weltpolitischen Kontext einzuordnen. Mit dem Gefühl, die Situation adäquat gehändelt zu haben, begibt sich Petra Seedorff in den Feierabend. Dass dies von einigen Anwesenden anders empfunden wurde, zeigt sich in den nächsten Stunden.
Die versuchte Einordnung der Lehrerin wird teilweise als antiamerikanisch verstanden. Die Folge: Eltern und Kinder beschweren sich bei der Schule, beim Regionalschulamt und melden den vermeintlichen Vorfall bei der Presse. Kurz darauf ist in der Zeitung zu lesen: "Lehrerin begrüßt 'Denkzettel'" der Terroristen an die Amerikaner. Dass die Aussage: "Endlich haben die USA einen Denkzettel bekommen. Warum mischen sie sich auch überall ein?" wirklich so gefallen ist, konnte in der nachfolgenden Untersuchung durch das Schulamt nicht belegt werden.

Petra Seedorff
Petra Seedorff war zu dieser Zeit Lehrerin an einem Gymnasium in Hohenstein-Ernstthal. Wegen einer angeblich antiamerikanischen Äußerung wurde sie suspendiert. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Petra Seedorff bedauert bis heute, dass der Fokus plötzlich nicht mehr auf dem Anschlag und den weltweiten Folgen lag, sondern auf einer einzelnen missglückten Aussage: "Da hat eine kleine Lehrerin was gesagt, was nicht in das erwartete Schema passte oder missverstanden werden konnte. Aber dieses große Ding eigentlich, worüber man hätte reden müssen – Ursachen für den Anschlag, Zusammenhänge – das ist damit hinten runtergefallen." Dass der Satz vom Schulamt nicht rekonstruierbar war, bekommt die Öffentlichkeit damals kaum mit. Die Eltern, Schüler und Einwohner der Stadt Hohenstein-Ernstthal hatten sich durch die Berichterstattung in der Presse ihr eigenes Bild gemacht. Von vielen wurde Petra Seedorff vorverurteilt, ohne dass sie sich selbst zu den Vorwürfen äußern konnte.

In der MDR Zeitreise spricht die Lehrerin nun erstmals öffentlich über ihre Geschichte und über ihre Sicht der Dinge. Torben Fischer, Politikwissenschaftler an der MLU Halle-Wittenberg, hat den Fall zwanzig Jahre später noch einmal bewertet.

Nine Eleven: Politische Bildung als Gratwanderung

"Danach ist man meistens schlauer" sagt Torben Fischer, Politikwissenschaftler an der Universität Halle. Doch im Fall von Petra Seedorff ist einiges schiefgelaufen, was bis heute noch nicht vollständig aufgearbeitet wurde. Auf die Frage, ob Petra Seedorff zu diesem Zeitpunkt auch als Projekttionsfläche diente, antwortet Fischer:

Man kann es in diesem Moment schon so sehen, dass die Lehrerin auch als Projektionsfläche für ganz viele Ängste und auch Positionierung in der Gesellschaft gestanden hat.

Torben Fischer Politikwissenschaftler der Universität Halle

Die Jugendlichen übertrugen die schockierenden Bilder, die sie am Vorabend im Fernsehen gesehen haben, auf die Lehrerin. Auch für die Eltern, die womöglich eine differenzierte politische Sicht hatten, projizierten das auf Petra Seedorff.

Torben Fischer ist Politikwissenschaftler an der Universität Halle im Lehrbereich Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft.
Torben Fischer ist Politikwissenschaftler an der MLU Halle-Wittenberg im Lehrbereich Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft. Bildrechte: Torben Fischer

Der "Fall Petra S." und die Suspendierung von zwei weiteren Lehrerinnen aus Sachsen führte immerhin dazu, dass in den Schulen umgedacht wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war man nämlich, anscheinend zumindest in Sachsen, nicht darauf vorbereitet, Sprachregelungen für die Lehrkräfte bei Ausnahmesituationen vor Unterrichtsbeginn zu erarbeiten. "Vor allem Verwaltungen reagieren oft durch Über- oder Unterreaktionen auf politische Drucksituationen" sagt der Politikwissenschaftler. Verwaltungen sind hierarchisch aufgebaut und es fällt den handelnden Personen, die normalerweise nach klar strukturierten Regelabläufen arbeiten, oft schwer auf Ausnahmesituation mit schnellem Handlungsbedarf angemessen zu reagieren, erklärt Fischer.

Wenn eine Verwaltung nicht weiß, wie sie handeln soll, kommt es immer auf die Individuen an. Dann weiß man nie, wen man trifft. Sind die Personen krisenresilient? Wie handeln Personen unter Drucksituationen?

Torben Fischer Politikwissenschaftler der Universität Halle

Es scheint, als wäre der Mensch als Individuum im "Fall Petra S." von Beginn an vergessen worden. Ebenso wie die Tatsache, dass es erlaubt sein sollte, Fehler zu machen – insbesondere bei unerprobten Situation. Situationen, zu denen es noch keine Handlungsanweisungen gibt, also kein "Set", wie Fischer es nennt.

Wenn man kein vorgegebenes Set hat, wie man handeln soll und beispielsweise auf Presseanfragen reagieren kann, und einzelne Akteure somit überrumpelt werden, dann kann im Endeffekt eine solche Situation herauskommen.

Torben Fischer Politikwissenschaftler der Universität Halle

Das fehlende "Set" für einen Umgang der Lehrkräfte mit der Situation und der politischen Druck auf die Verwaltungsakteure, die ihrerseits ebenfalls nicht wussten, wie sie angemessen handeln sollten, führte im "Fall Petra S." zu dieser Überreaktion. Doch diese Erkenntnis kommt für Petra Seedorff nach zwanzig Jahren zu spät. Sie wurde damals auch für einen vermeintlichen Fehler bestraft, der bereits an einer anderen Stelle entstanden ist und dann zu ihrer Entlassung an dieser Schule führte.

Auf Fehler folgt Professionalisierung

Kurz nachdem die vermeintliche Äußerung von Petra Seedorff in der Lokalpresse bekannt gemacht wurde, gab es zwei weitere Schulen in Sachsen, die ihre Lehrerinnen vom Dienst suspendierten. Nachdem insgesamt drei Fälle bekannt waren, kündigte das Schulamt pädagogische Kurse an. In diesen sollten die Lehrer und Lehrerinnen geschult werden, wie sie auf die Fragen der Kinder reagieren sollen.

Diese Art der Professionalisierung hat sich gerade in den letzten Jahren bei Verwaltungen verstärkt. Nach Krisen oder Fehlverhalten könnte man beobachten, so Fischer, dass Lerneffekte einsetzen würden: "Viele Schulen haben heute ein Pressemanagement. Es gibt Krisenstrategien. Es gibt sozialpsychologische Betreuung, zum Beispiel wenn es einen schlimmen Fall an der Schule gab". Zudem orientieren sich Verwaltungen zunehmend an der Wirtschaft und arbeiten mit Fehleranalysen, um eben diesen zuvorzukommen. "Danach ist man meistens schlauer und kann das irgendwie auch aufarbeiten" sagt Fischer. Im Fall von Petra Seedorff dauerte es zwanzig Jahre, bis sie ihre Sicht der Dinge erstmals öffentlich mitteilen konnte.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 05. September 2021 | 22:00 Uhr