Blockparteien und Einheitslisten – Wahlen in der DDR

22. September 2017, 14:50 Uhr

Über 40 Jahre hinweg betrieb die DDR-Führung in regelmäßig stattfindenden Wahlgängen einen enormen Aufwand, um der Welt, den DDR-Bürgern und sich selbst gegenüber eine fast hundertprozentige Zustimmung der Bevölkerung zum System vorzutäuschen. Warum eigentlich …?

Grundlage für die Beschäftigung mit der Wahlpraxis in der DDR mag eine kurze Betrachtung der ideologischen Voraussetzungen sein: Dem marxistisch-leninistischen Politikverständnis zufolge, entwickele sich die Gesellschaft mit historischer Notwendigkeit zum Kommunismus. In der Fortsetzung dieses Ansatzes zeichnen sich die nach 1945 in Ostmitteleuropa etablierten "Volksdemokratien" gerade dadurch aus, dass hier der Wille des Volkes vermeintlich mit besagter historischer Notwendigkeit übereinstimme. Die Führung der Volksdemokratie DDR drückte also nach ihrem Selbstverständnis in ihrem Bemühen um die Herstellung einer sozialistischen Gesellschaft unmittelbar und direkt den Willen des Volkes aus. Es war diese Idee einer Identität der Absichten von Bevölkerung und Regierung, die eine vollständige Zustimmung des Wahlvolkes zum Kurs der Regierung zwingend notwendig machte [vgl. Kloth 2004, S. 19]. In der tatsächlichen Entwicklung der DDR waren die 50er- und 60er-Jahre von einem stalinistischen Kurs geprägt. In den 80er-Jahren musste die SED diese Politik entschärfen: Staatsziel wurde jetzt, die "entwickelte sozialistische Gesellschaft". Da die realen Verhältnisse die gewünschten Ergebnisse nicht lieferten, musste "nachgeholfen" werden. Die Beeinflussung der Wahlergebnisse in der DDR lässt sich in drei Dimensionen beschreiben:

Vom Parteienbündnis zum Block

Bereits im Sommer 1945 etablierten sich in Deutschland, auch in der sowjetischen Besatzungszone, politische Parteien in Anlehnung an die Tradition der Weimarer Parteienlandschaft: die KPD und die SPD als Arbeiterparteien, die christlich-konservative CDU in Nachfolge der Zentrumspartei, schließlich die liberale LDPD [vgl. Mählert 2007, S. 20f.]. Diese Ansätze einer Mehrparteienlandschaft wurden freilich von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) streng kontrolliert. Erster Schritt einer Einbindung aller Parteien war die Gründung des "antifaschistisch-demokratischen Blocks", eines umfassenden Parteienbündnisses, das angesichts der Herausforderungen im Nachkriegsdeutschland zunächst auch allgemeine Zustimmung fand. Während aber die SPD im Zuge der (Zwangs-)Vereinigung mit der KPD zur SED de facto von der politischen Bühne abtrat, durchliefen die bürgerlichen Parteien CDU und LDPD innerhalb des jetzt klar von der SED dominierten "Blocks" die Entwicklung hin zu systemtreuen, "gleichgeschaltete[n]" [Weber 2006, S. 186] Parteien. Dieser Transformationsprozess war bis spätestens 1952 abgeschlossen.

Ein so kontrolliertes Pseudo-Mehrparteiensystem schien der SED-Führung attraktiv: "Vielleicht wäre es nicht schlecht, noch ein paar neue [Parteien] zu gründen", wird Walter Ulbricht für das Frühjahr 1948 zitiert [Leonhard 1955, 482]. Und tatsächlich wurden kurz darauf zwei weitere Parteien "in den Block hinein" gegründet: die Bauernpartei DBD und die nationaldemokratische NDPD. Beide Parteien waren von vornherein vollständig von der SED abhängige Scheinparteien: Von den 19 Gründungsmitgliedern des DBD-Vorstands waren z.B. 15 SED-Kader [vgl. Weber 2006, S. 184]. Aufgabe dieser Blockparteien war es in erster Linie, auch systemferne Gesellschaftsschichten zu erreichen: Indem Christen, national gesinnten Kreisen oder mit Bodenreform und Kollektivierung hadernden Landwirten eigene politische Foren angeboten wurden – die ihrerseits dem Staatsziel verpflichtet waren – hoffte man, die notwendige Unterstützung für das System zu erreichen.

Zum Verständnis der konkreten Wahlorganisation ist auf folgende Besonderheit hinzuweisen: Zur Wahl standen nicht einzelne Parteien oder Kandidaten, sondern eine vollständige Liste aller Mitglieder des zu wählenden Gremiums. Diese Liste war im Vorhinein bereits vom jeweils zuständigen Wahlausschuss erarbeitet worden. Der Wahlakt bestand dann lediglich in der Zustimmung bzw. Ablehnung des Listenvorschlags. Dieses Wahlverfahren per Liste galt für alle Wahlen in der DDR: von den Kommunalwahlen bis zur Volkskammerwahl. Die Volkskammerwahlliste – die sogenannte "Einheitsliste der Nationalen Front" (vgl. Unterthema "Massenorganisationen") – sah dabei für die SED lediglich einen Anteil von Parlamentssitzen von 25,4 Prozent vor, für die Blockparteien immerhin jeweils 10,4 Prozent. Der Blick auf das vermeintliche "Mehrparteiensystem" in der der DDR entlarvt dabei die Parlamentsminorität der SED schnell als bloßen Schein: Die Blockparteien wurden zu bloßen "Instrumenten der Hegemonialpartei SED" [Weber 2006, 186], eine wirkliche parlamentarische Opposition in der DDR war den Zahlen zum Trotz undenkbar.

Einfluss auf die Wähler

Schon im Vorfeld politischer Abstimmungen beeinflussten Druck und/oder Vergünstigungen die Entscheidung der Wähler, beispielhaft steht hier das "junge[…] Pfarrerehepaar[, das] für die lang ersehnte Wohnung zu den Wahlen [ging] (ein offizieller Loyalitätsbeweis gegenüber den Regime)" [Richter 2009, S. 32]. Die staatliche Zuteilung von Mangel und Privilegien entpuppt sich als raffiniertes System indirekter Einflussnahme auf die Bürger, die sich mit dem politischen Kurs der Führung arrangierten und diesem zum Großteil (zumindest pro forma) auch zustimmten.

Direkte Manipulation fand im Rahmen des unmittelbaren Wahlaktes selbst statt, der letztlich darin bestand, den Wahlschien zu falten und in die Urne zu werfen. Dabei wurde das Wahlgeheimnis systematisch verletzt: Wer die Wahlkabine (wenn es überhaupt eine gab) benutzte, machte sich verdächtig [vgl. Richter 2009, 14f.]. Das ironische "Falten gehen" drückt dabei – aller äußeren Zustimmung zum Trotz – die innere Distanz breiter Wählerschichten zum System aus.

Wahlergebnisse wurden manipuliert

Die genannten Instrumente der Beeinflussung führten zu einer tatsächlichen Zustimmungsrate von geschätzten 80 bis 90 Prozent [vgl. für die Kommunalwahlen 1989 Kloth 2004, S. 19] – aus den eingangs genannten Gründen für die SED-Führung unakzeptable Zahlen. Die letzten neun bis 19 Proeznt waren also durch direkte Wahlfälschung herbeizuführen. Möglichkeiten zur Manipulation bot zum einen die Auszählung der Stimmen in den Wahllokalen: Die Wahl per Einheitsliste stellte für die Abgabe einer wirklichen Gegenstimme hohe Hürden (z.B. musste jeder Name auf der Liste einzeln gestrichen werden) und einen breiten Ermessensspielraum für den Stimmenauszähler (eine unsaubere Streichung konnte als Unterstreichung, damit als Zustimmung gewertet werden), ungültige Stimmen waren so gut wie ausgeschlossen [vgl. Judt 1998, S. 67f.]. Alles andere wurde als gültige Stimme für den Listenvorschlag gewertet.

Manipulation der Zahlen ohne Berücksichtigung der abgegebenen Wahlzettel fand schließlich hinter den verschlossenen Türen der sogenannten "Frisiersalons" statt, wo SED-Funktionäre die zum Teil schon vor den Wahlen festgelegten Ergebnisse "errechneten" [vgl. Schabowski 1992, S. 173ff.] und Wahlprotokolle nahelegten, die nur in loser Verbindung zu den Ereignissen des Wahltages standen. Freilich oblag es weiterhin den Vorsitzenden der Wahlausschüsse vor Ort, die so entstandenen Protokolle durch ihre Unterschrift zu sanktionieren und so die Fälschungen mit zu verantworten.

Vor dem Hintergrund der Möglichkeiten des Staates zur Wahlbeeinflussung (und deren vermeintlicher Notwendigkeit) ist zu erklären, warum selbst das offizielle Ergebnis der Kommunalwahlen vom Mai 1989 mit einer Zustimmungsrate von 98,85 Prozent für die SED-Führung immer noch eine Art Wahlniederlage darstellte – ein wichtiger Schritt in die "Friedliche Revolution" …

Über dieses Thema berichtete MDR im TV auch in "Aktuell" 18.03.2015, 22.45 Uhr