Szenenbild eines Bühnenstücks.
Bildrechte: Anna Kolata

Rezension Wenn die Masken fallen: Albert Herring von Benjamin Britten in den Bühnen Halle

29. April 2024, 08:40 Uhr

Die Jugend verlottert. Die Moral geht den Bach runter. Das behaupten zumindest Lady Billows und wichtige Vertreter*innen kleinen, englischen Stadt Loxford. Und nun? Brittens "Albert Herring" sucht nach Antworten. Die Komische Oper feierte Premiere in den Bühnen Halle.

Weiße Gesichter, schwarz-weiß gekleidet, aufgeregt und wichtig. So stehen Bürgermeister, Schulvorsteherin, Polizeichef und Pfarrer vor Lady Billows. Sie will der vermeintlichen Tugendlosigkeit der Jugend entgegentreten und stiftet einen Preis: Die Maikönigin soll gekrönt werden. Doch als kein Mädchen gefunden wird, die den Tugend-Regeln entspricht, wird der erste Maikönig ernannt: Albert Herring, der Gemüsehändler, der unter der Knute seiner Mutter steht, brav, fleißig und angepasst.

Erst durchgefallen, dann „Komödie des Jahrhunderts“

Doch was bedeutet das überhaupt: Moral, Tugend, Unschuld?
Benjamin Britten und sein Librettist Eric Crozier stellen in den 1940er Jahren diese Fragen und erschaffen die Oper "Albert Herring". Ein Werk, das bei der Kritik zunächst durchfällt. Erst 1985 - knapp 40 Jahre nach der Uraufführung - feiert es in Glyndebourne einen Riesenerfolg und wird zur "Komödie des Jahrhunderts" erhoben.

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Das Neue Theater der Bühnen Halle zeigt das viel geschätzte Stück "Albert Herring". Bildrechte: Anna Kolata

Mittlerweile hat sich die Oper längst durchgesetzt und wird immer wieder an den verschiedensten Orten gespielt. Wie jetzt im Neuen Theater der Bühnen Halle. Die Regisseurin Karolina Sofulak hat es bereits 2022 in Poznan/ Polen inszeniert und ihre Inszenierung für Halle angepasst. Sie sagt: "Bei `Albert Herring´ tritt je länger je deutlicher zutage, wie universell Britten ist. Er trifft etwas, was jede Gesellschaft durchmacht…." Sie zaubert eine vollkommen überdrehte Show auf die Bühne.

Eine grandiose Show

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Die Inszenierung "Albert Herring" bietet ihrem Publikum einiges an visuellen Reizen. Bildrechte: Anna Kolata

Das Publikum schaut auf eine Showbühne, das Orchester mit weißen Strohhüten und ebenso schwarz-weißer Kleidung ist Teil der Inszenierung. Wie Karikaturen bewegen sich die Figuren auf der Bühne, steif und eckig. Lediglich die Kinder Emmy, Siss und Harry sowie das junge Liebespaar Nancy und Sid zeigen sich natürlich und lebendig. Britten zeichnet für jeden einzelnen Charakter eine eigene musikalische Sprache, ein eigenes Thema: mal überzeichnet und überdreht, mal verspielt, lyrisch und emotional. Der israelische Dirigent Yonatan Cohen leitet das Kammerorchester der Staatskapelle Halle – alles großartige Solisten und Solistinnen auf ihren Instrumenten - feinfühlig und präzise.

Der Blick in den Abgrund

Albert Herring beginnt die Fesseln abzustreifen, begibt sich auf Sauftour und entdeckt das wahre Leben für sich. Sehr zum Entsetzen der bigotten Loxford-Gemeinschaft.
Was aber verbirgt sich wirklich hinter deren weißen Fassaden?
Was hinter der sogenannten Moral und Tugendmalerei?

Karolina Sofulak lässt ihr Publikum in tiefe Abgründe blicken. Das Maifest eskaliert: In Zeitlupe und wie im Traum fallen die vermeintlich Tugendhaften wild übereinander her. Sie stolpern zu Boden, heben ihre Röcke und verschlingen sich wild ineinander. Die Masken fallen, wenn es niemand zu sehen scheint.

Politisch relevant und immer aktuell

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Gesellschaftliche Normen und Tabus werden spielerisch sichtbar. Bildrechte: Anna Kolata

Die Inszenierung hält uns als Gesellschaft den Spiegel vor. Denn steckt hinter jeder betont anständigen und politisch korrekten Fassade nicht auch das komplette Gegenteil? Und zeigen nicht die besonders Lauten und Wichtigen gern auf die, die ehrlich und öffentlich ihre Gefühle zu leben wissen?

Alltägliche Widersprüche, denen sich Menschen immer wieder selbst ausgesetzt haben, aussetzen und aussetzen werden. Der Abend in Halle kommt leichtfüßig und scheinbar mühelos daher, bohrt sich aber tief, direkt und hart in die menschliche Seele hinein. Eine wirklich große musikalische und darstellerische Leistung aller einzelnen Solistinnen und Solisten sowie eine bewundernswerte Ensembleleistung.

Besetzung

Musikalische Leitung: Yonatan Cohen
Regie: Karolina Sofulak
Ausstattung: Dorota Karolczak
Licht: Wiktor Kuzma
Video: Radoslaw Cabala
Einstudierung Kinder- und Jugendchor: Bartholomew Berzonsky
Dramaturgie: Boris Kehrmann
Lady Billows, eine alternde Autokratin: KS Anke Berndt
Florence Pike, ihre Assistentin: Gabriella Guilfoil
Mr. Upfold, Bürgermeister von Loxford: Chulhyun Kim
Mr. Budd, Polizeichef: Ku-Hyun Park
Mr. Gedge: Pfarrer: Gerd Vogel
Miss Wordsworth, Schulvorsteherin: Linda van Coppenhagen
Mrs. Herring, Obst- und Gemüsehändlerin: Ariana Lucas
Albert, ihr Sohn: Robert Sellier
Sid, Metzgerbursche: Andreas Beinhauer
Nancy Waters, Tochter des Bäckers: Rosamund Thomas
Schulkinder:
Emmy: Philine Götz/ Miriam Knackstedt
Siss: Alexa Cosima Hänsel/ Sophie Stromberg
Harry Wood: Clara Joachimi/ Ricarda Oppenhorst/ Amadea Voigt

Weitere Aufführungen... 03.05., 09.05., 18.05., 08.06. und 16.06.24 in den Bühnen Halle.

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Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 29. April 2024 | 08:40 Uhr

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