Kommentar Von der Stadt des Schwermaschinenbaus zur "Silicon Junction"

16. März 2022, 10:52 Uhr

"Magdeburg is the Silicon Junction." Das sagte Intel-Chef Pat Gelsinger in seinem Online-Statement zur geplanten Großinvestition vor den Toren der Stadt. Für Intel wird Magdeburg also der Knotenpunkt für das europäische "Chip-Ökosystem" des Unternehmens. Gelsinger sprach von einem Meilenstein der Firmengeschichte. Welche Folgen hat diese Reindustrialisierung der Region – Überlegungen dazu von Uli Wittstock.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Die wichtigsten Erfindungen Deutscher Industriegeschichte finden sich im Deutschen Museum in München und dort steht seit über einhundert Jahren auch die Lokomobile Nr. 1, Deutschlands erste Dampfmaschine auf Rädern, hergestellt von Rudolf Wolf in Buckau.

Seine Buckauer Maschinenfabrik gilt als Keimzelle des Magdeburger Maschinenbaus. Innerhalb von zehn Jahren, von 1880 bis 1890, verdoppelte sich die Einwohnerzahl Magdeburgs von knapp einhunderttausend auf über zweihunderttausend Menschen, denn die Gießereien, Großschmieden und Walzwerke zogen immer mehr Arbeitskräfte in die rasch wachsende Stadt.

Stadt des Schwermaschinenbaus

Von dieser Gründerzeit lebte die Stadt die folgenden einhundert Jahre. Als ich vor vierzig Jahren im Stahlwerk des VEB SKET als ungelernter "dritter" Schmelzer gutes Geld verdiente, hätte uns eigentlich klar sein können, dass wir mit viel Aufwand nur noch eine Industriekulisse bespielten. Der Gießkran zum Beispiel war aus den Zwanzigerjahren und nahm nicht selten eine altersbedingte Auszeit. Pro Schicht pumpten wir Tonnen von Feinstaub und Oxyden über die Dächer Buckaus.

Nach dem Ende der Planwirtschaft folgte der planlose Ausstieg aus dem Magdeburger Maschinenbau. Das Ende des SKET erlebte ich schon als Journalist, eine denkwürdige Aufsichtsratssitzung im Oktober 1996, die dann in Nachgang sogar Thema einer Debatte im Bundestag wurde, die jedoch folgenlos blieb.

Von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt?

Wo einst der Zwanzig-Tonnen-Ofen stand, vor dem ich einen Teil meiner Jugend verbrachte, wartet nun ein Parkplatz auf baldige Benutzung. Nach dreißig Jahren Leerstand ist hinter der historischen Fassade ein Einkaufsmarkt entstanden, der demnächst öffnet. Wenn schon nicht die Industrie, so konnte doch wenigstens die Hülle gerettet werden.

Mit dem Ende der Industrie vollzog sich eine Abwanderung von Fachkräften, die erst vor wenigen Jahren zum Stillstand kam. Und noch immer gehört Sachsen-Anhalt zu den Bundesländern mit den größten demografischen Problemen. Die globale Arbeitsteilung habe zur Folge, dass Europa als Industriestandort perspektivisch an Bedeutung verliere – dies galt als wirtschaftspolitischer Allgemeinplatz, bis ein Virus die Karten auf den globalen Spieltischen neu mischte.

Lieferketten-Bingo

Wer derzeit einen Neuwagen bestellt, muss unter Umständen ein Jahr warten, bevor er sich als stolzer Besitzer fühlen kann, denn den Automobilherstellern fehlen jene Chips, ohne die auch ein Auto keinen Meter mehr fahren kann. In nahezu jedem Produkt, außer vielleicht einem Kochlöffel, finden sich inzwischen jene Chips, die nun Intel in großem Stil in Magdeburg produzieren will.

Man könnte von Glück im Unglück reden, denn eigentlich war ja die Fläche im Süden der Stadt für die BMW-Ansiedlung geplant, doch die Bayern zog es stattdessen nach Leipzig. Was Intel nun dort plant, übersteigt die Investition von BMW um ein Vielfaches. Plötzlich gehört Magdeburg wieder zu den wirtschaftlich bedeutsamen Regionen mit europäischer Ausstrahlung.

Neue Gründerzeit?

Auch wenn bislang nur der Bau von zwei Fabriken beschlossen wurde, so ist perspektivisch von insgesamt acht Chipfabriken die Rede. Magdeburgs Oberbürgermeister Trümper sprach von bis zu vierzigtausend Menschen, die in die Region ziehen würden. Man werde mehrsprachige Schulen und Kindergärten vorhalten müssen, denn die Fachkräfte würden weltweit rekrutiert werden.

Die Stadt wird also einen rasanten Veränderungsprozess erleben. Nach Angaben von Intel-Chef Gelsinger werden allein für den Bau der beiden Fabriken etwa siebentausend Beschäftigte benötigt. Die Ansiedlung von BMW hat Leipzig zu einer der bundesweit dynamischen Städte gemacht. Die Ansiedlung von Intel hat für Magdeburg sicherlich einen ähnlichen Effekt.

Licht- und Schattenseiten

Wer in der Region Magdeburg Besitzer von Häusern und Grundstücken ist, der wird sich über einen plötzlichen Wertzuwachs freuen können. Wer jedoch Wohneigentum sucht, wird mit zusätzlich steigenden Kosten rechnen müssen, selbiges kann auch für Mieterinnen und Mieter angenommen werden. Die Chip-Branche gilt als Hochlohnsektor, die Verdienste liegen teilweise sogar über den Vergütungen der Autoindustrie. Allerdings wird es auch weiterhin sehr viele Menschen in der Region geben, die vom Mindestlohn leben, denn Intel verspricht ja nicht Reichtum für alle.

Es wird also eine große Aufgabe der Stadtgesellschaft sein, die soziale Spreizung so zu moderieren, dass sie nicht zu scharfen Verdrängungswettbewerb um Wohnraum, Sport- und Kulturangebote führt. Aber auch die ökologischen Folgen sind zumindest bedenkenswert. Dass ausgerechnet bester Bördeboden versiegelt wird, sorgt für Debatten, ebenso das Problem des hohen Wasserverbrauchs. Aber selbst Sachsen-Anhalts Grüne Landtagsfraktion begrüßt die Ansiedlung als große Chance für die Region. Übrigens debattiert der Magdeburger Stadtrat seit Monaten über die Notwendigkeit eines städtebaulichen Hochhauskonzepts. Jetzt wäre es an der Zeit, ein solches ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Mehr zum Thema: Intel in Magdeburg

MDR (Uli Wittstock, Julia Heundorf)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 16. März 2022 | 05:00 Uhr

10 Kommentare

Harka2 am 16.03.2022

@atomkraftwerk
Das passiert aber schon lange, nur machen die Firmen ungern dazu Erklärungen. Mercedes hat in den 1990er Jahren auch die Motorenproduktion nach Ungarn verlagert - und sie schon gar lange wieder zurück geholt.

Harka2 am 16.03.2022

@Horst
Da gehe bitte auch davon aus, dass noch mal die gleiche Anzahl an Arbeitsstellen wegen der Ansiedlung Intels bei zukünftigen Subunternehmern entsteht. Die Intel-Arbeiter wollen verpflegt werden, die Büros geputzt und in der Freizeit will die Truppe auch bespaßt werden.

atomkraftwerk am 16.03.2022

Das Gute ist doch, daß der Produktionsstandort Deutschland langsam wieder gefragt ist nachdem man jahrzehntelang alle Produktion und sämtliches knowhoff nach China auslagerte. Daß da der Bumerang zurückkommt war damals schon einigen klar, aber die Warnenden wurden belächelt. Inzwischen hat man die Misere.

Mehr aus Magdeburg, Börde, Salzland und Harz

Mehr aus Sachsen-Anhalt

Motoball 3 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK