Justitia
Bildrechte: MDR/Max Schörm

Podcast "Extrem rechts" Zum Nachlesen: Folge 5, Im Zweifel für den Angeklagten

20. Juni 2023, 00:01 Uhr

Bevor es losgeht, ein Hinweis. In diesem Podcast geht es um gewaltvolle, rassistische, teils sexualisierte und frauenfeindliche Hasskommentare und Anfeindungen. Wir zitieren gleich zu Beginn dieser Folge und auch später an einigen Stellen solche Aussagen, weil das notwendig ist, um das Problem zu verstehen. Wenn Ihr Euch damit nicht wohl fühlt, hört Euch diesen Podcast bitte nicht oder nicht allein an. Und jetzt geht’s los.

Extrem rechts – Der Hass-Händler und der Staat

Die Sneaker eines Mannes, der auf einem Autodach steht
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Ein Justizbeamter steht vor einer Sicherheitsschleuse.
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Sprecherin: Jana Merkel

00:34
Sprecher: "Was will man von einer Debilen und Geisteskranken auch schon als Kommentar erwarten?"
Quelle: Facebook-Kommentar bei @halleleaks, 2016, Archiv-Speicherung

Sprecher: "Deren ihre Visage würde ich gern in tausend Stücke zerschlagen."
Quelle: Facebook-Kommentar bei @halleleaks, 2016, Archiv-Speicherung

Sprecher: "Ich wünsche ihr von ganzem Herzen eine Begegnung mit einem terroristischen Islam-Mörder. Das müsste dann gefilmt werden, wie sie abgeschlachtet oder ihre dämliche Birne abgeschnitten wird."
Quelle: Facebook-Kommentar bei @halleleaks, 2016, Archiv-Speicherung

00:57
Was Ihr gerade gehört habt, das sind Kommentare von Nutzerinnen und Nutzern auf Facebook. Diese Kommentare wurden nicht in geschlossenen Gruppen geschrieben, sondern ganz öffentlich. Alle diese Zitate stammen von ein und derselben Facebook-Seite. Sie heißt "Halle Leaks". "Halle Leaks". Das klingt nach WikiLeaks, der Enthüllungsplattform aus den USA, die regierungskritisch arbeitet und vertrauliche Dokumente von Whistleblowern veröffentlicht. Aber "Halle Leaks" - das ist keine Enthüllungsplattform, auf der es um die Aufklärung der Öffentlichkeit geht, um Fakten und Tatsachen.

01:37
"Halle Leaks" ist eine Seite, die Desinformation und Verschwörungserzählungen verbreitet. Die Falschinformationen über Geflüchtete, Muslime, Politikerinnen und Politiker streut, reale Ereignisse verzerrt und verfälscht. "Halle Leaks", das ist eine Seite, die massenhaft Kommentare heraufbeschwört wie die, die wir gerade vorgelesen haben. Und der Mann hinter "Halle Leaks": Das ist Sven Liebich. Der Rechtsextremist, der seit fast zehn Jahren den Marktplatz in Halle und das Internet mit Hass und Hetze beschallt – und damit auch Geld verdient.

02:15
Reaktionen wie diese Kommentare gehören offenbar zum Kalkül. 2016 sagt Sven Liebich in einem Interview, angesprochen auf die Seite "Halle Leaks":

2:24
Sven Liebich: "Das hab ich Ihnen aber auch schon mal erzählt, dass ich die Seite benutze, um die Leute wütend zu machen. Um die erst mal. Um mich hörbar zu machen. Um den Leuten dann aber auch am Mikro zu sagen: Passt auf, wenn Ihr wütend genug seid, geht nicht zu diesen Flüchtlingsheimen. Geht zu den Parlamenten, die mit der Politik, die für die Politik verantwortlich sind. Holt euch die verantwortlichen Politiker."

02:45
Sven Liebich nutzt "Halle Leaks" als eine Art Wutmaschine, könnte man sagen. Und das Projekt "Halle Leaks" bringt ihm schließlich wieder eine namentliche Nennung im Verfassungsschutzbericht ein. Vorher war Liebichs Name zuletzt 2004 dort genannt. Zwölf Jahre später nennt ihn die Behörde in Sachsen-Anhalt in ihrem Bericht von 2016 einen, Zitat: "Provokateur und Verschwörungstheoretiker".

03:13
In der letzten Folge haben wir erfahren, welche Ziele Sven Liebich mit seinen Aktionen verfolgt: Das "System stürzen" – so hat er es selbst mal gesagt. Wir haben besprochen, wie er dafür die Straße nutzt, das Versammlungsrecht – und warum es so schwierig ist, seine wöchentlichen Demos auf dem Markt zu unterbinden. Bei diesen Demos erreicht er über die Jahre mal ein paar Hundert, mal nur 20 Menschen. Doch nicht ohne Grund streamt er jede Kundgebung ins Netz. Denn seine Reichweite ist online um ein Vielfaches größer. 

3:51
Ihr hört: "Extrem rechts – Der Hass-Händler und der Staat".
Ein ARD-Podcast des Mitteldeutschen Rundfunks mit Unterstützung des Rundfunks Berlin-Brandenburg.

Extrem rechts – Der Hass-Händler und der Staat

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Folge 5: Im Zweifel für den Angeklagten

04:10
In dieser Folge analysieren wir Sven Liebichs Strategie im Netz und fragen uns, was Plattformen wie Facebook gegen rechtsextreme Inhalte tun. Ob sie genug dagegen tun. Und wir wollen auch wissen: Wie gehen Ermittlungsbehörden und Justiz mit Hass im Netz um? Reichen die Gesetze, um Hass im Netz einzudämmen und Täter zu bestrafen? Wir schauen uns für diese Folge auch noch mal im Detail den Umgang der Staatsanwaltschaft Halle mit Liebichs Aktionen an – und fragen uns: Ist das angemessen? Ist das üblich? Wir, das sind meine Kollegen Tim Schulz, Thomas Vorreyer und ich, Jana Merkel. Und weil das alles gar nicht so einfach zu beantworten ist, holen wir uns fachliche Unterstützung.

05:04
Erstmal zurück zu "Halle Leaks": Im Sommer 2015 startet Sven Liebich einen Blog mit diesem Namen und macht eine zugehörige Seite bei Facebook auf. Was "Halle Leaks" auf Facebook postet, darauf reagieren oft zehntausende Menschen mit Likes und Kommentaren. Manchmal sind es sogar sechsstellige Interaktionszahlen. Und weil der Algorithmus von Facebook solche Interaktionen belohnt, werden die Beiträge immer mehr Menschen angezeigt. Und so verbreitet sich Liebichs Desinformation tausendfach. Er thematisiert bei "Halle Leaks" aktuelle Ereignisse und Debatten, verlinkt oft auf Artikel in seriösen Medien. Aber in den Vorschaubildern verfälscht er häufig Aussagen und Inhalte aus den Artikeln.

05:55
Ein Reporter von BuzzFeed News analysiert 2017, dass Beiträge von "Halle Leaks" oft viel mehr Interaktionen erreichen - und damit mutmaßlich mehr Menschen - als seriöse Medienberichte zu den gleichen Themen. Denn die Menschen liken und teilen Liebichs verzerrte Postings viel häufiger als die seriösen Artikel zu diesen Themen.

06:20
Eine häufige Methode von "Halle Leaks" ist es, Aussagen von Politikerinnen und Politikern zu verdrehen, zu verfälschen, zu übertreiben oder schlicht zu erfinden. Ein Beispiel dafür haben wir in Folge zwei besprochen. Es betrifft Renate Künast. Über "Halle Leaks" verbreitet Liebich 2016 ein Fake-Zitat, dass er der Grünen-Politikerin in den Mund gelegt hat. Dieses Fake-Zitat verbreitet sich im Netz und löst eine Welle von Hass und Beschimpfungen gegen die grüne Bundestagsabgeordnete aus. Ähnliche Fakes gibt es auf "Halle Leaks" zu vielen weiteren Politikerinnen und Politikern.

07:03
Und das Echo in den Kommentaren? Die Bandbreite reicht von Wut über Rassismus bis hin zu blankem Hass und Gewaltphantasien.

07:17
Wie gehen die Betreiber von sozialen Netzwerken mit solchen rechtsextremen Accounts um? Was tun Facebook und Co. gegen Hass, Hetze und Desinformation auf ihren Plattformen? Mit diesen Fragen fahre ich nach Berlin. Hier bin ich mit Karolin Schwarz verabredet.

07:35
Jana Merkel: "Tach, hallo, grüß Dich."
Karolin Schwarz: "Na?"
Jana Merkel: "Na?"

07:39
Karolin Schwarz gilt als Expertin für Desinformation und Rechtsextremismus im Netz. Anfang 2020 erschien ihr Buch mit dem Titel: "Hasskrieger: Der neue globale Rechtsextremismus". Darin analysiert sie die digitalen Strategien und weltweite Vernetzung von rechtsextremen Akteuren.

08:04
An dieser Stelle kurz der Hinweis: Karolin Schwarz und ich duzen einander. Das liegt daran, dass wir uns in den letzten Jahren immer wieder bei Tagungen und Weiterbildungsveranstaltungen begegnet sind. Das hier ist unser erstes Interview. Und der Einfachheit halber sind wir beim Du geblieben.

08:24
Karolin Schwarz: "Jetzt muss ich gucken, ob ich Internetzugriff hier krieg‘"

08:27
Als Journalistin und Autorin beschäftigt sich Karolin Schwarz seit Jahren mit Falschmeldungen im Netz. Durch ihre Arbeit kennt sie Liebichs Projekt "Halle Leaks" von Beginn an.

08:37
Karolin Schwarz: "Auf 'Halle-Leaks' gab es ja eben nicht nur Fake-Zitate, sondern es gab auch erfundene Übergriffe durch Geflüchtete oder eben Hass auf Geflüchtete, der sich teilweise und dann eben auch in den Kommentaren, aber auch in den jeweiligen Posts Bahn gebrochen hat. Also zum Beispiel ‘ne Falschmeldung, dass Geflüchtete in Augsburg ein Kleinkind angegriffen hätten oder dass es eine Flüchtlingssteuer gäbe in Deutschland."

09:07
Karolin Schwarz hat aus ihren jahrelangen Analysen den Eindruck gewonnen, dass es kaum jemanden gibt, der als Einzelperson so viele Falschzitate und Falschbehauptungen in die Internet-Welt gesetzt hat wie Sven Liebich mit "Halle Leaks". Und manche seiner Posts entwickeln regelrecht eine Langzeitwirkung.

09:28
Karolin Schwarz: "Wo hab´ ich es? Hier, glaube ich."

09:31
Karolin Schwarz zeigt mir ein Video: Sven Liebich steht schwarz gekleidet mit einer Kappe auf dem Kopf in Halle. In der Hand ein Buch, mutmaßlich eine Koranausgabe. Er inszeniert sich als vermeintlicher muslimischer Prediger. Er behauptet, Muslime würden Deutschland erobern, und er fordert laut schreiend die Passanten auf, zum Islam zu konvertieren, das Land zu verlassen oder zu sterben. Das Video stammt aus dem Jahr 2017.

10:02
Karolin Schwarz: "Und das ist jetzt gerade Anfang 2023 wieder viral gegangen - und mit der Beschreibung, dass es sich halt um ‘nen muslimischen Imam handelt, der da quasi ausrastet Also das sind so diese einzelnen Sachen, durch die er eben immer wieder quasi die Grenze seines eigenen Publikums durchsticht und dann eben darüber hinaus Sachen platzieren kann. Und dann halt auch über Jahre hinweg, muss man sagen."

10:28
Besonders ausdauernd seien im Netz die Fake-Zitate, die über "Halle Leaks" in Umlauf gebracht wurden. Die kommen Karolin Schwarz immer wieder unter.

10:38
Karolin Schwarz: "Fake-Zitate sind irgendwie so’n Ding, was gut läuft in Deutschland. Ich kann mir jetzt auch nicht so richtig erklären, warum’s das ist. Aber es bedient eben Feindbilder auch ganz gut, wenn man sagen kann: 'Dieser Politiker, diese Politikerin, die wir total doof finden, hat was ganz Schlimmes gesagt und deshalb teilen wir das.' Und da sind größtenteils erfundene Inhalte dabei, die eben Politikern zugeschrieben werden, die verbreitet werden bis heute und die eben teilweise einfach als Screenshot weiterleben."

11:11
Wie kann man sowas überhaupt wieder einfangen, so ein Fake-Zitat wieder aus dem Netz rauskriegen? Karolin Schwarz zuckt die Schultern. 

11:20
Karolin Schwarz: "Ja, es ist schwierig. Also es gibt so’n paar Beispiele, die eigentlich nicht einzufangen sind. Also wenn wir dieses Renate-Künast-Beispiel nehmen, wo es tatsächlich auch Folgen gab. Also auch ein Urteil gab in dem Zusammenhang. Das ist trotzdem nicht weg. Also das kriegt man jetzt nicht eben aus dem Internet raus. Es wird wahrscheinlich auch weiter überleben, solange sie politisch aktiv ist, weil es eben genutzt wird, um sie anzugreifen."

11:52
"Das Internet vergisst nicht" – dieses geflügelte Wort scheint zu stimmen. Und das, obwohl es die Seiten von "Halle Leaks" inzwischen gar nicht mehr gibt. Wir können sie in der Recherche nur noch über Internet-Archive aufrufen. Ein Grund dafür ist das sogenannte Deplatforming, erklärt Karolin Schwarz:

12:13
Karolin Schwarz: "Deplatforming heißt im Prinzip, dass man einen Akteur oder auch eine Gruppe von einer Social-Media-Plattform verbannt."

12:23
Nach jahrelangen Diskussionen über Hate Speech, nach viel Druck aus der Öffentlichkeit und auch aus der Politik - werden Betreiber wie Facebook, Twitter und YouTube vor einigen Jahren langsam aktiv. Sie fangen an, Inhalte stärker zu moderieren, Accounts zeitweise zu sperren oder auch komplett zu löschen. 

12:45
2016 gehören Sven Liebich und "Halle Leaks" zu den ersten rechtsextremen Accounts, die bei Facebook gelöscht werden. Karolin Schwarz hat mit zwei Kolleg:innen in einer Studie zu Deplatforming geforscht. Finanziert wurde die Studie von Facebook. Herausgeber und Träger waren das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft und die Amadeu Antonio Stiftung. Für die Studie hat Karolin Schwarz untersucht, welche Folgen die Löschung für rechtsextreme Accounts wie den von Sven Liebich hat. 

13:16
Karolin Schwarz: "Es ist natürlich so, dass sich auch rechtsextreme Aktivisten eine Followerschaft aufgebaut haben. Und wenn ein Kanal gesperrt wird, dann bedeutet das erstmal, dass die verloren ist. Und das ist schon eine Behinderung in gewissem Maße. Also das schränkt halt schon ein. Ob das jetzt für ihn im Konkreten mit einem, mit einer Einbuße von finanziellen Mitteln zu tun hat, lässt sich halt in dem Fall schwer sagen. Das lässt sich für andere Aktivisten belegen, die eben von sich selbst sagen, dass sie Geld verloren haben, dadurch, dass ihre Kanäle gesperrt wurden."

13:54
Für diese Akteure hätte der Verlust ihrer Community auch erstmal bedeutet, dass sie schwerer zu Spenden aufrufen konnten. Und dass gegebenenfalls bisherige Einnahmen durch Werbung weggefallen sind.

14:08
Wie reagieren rechtsextreme Akteure darauf, wenn ihre Accounts gelöscht werden? Viele weichen auf andere Plattformen aus, sagt Karolin Schwarz. Und da steht Telegram ganz oben auf der Liste. 

14:24
Telegram sieht aus wie ein Messenger, so ähnlich wie Whatsapp zum Beispiel. Aber es gibt dort auch Kanäle, die man abonnieren kann. Auch Sven Liebich startet im September 2017 einen Kanal auf Telegram. Aber warum wandern rechtsextreme Akteure gerade zu dieser Plattform? Karolin Schwarz sagt, weil bei Telegram kaum moderiert und gelöscht wird.

14:49
Karolin Schwarz: "Auch nichts, was irgendwie justiziabel ist, dass man im Prinzip machen kann, was man will. Man muss sagen, de facto ist alles dabei. Also ich brauche jetzt nicht lange, um die erste, den ersten Kanal zu finden, wo der Holocaust offen geleugnet wird. Es gibt auch ein ganzes Netzwerk von Kanälen auf Telegram, die rechtsterroristische Anschläge verherrlichen."

15:19
Wir haben uns in der Recherche Liebichs Agieren bei Telegram intensiv angeschaut. Er ist dort seit 2017 aktiv. Mein Kollege Tim Schulz hat sich durch sechs Jahre Timeline gewühlt und Liebichs Kanal zusammen mit einem Kollegen für diesen Podcast analysiert.

Die Sprecherrolle wechselt zu Tim Schulz.

15:37
Die Inhalte, die Liebich bei Telegram verbreitet, sind nicht weniger radikal als vorher. Rassismus, Islamfeindlichkeit, Verschwörungsmythen. Und auch bei Telegram greift Liebich Menschen persönlich und namentlich an: Politikerinnen und Politiker, die Bundesregierung und Menschen, die sich ehrenamtlich gegen Rechtsextremismus engagieren. Und Sven Liebich verbreitet dort russische Propaganda über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

16:03
Was auffällt - und da sind wir wieder beim Thema Hass-Händler - neben den ganzen politischen Beiträgen nutzt Liebich seinen Telegram-Kanal vor allem für Werbung. Schon der allererste Post bei Telegram war Werbung für Liebichs Internetshop. Und das zieht sich konsequent durch. Wir haben das mal für einen Tag im April 2023 durchgezählt. Das waren insgesamt 83 Posts. Und davon waren 15 Werbung für seinen Shop.

16:30
Aber - und das ist besonders wichtig - Sven Liebich erreicht bei Telegram deutlich weniger Menschen als vorher auf Facebook. Mit Stand Ende April 2023 hat Liebich bei Telegram rund 9.000 Follower. Und die Zahl schrumpft. Seine Posts erreichen im Schnitt zwischen 1.000 und 4.000 Menschen. Das ist weit entfernt von den sechsstelligen Zahlen, die seine reichweitenstärksten Facebook-Posts erreicht haben. 

16:55
Die Daten zur Reichweite bei Telegram haben wir übrigens aus einem externen Analyse-Tool. Daher können wir sie nicht genau überprüfen. Sie erscheinen aber plausibel. Mit seinen rund 9.000 Followern liegt Liebich trotzdem noch im Mittelfeld von vergleichbaren rechtsextremen Akteuren. Da ist er kein Ausreißer nach oben und auch keiner nach unten.

Die Sprecherrolle wechselt zu Jana Merkel.

17:16
Zwar lässt Telegram viel mehr Spielraum für Hass und Hetze, aber Sven Liebich bleibt parallel weiter bei Facebook aktiv. Er legt immer wieder neue Accounts und Seiten an. Und wird immer wieder von Facebook gesperrt oder gelöscht. Wir fragen uns, warum bleibt Liebich trotz Deplatforming so hartnäckig bei Facebook? Netz-Expertin Karolin Schwarz hat dafür eine Erklärung - und zitiert aus einem Post, in dem Liebich seine Strategie dahinter selbst erklärt:

17:49
Karolin Schwarz: "Und da sagt er eben: 'Wer ist stark genug, noch mit auf FB weiterzukämpfen. Dort ist die Front. Hier auf Telegram ist nur die Blase. Nur dort können wir versuchen, auch noch Schlafschafe zu erreichen. Hier auf Telegram können wir uns nur sammeln und verabreden. Kämpfen müssen wir draußen.' Also das ist ein Post, den er auf Telegram veröffentlicht hat, wo halt ganz klar beschrieben wird, was die Strategie ist. Nämlich auf den großen Plattformen Menschen zu erreichen, die jetzt nicht unbedingt zur Anhängerschaft von Rechtsextremen gehören. Und dass eben Telegram der Ort ist, wo man sich eh schon mit Gleichgesinnten trifft, die ganz genau wissen, was sie suchen und deshalb auf Telegram sind."

18:32
In einem Video bezeichnet Liebich Telegram als "die Kaserne" und Facebook als "die Front". Bis heute ist er auf Facebook aktiv. Die Seite seines Online-Shops hat - Stand April 2023 - von über 43.000 Nutzerinnen und Nutzern einen Klick auf "Gefällt mir" bekommen. 

18:59
Fassen wir zusammen: Deplatforming wirkt - wenn auch nur begrenzt. Die Löschungen kosten Akteure wie Sven Liebich deutlich an Reichweite, aber: Er passt sich an - wie viele andere Akteure aus der Szene auch. Sie weichen auf andere Plattformen aus, die menschenfeindliche Inhalte weiterhin dulden. Wenn die Betreiber es nicht hinkriegen - oder hinkriegen wollen - den Hass im Netz einzudämmen, muss dann nicht der Rechtsstaat eingreifen? Braucht es schärfere Gesetze? Expertin Karolin Schwarz sagt: Nein.

19:38
Karolin Schwarz: "Ich glaube, das ist wie bei vielen Sachen eine Frage der Rechtsdurchsetzung. Es ist schon so, dass justiziable Inhalte aus dem Netz, dass es eben teilweise keine Verfolgung gibt, dass Verfahren eingestellt werden, dass es lange dauert, bis die Verfahren zustande kommen. Und gerade für so notorische Aktivisten, die eben seit Jahren und Jahrzehnten am Ende mit solchen Dingen auffallen, kann man sich halt schon fragen: Wo liegt das Problem eigentlich? Und das Problem liegt eigentlich nicht an fehlenden Gesetzen."

20:16
Da ist sie wieder - die Kritik, die wir in diesem Podcast schon oft gehört haben: Dass im Fall Liebich die vorhandenen Gesetze nicht konsequent genug durchgesetzt würden. Dass die Strafverfolgung nicht richtig funktioniere. In den ersten beiden Folgen haben wir euch mehrere Betroffene vorgestellt, die das so sehen. Und deren Vertrauen in den Rechtsstaat deshalb bröckelt.

20:45
Katrin Schmidt, die Oma gegen Rechts, die erschüttert war, weil die Staatsanwaltschaft Halle meinte, Liebichs obszöne Aussage sei keine Beleidigung. 

20:54
Katrin Schmidt: "Also, ich werd' nicht ernst genommen. Ja, obwohl das so eindeutig einfach 'ne Ungeheuerlichkeit ist, was da passiert ist, habe ich das Gefühl, für die Justiz hier hat das alles keine Relevanz."

21:10
Igor Matviyets, dessen Anzeige wegen der gelben "Dieselfahrer"-Sterne eingestellt wurde. 

21:17
Igor Matviyets: "Ich empfinde das bis heute als Ausdruck, dass diejenigen, die das geschrieben haben, vom Holocaust keine Ahnung haben."

21:26
Torsten Hahnel, der fassungslos war, weil sein Fall vor Gericht eingestellt wurde - mit der Begründung, dass er beim Strafmaß kaum ins Gewicht fallen würde.

21:36
Torsten Hahnel: "Er wird jetzt nicht mehr dafür belangt. Und das ist, ja, es ist nicht hinnehmbar. Das ist nicht das, was ich von einem demokratischen Rechtsstaat erwarte."

21:46
Für diese drei Fälle - und viele weitere - ist die Staatsanwaltschaft Halle zuständig. Wir wollen verstehen, warum sie in diesen Fällen so agiert hat. Und wir wollen mit der Behörde über grundlegende Fragen sprechen, die mit diesen Fällen zusammenhängen: Wo hört Meinungsfreiheit auf und wo fangen Beleidigung und Volksverhetzung an? Und wie wird entschieden, wo diese Grenze verläuft?

22:17
An dieser Stelle würden wir Euch gern die Szene präsentieren, in der wir in gespannter Erwartung auf dem Weg nach Halle sind, zu dem entscheidenden Interview mit der Staatsanwaltschaft, um all unsere Fragen zu stellen. Doch daraus wird nichts. Wir haben mehrfach nachgefragt. Aber die Staatsanwaltschaft Halle ist nicht bereit, vor dem Mikrofon mit uns zu sprechen. 

22:40
Wir schicken deshalb einen ausführlichen Fragenkatalog. Und wir konfrontieren darin die Staatsanwaltschaft unter anderem mit der Kritik, die viele Betroffene an uns herangetragen haben. Die formulieren wir so:

22:54
"Bei unserer Recherche haben wir erfahren, dass zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft in Halle sich jedoch vom Rechtsstaat nicht angemessen behandelt, nicht geschützt und im Stich gelassen sehen, wenn die sie betreffenden Ermittlungsverfahren gegen den Rechtsextremisten Sven Liebich eingestellt werden. Es fehle dann der Rückhalt für die Zivilgesellschaft im Kampf gegen rassistische, antisemitische Aktivitäten. Was erwidern Sie dieser Kritik?"

23:20
Wir bekommen eine Mail von der Behörde. Auf diese Kritik geht sie darin nicht ein. Sie beantwortet nur einen Teil der Fragen, die wir geschickt haben. Aus den Antworten werden wir im weiteren Verlauf des Podcasts an den entsprechenden Stellen zitieren. An dieser Stelle ist wichtig, dass die Behörde zu einzelnen Verfahren und Fällen keine Fragen beantwortet.

23:45
Deshalb nehmen wir unsere drei Fälle und unsere Fragen zur Arbeit der Justizbehörden und besprechen sie mit anderen Menschen, die sich mit dem Strafrecht auskennen. Denn die drei Fälle stehen beispielhaft für viele andere, die wir recherchiert haben. Sie zeigen, so unser Eindruck, Muster in der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft. Und diese Muster wollen wir verstehen. Außerdem fragen wir uns, ob die Staatsanwaltschaft Halle eine Art Sonderweg geht oder ob dieses Vorgehen unter deutschen Staatsanwaltschaften üblich ist.

24:24
Fangen wir mit dem Fall von Katrin Schmidt an, der Oma gegen Rechts. In Folge eins haben wir den Vorgang ausführlich besprochen. Falls ihr die noch nicht gehört habt, macht das gern erst mal.

24:35
Zusammengefasst: Katrin Schmidt hat Sven Liebich wegen Beleidigung angezeigt. Die zuständige Staatsanwältin erkennt aber keine Beleidigung in Liebichs Aussagen und stellt das Verfahren ein. Wir recherchieren mehrere ähnliche Fälle, in denen es genauso lief. Auch bei Anzeigen wegen Volksverhetzung. Für die Betroffenen ist das schwer nachvollziehbar. Sie haben den Eindruck, die zuständige Staatsanwältin interpretiere Liebichs Aussagen - und zwar so, dass sie keine Straftat darstellen. Ist das üblich?

25:10
Darüber sprechen wir mit einer Expertin. Hannah Heuser ist Juristin an der Universität Leipzig. Zurzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt, das ziemlich gut zu dem Thema unseres Podcasts passt: 

25:23
Hannah Heuser: "Wir schauen uns ja digitalen Hass an. Wir haben uns ja wirklich Akten angeschaut, also echte Ermittlungsakten von Fällen digitalen Hasses aus verschiedenen Bundesländern in Deutschland und können daran eben nachzeichnen, wie die Strafverfolgung läuft, welche Probleme dort auftreten und wo es eventuell noch Verbesserungsbedarf gibt."

25:43
Bei den untersuchten Fällen in der Studie sind keine von der Staatsanwaltschaft Halle dabei. Und als Wissenschaftlerin will Hannah Heuser auch keine unserer einzelnen Fälle kommentieren. Aber sie hat durch ihre Forschung einen Überblick, wie deutsche Staatsanwaltschaften mit ähnlichen Fällen umgehen. Mit Anzeigen wegen Beleidigung, Verleumdung oder Volksverhetzung.

26:05
Hannah Heuser: "Also grundsätzlich muss jede Äußerung für sich genommen bewertet werden. Also da gibt es jetzt keine Schablone: Diese Äußerungen, dieser Inhalt ist immer eine Volksverhetzung, ist immer dieses oder jenes, sondern es muss eben immer im Einzelfall geschaut werden. Also wo wurde dieser Inhalt gepostet, in welchem Kontext einer Unterhaltung und so weiter."

26:25
Hannah Heuser erklärt: Wenn eine Staatsanwaltschaft eine Aussage auf Strafbarkeit prüft, dann müsse sie diese Aussage inhaltlich interpretieren, also auslegen, wie sie gemeint ist. Und da liegt der Knackpunkt. Denn im Zweifel müsse die Staatsanwaltschaft von der Interpretation ausgehen, die eben nicht strafbar ist. So erklärt uns das Juristin Hannah Heuser. Das Stichwort heißt hier: "tätergünstige Auslegung".

26:54
Hannah Heuser: "Naja, zunächst einmal muss eine Aussage oder ein Inhalt ja erst mal ausgelegt werden und möglichst tätergünstig ausgelegt werden. Das heißt, man wählt eine Auslegung, also eine Bedeutung dieses Inhalts, die nicht strafbar ist. Wir haben da gesehen, dass Behörden bemüht sind, eben verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Wir haben aber auch beobachtet, dass - oder es ist teilweise der Eindruck entstanden, dass es sich die Strafverfolgungsbehörden auch etwas leicht machen vielleicht. Und schnell eine Strafbarkeit ablehnen, etwa weil ein Smiley, ein Zwinkersmiley dahinter gesetzt wurde. So Fälle haben wir auch gesehen. Das sind eher Einzelfälle. Ich würde sagen, dass grundsätzlich schon der Eindruck entstanden ist, dass die Strafverfolgungsbehörden sehr bemüht sind, eine Bewertung zu treffen, die auch irgendwie realitätsnah ist."

27:53
Hannah Heuser hat aus der Forschung den Eindruck, dass es oft vom einzelnen Staatsanwalt oder der einzelnen Staatsanwältin abhänge, wie ein Fall bearbeitet wird, wie eng eine Äußerung ausgelegt wird. Sie plädiert für die sogenannten Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die sich auf bestimmte Bereiche spezialisieren. Es gibt solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften auch für Hasskriminalität im Netz. Dort würden solche Delikte und auch die Betroffenen von Hate Speech oftmals ernster genommen. Hannah Heuser sagt, es sei ein kompliziertes Feld: Weil es immer die Frage berührt, wo die Meinungsfreiheit endet.

28:32
Hannah Heuser: "Und die Meinungsfreiheit ist natürlich wahnsinnig wichtig für eine Demokratie. Und je niedrigschwelliger wir ansetzen mit einer Strafbarkeit, desto mehr schränken wir natürlich auch die Meinungsfreiheit ein. Und es ist ja auch wichtig und richtig, dass es da keine Blaupausen einfach für gibt. Nochmal, die Meinungsfreiheit ist einfach wahnsinnig wichtig. Und deshalb ist es so relevant, dass man immer auf den Einzelfall schaut. Dafür zahlen wir dann aber als Gesellschaft sozusagen den Preis, dass es teilweise auch zu widersprüchlichen Einschätzungen kommt von verschiedenen Strafverfolgungsbehörden." 

29:04
Hannah Heuser verweist auf die Rechtsmittel, zum Beispiel Beschwerden, die Betroffene einlegen können, wenn sie mit einer Einstellung nicht einverstanden sind. Die seien genau für solche strittigen Fälle hilfreich. Weil dann ein anderer Staatsanwalt die Sache noch mal prüft. So war es auch im Fall von Katrin Schmidt: Sie nahm sich einen Anwalt, legte Beschwerde gegen die Einstellung ein und letztlich wurde das Verfahren wegen Beleidigung wieder aufgenommen.

29:32
Die Staatsanwaltschaft Halle schreibt uns dazu, Zitat:

Sprecher: "Einstellungsbescheide der Staatsanwaltschaft können auf eine Beschwerde durch die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg erneut überprüft werden. Dies ist im Falle Sven Liebich zum Teil geschehen. Im Falle der Aufhebung des Bescheides wurden die Verfahren entsprechend der Strafprozessordnung wieder aufgenommen."
Quelle: Staatsanwaltschaft Halle per E-Mail, 21. April 2023

29:56
So lief es zunächst auch bei Torsten Hahnel: Ihr kennt den Fall aus der zweiten Folge. Die Kurzfassung: Auch er hat Liebich wegen Beleidigung angezeigt:

30:06
Torsten Hahnel: "Linksterroristen, Terroristen, steuerfinanzierte Linksmaden, gewaltbereit, vermummt, Schaben. Und: Den Strichern ist alles zuzutrauen."

30:18
Die Staatsanwältin stellte ein, Torsten Hahnel legte Beschwerde ein, die Ermittlungen wurden wieder aufgenommen. Es kam zur Anklage und sogar zu einem Schuldspruch. Dann ging Liebich in Berufung und im Berufungsprozess vor Gericht wurde der Fall dann eingestellt. Und zwar mit der Begründung, dass andere Vorwürfe in dem Prozess schwerer wiegen und dass sich im Falle der Verurteilung Torsten Hahnels Beleidigung kaum auf die Höhe der Strafe auswirken würde.

30:48
Paragraph 154 der Strafprozessordnung, den müssen wir uns hier merken. Mit diesem Paragraphen wird die Einstellung begründet. Auch hier sehen wir ein Muster. Wir finden bei der Recherche mehrere Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft Halle Verfahren nach Paragraph 154 StPO eingestellt hat.

31:10
Die Staatsanwaltschaft Halle schreibt uns dazu, Zitat:

Sprecher: "Die Staatsanwaltschaft Halle hat in den Verfahren gegen Sven Liebich nicht über Gebühr von der Vorschrift des Paragraphen 154 Strafprozessordnung Gebrauch gemacht."
Quelle: Staatsanwaltschaft Halle per E-Mail, 21. April 2023

31:23
Und nicht nur in Halle wird dieser Paragraph angewendet. 

31:31
Januar 2023, Liebich steht erneut vor Gericht. Dieses Mal aber in Berlin. Vor dem Amtsgericht Tiergarten wird eine Anklage gegen Sven Liebich und einen weiteren Mann verhandelt. Ihnen wird Beleidigung vorgeworfen. Die Verhandlung dauert nur wenige Minuten. Dann ist Schluss. Eingestellt. Nach Paragraph 154 der Strafprozessordnung. 

32:01
Richterin Lisa Jani ist die Pressesprecherin des Amtsgerichts Tiergarten und erklärt die Einstellung.

32:07
Lisa Jani: "Und zwar weil es sich um eine sogenannte unwesentliche Nebenstrafe handelt. Denn der Angeklagte wurde in Halle im Oktober 2022 verurteilt. Da ist er zu einer höheren Strafe verurteilt worden. Und es wäre dann eine Gesamtstrafe mit dem Vorwurf, der hier zur Rede steht, zu bilden. Und dann hat man eben gesagt, ist das sozusagen nicht ausreichend, um hier noch ein komplettes, neues Verfahren zu führen, weil es dann im Ergebnis keine große Rolle mehr spielen würde."

32:41
Wenn Liebich in Berlin verurteilt worden wäre, dann wäre also die Berliner Strafe mit der aus dem Urteil in Halle zusammengezogen worden. Lisa Jani meint das Urteil aus dem Berufungsprozess, über das wir in Folge zwei gesprochen haben. Aber warum müssten überhaupt Strafen aus verschiedenen Verfahren in verschiedenen Städten zu einer Gesamtstrafe zusammengezogen werden? Auch das lassen wir uns von der Berliner Richterin Lisa Jani erklären.

33:09
Lisa Jani: "Wenn also jemand zum Beispiel wegen dreier Diebstähle jeweils zu einem Jahr verurteilt ist, dann würden die Amerikaner da drei Jahre daraus machen. So funktioniert das bei uns nicht. Also zum Beispiel ein Jahr Freiheitsstrafe würde dann noch mal erhöht werden, aber es würde nicht alles munter addiert werden. Ich weiß, dass das für den rechtlichen Laien manchmal etwas irritierend ist. Auf der anderen Seite müssen Sie sich vorstellen, dass wir uns manchmal wundern, dass zum Beispiel in den USA das so ist, dass jemand auch wegen kleinerer Delikte irgendwann für 20 Jahre hinter Gitter kommen kann. Und das ist bei uns auch aus historischen Gründen vom Gesetz eben gerade nicht vorgesehen, sondern dann wird eben so eine Gesamtstrafe gebildet. Und dann fallen vielleicht einzelne Delikte dann tatsächlich auch mal beiseite. Aber das sieht unser Gesetz auch ganz ausdrücklich so vor."

34:05
Unterm Strich bleibt damit auch dieses Beleidigungsverfahren in Berlin für Sven Liebich folgenlos. Das ist auch Richterin Lisa Jani bewusst.

34:15
Lisa Jani: "Natürlich ist es für den Einzelnen frustrierend, wenn er jetzt zum Beispiel Opfer einer Beleidigung geworden ist. Und dann heißt es hinterher: Ja, das Verfahren wird eingestellt, weil einen anderen hat er noch viel mehr beleidigt, und das würde dann hinterher keine Rolle mehr spielen in der Gesamtschau. Aber wir müssen natürlich auch darauf achten, dass wir insgesamt das Rechtswesen, die Justiz am Laufen halten und dass wir unsere Ressourcen dann auch nicht verschwenden für Sachen, wo dann hinterher vielleicht nur noch, sage ich mal, eine Geldstrafe von zehn Tagessätzen zum Tragen kommen würde, ja? Ich aber ein sehr langes Gerichtsverfahren führen müsste, um jetzt zum Beispiel die Beleidigung gegen die Person A nachzuweisen."

35:06
Es gibt demnach ganz pragmatische Gründe für Einstellungen nach Paragraph 154. Aber der Widerspruch bleibt: Einerseits die Justiz mit begrenzten Kapazitäten und andererseits die Betroffenen von Straftaten, die nicht verfolgt werden.

35:24
Unser drittes Beispiel sind die gelben Davidsterne, die Liebich verkauft, mit der Aufschrift "Dieselfahrer" oder später auch "ungeimpft". Wir haben in der ersten Folge darüber gesprochen, dass Igor Matviyets diese Sterne als Verharmlosung des Holocaust und Verhöhnung der Opfer empfindet. 

35:43
Igor Matviyets: "Und für mich war das auf jeden Fall eine Bezugnahme auf den Holocaust und insbesondere eigentlich auch in meinen Augen eine Verharmlosung."

35:51
Aber das Verfahren auf seine Strafanzeige hin wurde eingestellt. Die Staatsanwältin sieht keine Volksverhetzung. Zu solchen und ähnlichen Sternen gab es in Deutschland bereits mehrere Strafverfahren. Und sie gingen alle ganz unterschiedlich aus. Mal haben Staatsanwälte eingestellt, mal angeklagt. Mal haben Gerichte solche Sterne als Volksverhetzung verurteilt, mal die Angeklagten freigesprochen. Die deutsche Justiz ist sich offenbar nicht einig.

36:25
Oberstaatsanwalt Benjamin Krause soll uns helfen, das zu verstehen. Er kennt sich mit Hasskriminalität aus. Denn er ist der stellvertretende Leiter der ZIT, der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität in Hessen. Das ist eine sogenannte Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Frankfurt. 

36:47
Thomas Vorreyer: "Schönen guten Morgen! Oh, Sie sind schwer bepackt. Hallo." 
Benjamin Krause: "Hallo."

36:50
Benjamin Krause erklärt: Die Fälle seien zwar ähnlich - aber eben nicht identisch. Die Sterne sehen nicht immer gleich aus und sie werden in ganz unterschiedlichen Kontexten benutzt oder gezeigt. Mal im Netz mit zusätzlichen Kommentaren, mal auf Schildern bei Demos, mal als Aufdruck auf einem Pullover. Und dieser Kontext müsse immer individuell mit einbezogen werden, sagt Oberstaatsanwalt Benjamin Krause. 

37:19
Benjamin Krause: "Das ist so ganz typisch für die Justiz und für unseren Rechtsstaat insgesamt: Es gibt nicht eine zentrale Stelle wie zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht, was jetzt alle Fälle entscheidet. Oder wir haben kein sogenanntes Case-Law-System, bei dem Fälle immer in, in Kategorien eingeteilt werden. Und jede Fall-Kategorie wird einmal entschieden und ist dann so. Sondern wir haben genau das entgegengesetzte System, dass immer wieder solche Fälle von einzelnen Personen wie zum Beispiel einzelnen Richterinnen und Richter immer wieder eigenständig und selbstständig entschieden werden. Und das führt ja dazu, dass – und das ist auch völlig normal und ist ehrlich gesagt auch gut – dass es unterschiedliche Entscheidungen gibt, weil nur dann kann sich das Recht auch entwickeln."

38:04
Benjamin Krause hält die "ungeimpft"-Sterne eindeutig für strafbar und hat in mehreren Fällen versucht, solche Sterne zur Verurteilung zu bringen. In einigen Fällen erfolgreich, aber nicht in allen. Ein Verfahren ging bis vors Oberlandesgericht Frankfurt am Main - und der Angeklagte wurde freigesprochen. 

38:24
Benjamin Krause: "In anderen Bundesländern wird das anders gesehen. Und das ist natürlich eine Situation, die ja maximal, ja nicht nur missverständlich ist, sondern Sie merken es ja, auch, auch mich persönlich einfach stört, dass es da dann da keine Klärung gibt. Es gehört auch zur Tätigkeit eines Staatsanwalts wie mir dazu, dass man dann solche Gerichtsentscheidungen, die man zwar angegriffen hat, argumentativ, aber man ist nicht durchgedrungen, dass man das dann akzeptiert. Das gehört zum Rechtsstaat auch dazu."

38:53
Er will ähnliche Sterne aber auch weiterhin anklagen, denn er ist überzeugt, dass sie den Holocaust verharmlosen. Benjamin Krause wünscht sich eine grundsätzliche Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht oder Bundesgerichtshof, um künftig eine klare Linie in der Rechtsprechung zu haben. Die gibt es zurzeit nicht. Das zeigt auch seine Anekdote von einer Fortbildung an der Deutschen Richterakademie. 

39:20
Benjamin Krause: "Da waren also Kolleginnen und Kollegen aus allen Bundesländern da, und ich habe eine Umfrage gemacht: Hier diese Fälle, haltet Ihr die in Eurem, wenn ihr für Euer Land sprecht, für strafrechtlich relevant, ja oder nein. Und es war ziemlich genau fünfzig-fünfzig. Die Situation. Obwohl wir alle Argumente ausgetauscht hatten. Dafür, dagegen. Und ganz zum Schluss ist das rausgekommen quasi: Fünfzig-fünfzig. Das zeigt also, dass das der maximale Grenzfall ist."

39:47
Der maximale Grenzfall. Auch Sven Liebich bewegt sich mit vielen seiner Aussagen und Aktionen offenbar im Grenzbereich: zwischen Meinungsfreiheit und Strafgesetzbuch. 

40:07
Unterm Strich ist Sven Liebich nach unseren Recherchen bisher viermal rechtskräftig verurteilt worden. Nach hunderten Ermittlungsverfahren. Damit gilt er aber nicht als einschlägig vorbestraft – wie Juristen das nennen. Denn einschlägig vorbestraft ist jemand erst dann, wenn die Person wegen desselben Delikts mehrmals verurteilt wurde. Und wenn es darum geht, ein Strafmaß festzulegen - im Falle einer Verurteilung-– dann sorgen die fehlenden einschlägigen Vorstrafen dafür, dass die Strafe geringer ausfällt. Das erklärt noch einmal die Berliner Richterin Lisa Jani vom Amtsgericht Tiergarten, wo auch ein Verfahren gegen Liebich eingestellt wurde. 

40:51
Lisa Jani: "Wie Sie sehen, ist der Angeklagte zwar schon wegen Körperverletzung und Beleidigung vorverurteilt und auch wegen Beleidigung in einem anderen Fall und dann auch noch wegen Volksverhetzung. Aber es ist jetzt nicht so, dass er schon eine lange Reihe von einschlägigen Vorstrafen hätte. Da müssen wir als Richterinnen und Richter eben ganz genau drauf achten und können eben nicht sagen: Soundsoviel Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung sind schon geführt worden. Sondern für uns spielt bei der Strafzumessung tatsächlich nur ‘ne Rolle, wie viele rechtskräftige einschlägige Vorverurteilungen hat es gegeben."

41:29
Bis auf eine Ausnahme wurde Sven Liebich bisher lediglich zu Geldstrafen verurteilt. Die werden in Tagessätzen angegeben - und ein Tagessatz lag bei Liebich bisher bei höchstens 25 Euro, recht wenig. Das liegt daran, dass sich die Höhe der Tagessätze an den "persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen" orientiert, wie das im Juristendeutsch heißt. Gemeint ist damit vor allem das Einkommen. Die Gerichte verlassen sich dabei meist weitgehend auf die Angaben der Angeklagten. Und Liebich gibt vor Gericht ein geringes Einkommen an. Mal behauptet er, er verdiene 800 Euro netto im Monat – in der Firma, die den Onlineshop betreibt. Zuletzt sagte er, es seien nur 420 Euro netto monatlich.

42:19
Fakt ist allerdings: Über die Jahre ist eine fünfstellige Summe an Geldstrafen zusammengekommen. Und einen großen Teil davon hat er offenbar beglichen. Die Frage stellt sich also: Wenn er so wenig verdient, wie hat er die fünfstelligen Strafen bezahlt? Hat ihm jemand geholfen? Wie ist das mit seinen Finanzen und der Firma? Wie viel Geld verdient Sven Liebich wirklich?

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MDR

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