Podcast "Meine Challenge" Frühjahrsputz - Die Psychologie der Ordnung
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27. März 2020, 15:00 Uhr
#StayHome ist wegen des neuartigen Corona-Virus gerade angesagt. Für viele Menschen ein guter Anlass, den Frühjahrsputz anzugehen: Ausmisten, Aufräumen, Putzen und Ordnung schaffen. Aber wie geht man das am besten an?
Wer nach Tipps und Tricks zum Thema Aufräumen und Ordnung sucht, kann sich schnell im Überangebot verlieren: Ratgeber versprechen, in wenigen Schritten zum perfekten Zuhause zu verhelfen, auf Instagram leuchten uns staubfreie Minimalismus-Wohnungen entgegen, und auf Netflix wirft Ordnungs-Star Marie Kondo milde lächelnd alle Gegenstände ihrer Klienten in den Müll, die keine "Freude verbreiten". Welcher Weg ist der richtige?
Rigide Aufräumkonzepte eher kontraproduktiv
Zu allererst gilt: Ordnung ist ein höchst individuelles Konzept. Zwar sehne sich jeder Mensch nach einer gewissen Form von Struktur, sagt die Münchner Ordnungsberaterin Gunda Borgeest, "aber ich bin gegen rigide Aufräumrezepte, die man von A bis Z durchdekliniert. Man sollte herausfinden: Was wünsche ich mir, was passt zu mir?". Dabei könne zu Beginn eine kurze Selbst-Analyse hilfreich sein. Borgeest unterscheidet in ihrem Buch "Ordnung nebenbei" fünf "Chaos-Typen".
Den "Berg" bewältigen
Ein Problem haben Borgeest zufolge aber alle fünf Typen gemeinsam, welches sie als "Eiger-Nordwand-Problem" bezeichnet: "Die Leute stehen vor diesem Berg und wissen noch nicht einmal, wie sie ins Basislager kommen sollen. Die entscheidende Frage lautet also oft: Wo fange ich an, wie finde ich einen Plan?".
Die Ordnungs-Beraterin empfiehlt: Durch die Wohnung gehen, eine To-do-Liste erstellen und dabei jedem Punkt ein Zeitfenster zuweisen, etwa: die Kommode ausmisten - zwei Stunden. "Tragen Sie die einzelnen Punkte in Ihren Kalender ein, als Verabredung mit sich selbst. Nur, wenn Sie die To-do-Liste als Termin verankern und ihr über einen längeren Zeitraum folgen, kann ein Projekt erfolgreich sein. Nehmen Sie sich nicht zu viel auf einmal vor, gehen Sie die Etappen langsam und kontinuierlich an, und trainieren Sie so Ihren Aufräum- und Ausmist-Muskel", erklärt Borgeest.
Kategorien schaffen, Orte zuweisen
Auch die Leipziger Ordnungs-Beraterin Kerstin Weigelt hilft Menschen, ihre Umgebung besser zu strukturieren. Dabei lohne es sich, nach einem losen Schema vorzugehen:
Warum die Trennung von Dingen so schwerfällt
Viele Menschen scheitern jedoch schon beim ersten Punkt: Wenn sie sich entscheiden sollen, welche Dinge sie behalten wollen und von welchen sie sich trennen. Den Ordnungs-Beraterinnen Weigelt und Borgeest zufolge gibt es mehrere Fallstricke, die das Loslassen erschweren. Einerseits Argumente wie "Das hat doch mal viel Geld gekostet", "Das habe ich geschenkt bekommen" oder "Das brauche ich vielleicht nochmal". Andererseits sind oft auch Erinnerungen und Lebensträume eng mit den Sachen verbunden.
Beide sind sich einig: Es geht nicht um Ausmisten um jeden Preis. Dinge wie das angestaubte Instrument im Keller, das man immer einmal erlernen wollte, dürften durchaus bleiben, wenn eine Trennung und damit ein Abschiednehmen vom eigenen Traum zu schwer falle. Allerdings könne ein permanentes Festhalten an Vergangenem problematisch werden, wenn dadurch der Platz für Neues fehle.
Im Falle von Erinnerungen wie Fotos und Briefen zum Beispiel empfiehlt Kerstin Weigelt, diese abzufotografieren und platzsparend zu digitalisieren. Und für "Herzensangelegenheiten" wie die verstaubte, aber nicht mehr genutzte CD- oder DVD-Sammlung hat Gunda Borgeest einen Tipp: Nicht wegwerfen, sondern spenden, verschenken oder weiterverkaufen. "Damit machen sie anderen eine Freude. Stellen Sie sich vor, wie diese Dinge bei anderen positive Energie auslösen, statt Sie zuhause Energie zu kosten." Der Gedanke, dass alte Lieblingsstücke nicht auf der Müllhalde, sondern im Leben und Herzen einer anderen Person landen, könne sehr hilfreich sein.
Ordnung als Landkarte im Gehirn
Die eine, "richtige" Ordnung, die für alle gilt, gibt es also nicht. Und das hat auch mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun, erklärt der Neurowissenschaftler und Biochemiker Henning Beck: "Wenn Sie in einem Raum sind, legt Ihr Gehirn eine mentale Landkarte Ihrer Umgebung an. Und das passiert mit allem: Wenn Sie einen Text lesen, wenn Sie sich ein Schaubild merken, wenn Sie sich Beziehungen zwischen Menschen verinnerlichen. Immer wird Ihr Gehirn versuchen, Informationen in solchen Karten in Zusammenhang zu setzen, die ich später umso leichter abrufen kann."
Diese mentalen Landkarten sehen bei jedem Menschen anders aus - und das schlage sich auch in ihrer Umgebung nieder: "Mein Schreibtisch ist auch ein wenig unaufgeräumt", gibt Beck zu. "Aber für mich gehorcht er einer räumlichen Logik, einem inneren Zusammenhang. Das Grundprinzip, nach einer Ordnung zu streben, ist bei allen ausgeprägt. Nur sind halt die Gehirne unterschiedlich und deshalb auch unsere Umgebungen."
Sind ordentliche Menschen die besseren Menschen?
Inwiefern wir es schaffen, eine für uns sinnvolle Ordnung in unserem Alltag, unserer Umgebung aufrechtzuerhalten, wirkt sich indes auf deutlich mehr Faktoren aus, als vielen Menschen bewusst ist. "Die Studienlage spricht dafür, dass in einem aufgeräumten Umfeld auch ein aufgeräumter Geist lebt - und auch ein aufgeräumter Körper", fasst die Psychologin Annegret Wolf von der Martin-Luther-Universität in Halle zusammen. "Studien weisen darauf hin, dass regelmäßiges Aufräumen und Putzen die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen minimieren kann. Und tatsächlich zeigen vor allem Frauen, die in einem unaufgeräumten Haushalt leben, ein relativ hohes Level des Stresshormons Cortisol, vergleichbar mit jenem Level, das auch Menschen mit chronischer Übermüdung aufweisen."
Das "kreative" Chaos
Und auch auf unser ganz konkretes Verhalten wirke sich die (Un)Ordnung in unserer Umgebung aus, sagt Wolf: "Ordnung macht uns offenbar altruistischer, großzügiger. Experimente haben gezeigt, dass Leute in aufgeräumter Umgebung mehr gespendet haben, wenn sie dazu aufgefordert worden sind. Und dass wir, wenn um uns herum Chaos herrscht, öfter zu Keksen und zu Süßem greifen. Wenn man mit seiner Umgebung und sich selbst wortwörtlich im Reinen ist, kann man sich also offenbar besser um andere Aspekte und seine Mitmenschen kümmern." Das heißt aber nicht, dass ein überschaubares Chaos nur Nachteile hat: In der gleichen Untersuchung wurde herausgefunden, dass Unordnung tatsächlich zu unkonventionelleren Gedanken und Kreativität führen kann.
Ordnung als Trend
Doch wie kommt es überhaupt, dass sich offenbar viele Menschen begeistern für perfekt aufgeräumte Schubladen und farblich sortierte Bücherregale in möglichst minimalistischen Wohnungen?
Ich glaube, dass wir uns gerade in Richtung eines Post-Materialismus bewegen, wo es nicht mehr darum geht, sich über Sachen zu definieren, sondern darum, wieder Erlebnisse zu sammeln und Zeit für sich, Familie und Freunde zu haben.
Und klar, auch das Internet und Online-Netzwerke wie Instagram und Facebook spielten da eine Rolle: "Es spricht unseren Herdeninstinkt an, wenn wir sehen, wie andere Organisations-Porno betreiben und ihre Schubladen ganz penibel aufräumen. Zu sehen, was es da für Möglichkeiten gibt, kann dazu führen, dass man das Ganze als eine Art Challenge wahrnimmt." Doch trotzdem gelte vor allem, bringt Wolf es nochmal auf den Punkt: "Dass man schaut, was man braucht in dem Moment. Die Studienlage zeigt sowohl für Ordnung als auch für Chaos Plus- und Minuspunkte - und das eine muss ja das andere nicht komplett ausschließen."