Zwischen Wahrheit und Lüge Lügenerkennung: Die Lüge steht uns nicht ins Gesicht geschrieben
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28. Mai 2021, 12:15 Uhr
Wir alle tun es, mal mit bösen, mal mit guten Absichten: flunkern, lügen und täuschen. Aber wie lässt sich erkennen, ob unser Gegenüber gerade die Wahrheit sagt? Über Lügen gibt es zahlreiche spannende wissenschaftliche Erkenntnisse – und mindestens genauso viele Mythen.
Der Mensch ist ziemlich schlecht im Lügenerkennen
"Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!", "Lügen haben kurze Beine" – Sprichwörter und Bonmots gibt es viele, wenn es um Lüge und Wahrheit geht. Wirklich hilfreich sind sie im Alltag selten. Viel verlockender hingegen: vermeintliche Weisheiten und Vorstellungen über Körpersignale, anhand derer wir Unwahrheiten identifizieren können. Etwa: Eine Person, die lügt, kann ihrem Gegenüber schlechter in die Augen schauen, sie fasst sich öfter an die Nase, schämt sich oder wird rot – ertappt! Oder doch nicht?
Die intuitive Lügendetektion ist tatsächlich schwierig.
Alles Unsinn, sagt Matthias Gamer, Professor für Experimentelle Klinische Psychologie an der Universität Würzburg: "Also indem ich mir etwas erzählen lasse und dann einfach schaue, wie verhält sich die Person, erzählt sie besonders ausschweifend, bewegt sie sich viel, blinzelt sie viel, schaut sie mich an oder nicht – all diese Merkmale, von denen wir manchmal denken, dass sie Lügen anzeigen – das funktioniert nicht."
Das belegt auch eine Metaanalyse der Psychologen Charles Bond und Bella DePaulo, innerhalb der sie 206 verschiedene Untersuchungen mit Daten von rund 25.000 Versuchspersonen ausgewertet haben. Diese sollten anhand von Videoausschnitten bestimmen, ob die ihnen gezeigten Menschen gerade gelogen hatten oder nicht. Das Ergebnis ist ernüchternd: "Da liegt die Trefferquote meistens bei knapp über 50 Prozent. Und das würde man auch einfach zufällig bekommen, wenn man eine Münze werfen würde", so Matthias Gamer zur Studie. Auch ob Menschen beruflich häufiger mit Lügen zu tun haben, spielt dabei keine Rolle. Die vermeintlichen Experten, etwa Richter, Polizisten oder Psychiater, waren nicht besser als die Laien.
200 Lügen pro Tag? Alles Lüge!
Im Alltag müssen wir uns also wohl oder übel damit abfinden, gelegentlich erfolgreich angeschwindelt zu werden. Seit Jahrzehnten kursiert diesbezüglich eine beeindruckende Zahl: 200 Mal, so heißt es, lüge der Durchschnittsmensch pro Tag. Die Zahl hält sich wacker, ist aber ein Mythos: "Sie stammt wahrscheinlich von einem amerikanischen Sozialpsychologen, der das mehr oder weniger geschätzt hat, ohne jegliche empirische Basis. Das heißt, es gibt dazu keine Untersuchungen, wo das festgestellt wurde", so Lügenforscher Matthias Gamer. Empirisch validen Studien zufolge lügen wir stattdessen im Schnitt "nur" zweimal pro Tag.
Schwarze und weiße Lügen
Interessant ist auch die Betrachtung der verschiedenen Arten von Lügen, die wir anwenden. Denn Lüge ist nicht gleich Lüge.
"Black Lies" sind die egoistischen Lügen. Sie werden in betrügerischer Absicht oder aus Eigennutz ausgesprochen und dienen dazu, sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, etwa Falschangaben in der Steuererklärung. "White Lies" hingegen sind die prosozialen bzw. altruistischen Lügen, etwa Höflichkeitsfloskeln. Hinter ihnen steckt keine böse Absicht, mit ihnen verfolgt man keinen konkreten Nutzen für sich selbst und im Gegensatz zu den "schwarzen Lügen" sind sie gesellschaftlich akzeptiert.
Allerdings ist der Übergang zwischen diesen Formen fließend: Eine Person nicht verletzen oder verärgern zu wollen, kann ja auch den egoistischen Hintergrund haben, sich vor einem Konflikt drücken zu wollen. Wissenschaftliche Tagebuch-Studien weisen Gamer zufolge darauf hin, dass etwa die Hälfte unserer Lügen egoistische Absichten bedient, 20 bis 30 Prozent unserer Lügen erzählen wir aus sozialen Motiven, der Rest sind Mischformen zwischen schwarzen und weißen Lügen.
Was unsere Sprache über das Lügen verrät
Doch egal, ob nun die kleine, nett gemeinte Notlüge oder der faustdicke Betrug: Die Lügenforschung kennt keine allgemeingültigen körpersprachlichen Merkmale, die einen Lügner oder eine Lügnerin sicher identifizieren. Anders sieht es aus, wenn man die verbalen Äußerungen genauer betrachtet. Die sogenannte "Undeutsch-Hypothese", benannt nach dem deutschen Psychologen Udo Undeutsch, geht davon aus, dass Aussagen, die erlogen sind, sich qualitativ von wahren Schilderungen unterscheiden.
Tatsächlich hat die Forschung inzwischen einige Merkmale belegen können, die Anzeichen für den (Un)Wahrheitsgehalt einer Aussage sein können: So ergehen sich wahrheitsgetreue Berichte häufig in einem gewissen Detailreichtum, während Lügen oft auf einer schematischen, eher oberflächlichen Darstellung von Ereignissen aufbauen. Das zeigt sich auch darin, dass wahrheitsgetreue Aussagen oft mehr wörtliche Rede enthalten.
Wir vertrauen darauf, dass die Wahrheit überzeugend ist
Darüber hinaus gibt es noch die sogenannten motivationalen Kennzeichen, erklärt Matthias Gamer: "Da geht man davon aus, dass ein Lügner immer bemüht ist, möglichst ehrlich zu wirken. Ein Lügner würde sich beispielsweise im Kontext einer sehr umfangreichen Aussage nicht selbst korrigieren, weil er denken würde, dass diese Selbstkorrektur negativ ausgelegt werden könnte. Während jemand, der die Wahrheit sagt, darauf vertraut, dass diese Wahrheit auch überzeugend ist."
Laborstudien weisen darauf hin, dass die sogenannte kriterien-orientierte Inhaltsanalyse, die verbale Aussagen auf solche Merkmale hin überprüft, eine Lügenerkennungs-Trefferquote von etwa 70 Prozent aufweisen kann. Eine noch höhere Erfolgsquote versprechen jedoch technische Hilfsmittel.
Der alte Traum von der Wahrheits-Maschine
Eine Maschine, mit deren Hilfe sich Lügnerinnen und Lügner überführen lassen, ist ein recht alter Traum: Bereits 1913 konstruierte der Philosoph und Psychologe Vittorio Benussi einen Apparat, der an den Atemzügen und dem Puls erkennen sollte, ob eine Person schwindelt. Denn: Gerät ein Mensch unter Druck, etwa in einer Befragungssituation, in der er lügt, aktiviert das Gehirn den Sympathicus, der im gesamten Körper eine Art Alarmzustand hervorrufen kann – das Ergebnis: mehr Schweißproduktion, erhöhter Herzschlag.
Auf die richtige Frage kommt es an
Heute vermisst die sogenannte Polygraphie noch weitere physiologische Merkmale, die Grundidee ist aber noch immer die gleiche wie vor gut hundert Jahren: "Man betrachtet die Hautleitfähigkeit oder den Hautwiderstand, also einfach, wie feucht sind die Handinnenflächen. Dann wird die Atmung aufgezeichnet, außerdem die Durchblutung in der Körperperipherie und die Herzfrequenz. Manchmal misst man auch noch etwas, das man als relativen Blutdruck bezeichnen könnte, eine Veränderung des Blutdrucks über die Zeit", zählt Matthias Gamer auf.
Es geht weniger um das, was man misst. Sondern es geht darum, wann messe ich das in Bezug auf welche Frage.
Allerdings funktioniert die maschinelle Lügendetektion nicht so, dass ein solcher Polygraph dann eine klare Antwort auf die Frage ausspuckt, ob eine Person lügt oder nicht. Vielmehr können Lügendetektoren in Verbindung mit bestimmten Befragungstechniken eine Entwicklung der genannten körperlichen Reaktionen zeigen, die bei der Interpretation der Antworten hilfreich sein kann.
Ohne den "Faktor Mensch" geht es nicht
Genau dieses komplexe Zusammenspiel aus Technik, Befragung und Interpretation ist es, das die Wahrnehmung der technischen Möglichkeiten zur Lügenerkennung stark beeinflusst. Torsten Voigt, Professor für Soziologie an der RWTH Aachen University, forscht zum Ruf und zum Einsatz von technikbasierter Lügendetektion. Ihm zufolge befinden wir uns in einem permanenten Widerstreit zwischen Technikbegeisterung und Technikskepsis – und einer fehlerhaften Vorstellung, welche Rolle der Faktor Mensch bei all dem spielt:
"So ein technisches Gerät hat immer eine Art natürliche Evidenz. Wir sehen nicht, was in dem Gerät passiert, aber wir gehen davon aus, dass da etwas ohne menschliches Zutun geschieht und dass das gut ist. Und in dem Moment, wo ein Mensch hinzukommt, bekommt das Ganze etwas Subjektives. Und dann hat man weniger Zutrauen."
Auch in Deutschland dürfen Polygraphen genutzt werden
Tatsächlich, so Voigt, herrsche bei vielen Menschen immer noch die Annahme vor, dass der juristische Einsatz von Polygraphen zur Lügenerkennung in Deutschland verboten sei – obwohl das nicht der Realität entspreche. Allerdings sind die Vorgaben hier deutlich strenger als in anderen Ländern, in denen Lügendetektoren zum Einsatz kommen:
In der US-amerikanischen Praxis wird der Polygraph genutzt, um ein Geständnis zu motivieren. Das ist in Deutschland in jedem Fall nicht erlaubt, weil man die Person dann möglicherweise zu etwas zwingt und damit Persönlichkeitsrechte verletzt werden können.
Hierzulande ist die Idee: Kann man einen solchen Test für eine Entlastung nutzen, sei dies ja im Interesse der betreffenden Person, das auch zu tun. Und in solch einem Kontext kann Lügendetektion eingesetzt werden. Die rechtlichen Hürden, die seinerzeit in den späten 1990er-Jahren vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurden, seien jedoch extrem eng, so Voigt.
Einsatz vor allem vor Familiengerichten
Voigts Forschungen zufolge kommen Lügendetektoren hierzulande vor allem bei Familien-Rechtsstreitigkeiten zum Einsatz. "Der Grund dafür ist, dass Richterinnen und Richter hier häufig das Gefühl haben, dass der Rechtsrahmen, in dem sie sich bewegen, immer komplexer wird. Und dass gerade in solchen verfahrenen Situationen, wo Familien vor Gericht landen, die Lage häufig ohnehin schon angespannt ist und dann Vorwürfe gemacht werden, die nur schwer zu überprüfen sind", erklärt der Soziologe. Wie oft genau der Lügendetektor hierzulande zum Einsatz kommt, ist jedoch unklar.
Lässt sich die Lüge scannen?
So sehr Lügendetektoren also gegebenenfalls als ein Aspekt bei der Urteilsfindung behilflich sein können, so sehr verwundert es, dass dabei auf Gerätschaften zurückgegriffen wird, die sich in ihrer Funktionsweise kaum von dem Lügendetektor-Prototyp unterscheiden, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden wurde. Doch inzwischen können wir mit Magnetresonanztomografen die Gehirn-Aktivitäten von Menschen betrachten oder per Eye-Tracking ihre Augenbewegungen verfolgen – sind das nicht deutlich vielversprechendere Hilfsmittel, um potenzielle Lügner zu überführen?
Torsten Voigt glaubt nicht, dass der Einsatz derartiger Möglichkeiten bald Realität wird: "Selbst Neurowissenschaftler sind diesbezüglich extrem skeptisch, dass man in Zukunft, allein durch das Präsentieren von visuellen Reizen und ohne eine weitere verbale Frage, eine Wahrheit erhält." Auch sei der Einsatz von Hirnscans allein schon deshalb unpraktisch, weil die entsprechenden Geräte groß und klobig und ihr Betrieb teuer und mitunter kompliziert seien. Zugleich versteht er aber die Faszination, die diesen Möglichkeiten innewohnt:
Die Person liegt einfach nur da und bekommt Bilder präsentiert. Und dann springt das Gehirn an. Das ist die Fantasie, die dahintersteht: Da kommen wir an den Kern der Sache ran, man kann dann nicht mehr lügen.
Es braucht auch die gesellschaftliche Akzeptanz
Genau diese Faszination steckt auch in den Fragen und Methoden, denen Voigt und sein Team sich in ihrer aktuellen Forschungsarbeit widmen: Sie untersuchen Verfahren, die künftig zum Einsatz kommen könnten, um etwa an Flughäfen verdächtige Personen zu erkennen – kontaktlos, per Screeningverfahren: "Da geht es um die Handlungsabsichten von Menschen und die Vorstellung, technische Verfahren zu etablieren, mit denen man Menschen unter Berücksichtigung unterschiedlicher biometrischer Maße einordnen kann. Etwa anhand der Art und Weise, wir wir uns bewegen, unsere Körpertemperatur, möglicherweise auch Körpergeruch und Schweißgehalt."
Eine Realität, in der wir auf Lügen oder auch nur auf Handlungsabsichten "durchgescannt" werden, sieht Torsten Voigt aber noch lange nicht – aus zwei Gründen: "Einerseits ist die Technik noch nicht so weit, dass wir so etwas bedenkenlos flächendeckend einsetzen können. Andererseits ist es den Fachwissenschaften noch nicht gelungen, einer breiten Bevölkerung die Verfahren so zu kommunizieren, dass wir als Gesellschaft guten Gewissens sagen: Ja, es gibt natürlich eine Fehlerwahrscheinlichkeit, aber die nehmen wir in Kauf." Bei anderen Verfahren tun wir das im Übrigen heutzutage ganz selbstverständlich, etwa beim DNA-Test – und der ist auch nicht perfekt.