Eine junge Frau sitzt mit geschlossenen Augen an einen Baum gelehnt auf einer Waldwiese.
MDR-Wissen Reporterin Daniela Schmidt auf der Jahresbaumwiese im Volkspark Kleinzschocher in Leipzig. Bildrechte: MDR/Thomas Jähn

Waldmedizin Waldbaden: Heilung oder Humbug?

09. Oktober 2023, 18:06 Uhr

Wir haben die Heilkraft des Waldes wiederentdeckt! Seit einiger Zeit liegen Waldbaden und Naturspaziergänge stark im Trend: Es finden sich unzählige Artikel und Bücher zur medizinischen Wirkung des Waldes sowie Anleitungen und Kursangebote zum gemeinsamen Waldbaden. Und auch in der Forschung findet die Waldmedizin immer mehr Beachtung. Doch was ist wirklich dran am Hype um den Wald als Heilmittel? Und was ist nur esoterischer Humbug?

Immer mehr Studien zeigen, wie wichtig die Natur und der Wald für unser Wohlergehen in der heutigen Zeit sind: Lärm und schlechte Luft um uns herum, Dauerstress, Bewegungsmangel und immerzu müssen wir online und erreichbar sein – der Wald wird dabei zum natürlichen Gegenpol, zum Ausgleichspunkt.

Und die Versprechungen sind groß: Waldbesuche sollen eine entspannende, stressreduzierende Wirkung aufweisen und positive Auswirkungen auf unsere Stimmung, Bluthochdruck, Herz- und Lungenfunktion und wohl auch auf unser Immunsystem und psychische Parameter wie Angst und Depressionen haben.

"Beim Waldbaden geht es wirklich dezidiert darum, eine Verbundenheit mit dem Wald herzustellen. Das heißt auch wieder zu begreifen: Ich bin Teil der Natur, in die ich eintauche, die ich mit meinen Sinnen versuche, intensiv wahrzunehmen", erklärt Gisela Immich. Sie forscht am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München zur heilsamen Wirkung der Natur.

Im Licht und in der Luft des Waldes baden

Seinen Ursprung hat das Waldbaden in Japan. Dort ist die Waldmedizin seit vielen Jahren Teil der staatlichen Gesundheitsvorsorge und regelmäßige Waldbesuche werden sogar ärztlich verschrieben.

Der Begriff "Shinrin-yoku", also das sogenannte Waldbaden, wurde 1982 durch das japanische Forstministerium geprägt. "Es geht darum, dass wir in die Atmosphäre des Waldes eintauchen, mit allen Sinnen", erklärt Immich. Ob nun die unzähligen Grüntöne der Umgebung und das Lichtspiel der Baumkronen wahrnehmen, dem Rascheln der Blätter und Knacken der Äste lauschen, den Duft der Blüten und Blätter aufsaugen, Kräuter und Beeren schmecken, mit den Fingerspitzen über Moos und Farne streichen, Baumstämme umfassen oder die Temperaturunterschiede auf der Haut spüren.

Doch im Gegensatz zum bloßen Waldspaziergang spielt nicht die Bewegung die vordergründige Rolle, sondern dieses aktiv praktizierte, entspannte, entschleunigte Naturerleben, betont Michael Jeitler, Studienarzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin.

Die Grünkraft des Waldes

Eine der frühesten Studien zur gesundheitlichen Wirkung des Waldes erschien bereits 1984 im Wissenschaftsmagazin "Science". Durchgeführt wurde sie von Architektur-Professor Roger Ulrich. Er beschäftigte sich mit sogenannter "healing architecture", also der Frage, welchen Einfluss unsere Architektur auf unsere Gesundheit hat.

Seiner Studie zufolge wirkt allein der Anblick von Bäumen messbar positiv. Patienten, die nach einer Operation aus dem Krankenhausfenster ins Grüne schauten, wurden schneller gesund als die, die nur auf eine Hausmauer sahen. Zudem benötigten die Patienten mit Baumblick weniger Schmerzmittel.

Auch wenn das Studiendesign nicht dem heutigen state of the art entspricht, konnten auch spätere Untersuchungen den Befund bestätigen: Grün tut uns gut. "Ja, da gibt es auch ganz spannende Studien und tatsächlich ist es so, dass die Farbe Grün und Blau andere Effekte auf den menschlichen Organismus hat als Grau oder andere Farben", so Jeitler.

Der Wald führt zu einem besseren Selbstbildnis

Waldbaden geschieht ohne Leistungsanspruch, sondern beiläufig, absichtslos und dennoch mit maximaler Aufmerksamkeit: "Das heißt, es ist ein Achtsamkeitsverfahren, indem wir den Wald zu Hilfe nehmen, um uns selbst stärker wahrzunehmen, aber auch in Kombination die Natur stärker wahrzunehmen und idealerweise dann vielleicht auch eine emotionale Angeregtheit für die Schönheit der Natur erreichen", sagt Gisela Immich.

Sie verweist dabei auf Untersuchungen, die diese Achtsamkeits-Verfahren mit dem Wandern in der Natur vergleichen. "Und man hat festgestellt, dass Personen, die in einem geführten Setting achtsam mit der Naturressource umgehen, dass die in der Konsequenz deutlich mehr Naturverbundenheit zeigen."

Für die Humanbiologin entwickelt sich daraus eine neuartige Gesundheitsressource, nämlich ein verbessertes Selbstbildnis: "Das heißt, ich bin zufriedener mit mir selbst. Ich bin zufriedener mit meinem Leben, wie ich es lebe. Ich bin auch optimistischer. Ich bin auch sinnerfüllter und auch vitaler. All das sind Parameter, die diese Naturverbundenheit positiv belegen."

Doch Immich rät auch zu einer gewissen Vorsicht bei all den vielen Angeboten für das Waldbaden und Naturcoachings: "Es gibt auch wirklich ganz viele Graubereiche, wo das Waldbaden dann in so eine esoterische Schiene abdriftet und wo es um Wald- und Baumgeister geht. Und damit tue ich mich dann schon schwer als Wissenschaftlerin."

Es liegt was in der Luft: Terpene, die Duftstoffe von Bäumen

Doch es nicht nur die Ruhe, die Entspannung und die Bewegung, die uns im Wald guttut – es liegt auch etwas in der Luft: Terpene. Diese Duftstoffe dienen Pflanzen und Bäume unter anderem als eine Art Kommunikationsmittel, um einander vor blattfressenden Insekten zu warnen. Aber sie haben auch einen Einfluss auf uns Menschen, wenn sie über die Atemwege oder die Haut aufgenommen werden. "Medizinisch sind diese Terpene hochinteressant, aber wissenschaftlich bisher noch wenig erforscht", stellt Michael Jeitler fest.

Studien zum Einfluss der Terpene auf den Menschen gibt unter anderem auch von dem japanischen Forscher Qing Li – der Vorreiter des Waldbadens und eine weltweite Koryphäe auf dem Gebiet der Waldmedizin. Für ein Experiment ließ er beispielsweise zwölf Probanden in Hotelzimmern übernachten – sechs Personen ganz normal, bei den anderen sechs wurde ohne deren Wissen über Nacht Waldluft ins Zimmer gepumpt. Anschließend wurden alle untersucht, und die Waldluft-Probanden hatten beispielsweise mehr und aktivere körpereigene Killerzellen im Blut, das sind wichtige Player in unserem Immunsystem. Qing Li schlussfolgerte daraus, dass man durchaus hoffen könne, dass der Wald bei uns Menschen sogar das Krebsrisiko minimiere.

Humanbiologin Gisela Immich zeigt sich eher zurückhaltend: "Wir müssen bei diesen vollmundigen Aussagen ein bisschen vorsichtig sein, weil wir zwar für viele dieser Aussagen eine Erklärung finden können, aber die kausalen Pfade noch nicht wissenschaftlich belegt sind."

Und so entzaubert die Humanbiologin das Ganze: "In der Aromatherapie gibt es umfangreiche Ergebnisse, wie die unterschiedlichen Terpene zum Beispiel auf den Körper einwirken. Aber wir befinden uns da in einer gänzlich anderen Konzentration, die da therapeutisch eingesetzt wird als im Vergleich zum Wald. Ich meine, wir können das alles riechen", so Immich. "Nichtsdestotrotz fehlt es an wirklich guten Studien, die nachweisen, dass das nicht nur einen akuten, sondern sogar auch einen langfristigen Effekt haben kann. Also das wissen wir noch nicht so ganz."

Viele Studien halten den Qualitätskriterien nicht stand

Das Problem ist: Ein Großteil der Studien zum Thema Waldbaden genügt nicht immer den aktuellen wissenschaftlichen Standards. Oftmals werden die Experimente mit zu wenigen Probandinnen und Probanden durchgeführt, teilweise fehlen notwendige Kontrollgruppen oder zusätzliche Einflussfaktoren werden nicht genügend berücksichtigt und verzerren letztlich die Untersuchungsergebnisse.

Seit einigen Jahren untersuchen auch in Deutschland zunehmend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ob und wie sich der Wald therapeutisch sinnvoll nutzen lässt. "Die Grünkraft wird bereits in verschiedenen Rehabilitationskliniken in Deutschland eingesetzt, wo regelmäßige Waldbesuche initiiert werden, um den Heilungsverlauf zu verbessern und vor allen Dingen auch den Körperbezug wieder stärker herzustellen", erklärt Immich. Was es künftig aber brauche, seien verbindliche Grundsätze und Mindeststandards – einerseits für die Ausbildung von fachlich kompetenten Waldtherapeuten, anderseits für die unterschiedlichen Nutzungsansprüche von Kur- und Heilwäldern.

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