Podcast "Meine Challenge" Schmerzen überwinden - wie geht das?
Hauptinhalt
05. Juni 2020, 15:00 Uhr
Ob Zahnarztbesuch, Sportverletzung oder das Rückenziepen nach einem langen Tag im Büro - wir alle sind im Alltag immer wieder mit Schmerzen konfrontiert. Die Wissenschaft kennt verschiedene Methoden, die beim Aushalten helfen. Doch wie funktioniert Schmerz überhaupt - und wie kann man ihn austricksen?
Wir stoßen uns das Knie am Tischbein, wir verbrennen uns die Finger am heißen Kochtopf oder spüren das Rückenziepen nach einem langen Tag im Büro - Schmerzen erleben und erleiden wir im Alltag immer wieder. Doch jeder von uns fühlt ihn anders, denn den einen Schmerz gibt es nicht. Deshalb ist auch eine Beschreibung nicht so ganz einfach. "Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird." So lautet die Definition der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes (IASP). Anders gesagt: Schmerz ist erst einmal nichts anderes als die Reaktion unseres Körpers auf einen Reiz.
Der Schmerz hat zwei Stadien
Beim Empfinden von Schmerzen differenziert die Forschung zwei Stadien der Wahrnehmung: "Wir unterscheiden in Erst- und Zweitschmerz", erklärt der renommierte Schmerzforscher Walter Zieglgänsberger aus München. "Wenn Sie sich gestoßen haben, dann fühlen Sie kurz einen richtig spitzen, schnellen, lokalisierten Schmerz, man zuckt zusammen oder zuckt zurück. Und dann kommt erst, mit einer Verzögerung von bis zu einer halben Minute, der Zweitschmerz auf, dass man sagt: Oh. Aua. Das ist aber schlimm." Kurz: Erst kommt der körperliche Reflex, dann setzt die schmerzhafte Bewusstwerdung ein.
"Schmerz ist ein Lehrmeister"
So unangenehm diese Empfindungen auch sein mögen, sie haben ihren Sinn: Schmerz ist ein überlebenswichtiges Warnsystem des Körpers, das uns davor bewahrt, zum Beispiel die Hand zu lange auf der heißen Herdplatte zu lassen oder mit einem gebrochenen Fuß sorglos durch die Gegend zu spazieren. Und tatsächlich gibt es Menschen, die aufgrund genetischer Defekte keine Schmerzen empfinden können. Klingt nach einem wünschenswerten Zustand, oder?
Furchtbar, das wäre eine Katastrophe. Sie stoßen sich überall an, fühlen nicht mehr, dass Sie einen Stein im Schuh haben oder sich auf die Zunge beißen. Es entstehen riesige Wunden und Ekzeme. Schmerz ist ein Lehrmeister. Und Menschen, die angeboren schmerzunempfindlich sind, sind in höchster Gefahr und haben üblicherweise keine sehr lange Lebensdauer.
Strategien gegen den Schmerz
Ein Leben ohne Schmerzen funktioniert also nicht. Die gute Nachricht: Es gibt Bewältigungs-Strategien, um sie besser zu ertragen. Ein Blick ins Internet genügt, um massenhaft Tipps zu finden, die mitunter recht ungewöhnlich anmuten: Demnach sollen zum Beispiel Chili-Schärfe, süße Düfte oder lautes Fluchen helfen, Schmerzen auszuhalten.
Und tatsächlich hat es damit seine Bewandnis: Wissenschaftlich lassen sich all diese Ratschläge nämlich unter "Ablenkung" und "Entspannung" zusammenfassen; zwei Strategien, die sich in Schmerzsituationen als hilfreich erwiesen haben. Die Strategie der Ablenkung funktioniert dabei offenbar schon, bevor wir überhaupt begriffen haben, was Schmerz bedeutet: Studien legen nahe, dass Babys vermutlich weniger Schmerzen empfinden, wenn sie getreichelt werden.
Set und Setting als Einflussfaktoren
Auch die Frage, in welcher Verfassung man sich gerade befindet und wie man dem Schmerz begegnet, spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von Schmerzen. "Set und Setting", so der wissenschaftliche Begriff. Schmerzforscher Zieglgänsberger empfiehlt: "Für mich ist die Technik einfach bewusste Entspannung. Dass man sagt: Okay, ich schaue den Schmerz an. Wird er stärker, bleibt er gleich, wird er sogar leichter? Gehen Sie dem Schmerz sozusagen hinterher, aber ohne Panik. Die Panik zu unterdrücken kann man durch verschiedene Methoden erreichen - Yoga, Zen-Meditation, Muskelentspannungsübungen." All diese Techniken muss man jedoch vorher trainieren, um sie in der Akut-Situation anwenden zu können. Wer auf dem Zahnarztstuhl zum ersten Mal mit Meditation beginnt, wird eher keine Erfolge einfahren.
Wenn Schmerz zur Krankheit wird
Neben dem Akutschmerz, der uns vor heißen Herdplatten und spitzen Schrankecken schützen soll, gibt aber auch den chronischen Schmerz. Ein Schmerz, der ohne äußeren Reiz wieder und wieder auftaucht und so irgendwann selbst zur Krankheit wird. Rund 17 Prozent der Menschen in Deutschland leiden der Deutschen Schmerzgesellschaft zufolge unter chronischen Schmerzen wie etwa Migräneanfällen, dauerhaften Rückenleiden oder Folgen einer Unfallverletzung. Grund für solche Schmerz-Erkrankungen können überreizte Nervenzellen sein, die ohne Anlass permanent Schmerzsignale durch das Rückenmark ins Gehirn senden. Einfach "reparieren" lässt sich dieses organische Problem bisher nicht.
Dem Schmerz keine Macht geben
Therapiemöglichkeiten für Schmerzpatienten gibt es trotzdem. Dort setzt man beispielsweise bei der Selbstwirksamkeit an. "Das Ziel in der Schmerztherapie ist nicht Schmerzfreiheit, sondern eine Reduktion der Schmerzen auf solch ein Maß, dass der Betroffene merkt: Er ist der Herr im Hause, er ist der Chef seines Körpers", sagt Jan-Peter Jansen. Der Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin leitet das Schmerzzentrum Berlin, in dem pro Quartal bis zu 10.000 Patientinnen und Patienten Hilfe suchen. "Das kann man einstellen: Ob ich es zulasse, dass der Schmerz so eine Kraft und Macht über mich erlangt, oder ob ich dagegen etwas tun kann. Und das Etwas-dagegen-tun-können ist das Wichtigste."
Neue Interpretationen finden
Diese Hilfe finden die Schmerzpatienten in Form multimodularer Therapieangebote: "Klassische" klinische Diagnose- und Heilungsverfahren werden hier verschränkt mit psycho- und physiotherapeutischen Ansätzen. Denn eben weil sich an der Ursache der Schmerzsignale sendenden Nervenzellen nichts ändern lässt, muss man den Schmerz auf seiner zweiten Ebene packen, also in der bewussten Schmerzwahrnehmung.
Die Betroffenen lernen: Der Schmerz ist keine Bedrohung. Der Schmerz bringt mich nicht um. Der quält mich, aber warum? Weil ich das vielleicht auch auf irgendeine Art und Weise zulasse. Schmerz kann interpretiert werden, das kann eine Strafe sein für biografische Verfehlungen, das kann eine Strafe dafür sein, dass ich zu meiner Familie vielleicht nicht immer so lieb war oder etwas anderes Schlimmes gemacht habe. Das kann man alles aufklären und dem Ganzen eine neue Bedeutung, einen neuen Wert geben.
"Wir schenken Patienten ihr Leben wieder"
Dieses Konzept nennt sich "Re-Learning": Gelernte Schmerzmuster - egal, ob es um die Wahrnehmung geht oder um Gewohnheiten und Situationen, in denen ein Schmerz erwartet wird und dann auch eintritt - lassen sich zwar im Gehirn nicht löschen. Man kann sie aber durch klassische Konditionierung neu überschreiben - und so dem Patienten viel Leid nehmen. "Wir schenken vielen Menschen ihr Leben wieder. Dann sitzt da eine Frau und sagt: Ich hatte 30 Jahre lang Migräne, an 30 Tagen im Monat, und jetzt sind es nur noch drei. Und der Mann sitzt daneben und sagt: Sie haben meiner Frau das Leben und mir meine Frau zurückgeschenkt", berichtet Jan-Peter Jansen. "Dann ist man natürlich der tollste Arzt der Welt, das macht Spaß und ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle."
Noch viel Forschungsbedarf
Generell sind derartige Ansätze aber noch recht jung. Das ist auch dadurch bedingt, dass das Feld der Schmerztherapie lange eher stiefmütterlich behandelt wurde. So gehört die Schmerzmedizin hierzulande erst seit wenigen Jahren verpflichtend zum Medizinstudium. Die Verbreitung multimodularer Ansätze zur Therapierung chronischer Schmerzen ist dementsprechend noch nicht sehr groß.