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Klimawandel und KlimapolitikSiebenmeilenstiefel nach Fahrplan: Wie die EU bis 2050 klimaneutral werden will

07. Dezember 2023, 04:59 Uhr

Die Europäische Union ist der drittgrößte CO2-Emittent der Welt. Und möchte bis 2050 als erste Volkswirtschaft klimaneutral werden. Wir erklären, welche Maßnahmen der Kontinent ergreift – und was sie bringen.

Schon klar: Europa ist kein Land und der Kontinent nicht die EU. Aber im Staatenbund tummeln sich nicht nur die größten CO2-Emittenten des Erdteils – Europa möchte als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt auch die erste sein, die klimaneutral wird. Das ist durch die Dichte an wohlhabenden Industrienationen nicht nur eine moralische Selbstverpflichtung, sondern auch ein klares Signal an den Rest der Welt und möglicher Einfluss auf ebendiese. Wie das klappen soll? Legen wir los und fragen uns erstmal:

Wo steht Europa beim CO2-Ausstoß?

Wenn man sich die aktuellen Daten des Global Carbon Project ansieht, macht sich Verwunderung breit: So hohe CO2-Emissionen hat die Welt noch nicht gesehen – angesichts der Klimakrise müsste das Gegenteil der Fall sein. Tatsächlich sieht die Kurve bei den meisten Verursacher-Ländern aber prinzipiell nach Stagnation mit ganz leichtem Rückgang aus. Mit zwei Ausnahmen: China hat seit der Jahrtausendwende massiv zugelegt. Und auch im größten Land der Welt, in Indien, zeigen die Emissionen nach oben, wenn auch auf kleinerem Niveau. Bei den EU-Staaten ist zwar ein Abwärtstrend zu sehen, aber nur ein zaghafter. Als drittgrößter Verursacher sollten wir hier ruhig einen Zahn zulegen.

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Emissionen runter: Hat die EU überhaupt einen Plan?

Aber ja! 2019 kann man als eine Art Neustart der europäischen Klimabemühungen sehen. Damals hat die Kommission um Ursula von der Leyen im Rahmen des European Green Deal verkündet: Bis 2050 soll die EU klimaneutral werden – als erster Kontinent und als erste Volkswirtschaft der Welt. Um dieses Ziel zu erreichen, will Europa jetzt noch einen Zahn zulegen und hat sein Zwischenziel verschärft. "Fit for 55" bedeutet, bis 2030 alle Emissionen um 55 Prozent, also mehr als die Hälfte, zu reduzieren.

Wie will Europa Klimaneutralität erreichen?

Als altbekannte Grundidee könnte man erstmal festhalten: Weg mit Kohle, Gas und Öl und dafür den Ausbau erneuerbarer Energien ankurbeln. Deren technische Weiter- und sinkende Preisentwicklung gilt als gesetzt. Und auch bei den Speicherlösungen wie Batterien und Wasserstoff werden wir Fortschritte machen, um eine gleichmäßige Energieversorgung zu gewährleisten. Eine neue umfassende Studie, die ökonomische Modelle zum Erreichen der europäischen Klimaneutralität vergleicht, kommt zu dem Schluss: Die Dekarbonisierung müsste bis 2040 vollständig passieren, um die Klimaziele zu erreichen. Außerdem wäre es hilfreich, wenn schon bis 2030 ein Drittel des Energieverbrauchs auf elektrischen Strom zurückgeht. Zum Vergleich: In Deutschland sind wir da derzeit erst bei zwanzig Prozent.

Mit welchem Werkzeug will es die EU schaffen, die Emissionen auf Netto Null zu bringen?

Die EEX will hoch hinaus, auch beim Wasserstoffhandel: An der Energiebörse in Leipzig werden bereits die Voraussetzungen dafür geschaffen. Bildrechte: imago/Dirk Sattler

Man kann das jetzt Werkzeug nennen oder einfach große Säule des europäischen Klimaschutzes: das EU-Emissionshandelsysten ETS, also den Handel mit Emissions-Zertifikaten. Wer da jetzt an Ablasshandel denkt, liegt gar nicht mal so falsch: Unternehmen, die etwas schmutziger unterwegs sein wollen, brauchen dafür CO2-Zertifikate. Und Unternehmen, die ihre Zertifikate nicht benötigen, können diese Emissionsrechte verkaufen. Solche Zertifikate werden dann öffentlich gehandelt, zum Beispiel an der europäischen Energiebörse in der Leipziger Stadtmitte.

Das passiert aber nicht endlos, sondern ist durch eine Obergrenze (Cap) an ausgegebenen Zertifikaten gedeckelt. Diese Obergrenze wird jedes Jahr reduziert, um die Emissionen nach und nach runterzubekommen. Letztendlich ist das erstmal gut gedacht: Unternehmen sollen dadurch wirtschaftlich motiviert werden, in klimafreundliche Technologien zu investieren. Allerdings waren in den vergangenen Jahren zu viele Zertifikate im Umlauf. Außerdem waren sie zu billig, es wurden auch zu viele kostenfreie Zertifikate verteilt. Und für die Unternehmen war damit der Anreiz zu gering, in Klimaschutzmaßnahmen zu investieren. Das hat die EU jetzt in einer neuen Phase korrigiert. Zum Beispiel wird die Obergrenze der ausgegebenen Zertifikate deutlich schneller reduziert. Muss sie auch, schließlich will die EU bis 2030 55 Prozent ihrer Emissionen loswerden. Und: Mit CBAM wird eine Art CO2-Zoll eingeführt, damit Europa wettbewerbsfähig bleibt und klimaschädliche Prozesse nicht einfach ins Ausland verlagert werden.

Welche Maßnahmen braucht es neben dem Emissionshandel ETS?

Bildrechte: MDR WISSEN

Die Mitgliedsländer der EU kommen nicht um ihre Hausaufgaben drum rum, die Emissionen in den einzelnen Sektoren zu reduzieren. Einer dieser Sektoren, Gebäude, hat durch das Gebäude-Energie-Gesetz im Jahr 2023 größere Berühmtheit erlangt – Stichwort Wärmepumpe. Aber auch bei Landwirtschaft und Verkehr muss einiges passieren, zum Beispiel durch den Ausbau des Schienenverkehrs. Das ist möglicherweise auch realistisch, da der EU-Emissionshandel künftig auch Verkehr und Gebäudeenergie einschließen wird.

Wie schaffen wir den letzten Rest CO2?

Vergleichen lässt sich das Szenario zur Mitte des Jahrhunderts wohl am besten mit einem Joghurtbecher: Den im Großen und Ganzen auszulöffeln, ist erstmal nicht das Problem, da kommt man gut voran. Aber wirklich jeden Rest dort rauszukratzen, ist ein eher mühsames Unterfangen. Und so läuft das auch bei den Treibhausgasen: Wir haben wahrscheinlich unvermeidliche Restemissionen, gerade in der Landwirtschaft und bei bestimmten Industrieprozessen. Und werden möglicherweise nicht drumrum kommen, einen Teil durch technische Lösungen aufzufangen.

Welche technischen Lösungen helfen bei der Beseitigung von Treibhausgasen?

Eine diskutierte Variante heißt BECCS. Das steht für bioenergy with carbon capture and storage – also Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung. Das ist ein Verfahren, das die Gewinnung von Energie aus Biomasse mit dem Herausfiltern von CO2 verbindet. Der Reihe nach: Nachwachsende Rohstoffe wie Bäume und Energiepflanzen können in ihrer Wachstumsphase CO2 aufnehmen. Werden diese Rohstoffe geerntet und verbrannt, wird Energie erzeugt. CO2 aus der Verbrennung ist praktischerweise schonmal klimaneutral, weil die genannten Pflanzen CO2 aufnehmen und speichern – es geht also kein zusätzliches CO2 in die Atmosphäre, anders als bei Öl und Erdgas. Wenn man aber das CO2 komplett loswerden möchte, reicht das nicht: Das Treibhausgas muss irgendwie einfangen und weggesperrt werden – in Fachkreisen heißt das „CO2-Abscheidung und -Speicherung“. Das bedeutet, dass das CO2 bei der Verbrennung nicht wieder zurück in die Atmosphäre emittiert wird, sondern herausgefiltert und schließlich gelagert wird, zum Beispiel im Meeresboden.

Das klingt schon fast zu gut, um wahr zu sein – und ist zumindest eine fragliche Idee. Erstmal durch Probleme, die man schon aus der Biosprit-Erzeugung kennt: Plantagen für Bäume und Energiepflanzen bedeuten eine erhöhte Landnutzung. Wenn jetzt Fläche für die Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzt wird, zieht das einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise nach sich. Und bei vollkommen neuen Flächen besteht die Gefahr, unberührtes Land zu zerstören. Wenn es Monokulturen sind, wirkt sich das auch noch auf die Biodiversität aus Also alles nicht so optimal.

BECCS, CCS, CDR, DAC – ist CO2-Absaugen an sich eine gute Idee?

Lässt man bei BECCS den Bioenergie-Aspekt weg und konzentriert sich auf CCS, muss man sehr genau hinschauen. Beim Entfernen von CO2 gibt es zwei verschiedene Ansätze. CCS lässt sich nicht nur für Bioenergie einsetzen, sondern auch bei fossilen Kraftwerken. Dabei wird einfach CO2 direkt nach der Verbrennung herausgefiltert und eingelagert. Die andere Variante heißt CDR – carbon dioxide removal, also CO2-Entfernung. Dessen Idee ist es, später mal Rest-CO2 aus der Atmosphäre zu saugen und einzulagern. CCS und CDR muss man sehr differenziert betrachten: Gerade die Ölindustrie ist an CCS interessiert. Bei CCS bewegen wir uns hinsichtlich Klimaschutz aber auf dünnem Eis: Es besteht die Gefahr, dass durch das Herausfiltern von CO2 direkt an Kraftwerken die Lebensdauer der Fossilen künstlich verlängert und gleichzeitig die Entwicklung von Alternativen ausgebremst wird.

CO2 filtern mit Direct Air Capture Bildrechte: imago images/Cover-Images

Wenn es jetzt aber darum geht, die Reste aus dem Joghurtbecher zu kratzen, also CO2-Reste aus der Luft zu filtern, dann ist CDR eine Technik, die man sich durchaus ansehen kann. Es gibt dafür auch schon DAC-Versuchsanlagen. DAC steht für direct air capture, also direktes Lufteinfangen. In Island wird zum Beispiel erprobt, wie herausgefiltertes CO2 auch direkt im Boden eingelagert werden kann. Damit hätte man dann negative Emissionen. Oder, auch das wird schon getestet: CO2 einfangen und direkt in Brennstoffe umwandeln oder der Chemieindustrie zur Verfügung stellen – das wäre dann zumindest CO2-neutral.

Aber: Es gibt keinen Grund, sich auf die Technik zu verlassen. Das Vermeiden von Emissionen ist viel einfacher und günstiger als sie am Ende wieder aus der Atmosphäre zu fischen.

Klimaneutralität: Und was ist mit Kernenergie?

Nach neuerlicher EU-Taxonomie gilt auch Atomkraft als nachhaltig. Unter gewissen Umständen lässt sich durch AKWs emissionsfreier Strom erzeugen, wodurch sie einen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten können. Kernkraft ist aber nicht der Heilsbringer, für die sie von einigen Befürwortenden gehalten werden, auch abseits der Debatte um mögliche Reaktorunglücke und die Frage, wo der strahlende Müll eigentlich bis in alle Ewigkeit lagern soll. Vor allem ist es auch die geringe Effizienz. So müssten die alten europäischen Reaktoren bald ausgetauscht werden, Neubauprojekte verzögern sich und explodieren in ihren Kosten. Insgesamt ist der Planungshorizont zu lang, um für eine schnelle Emissionsreduktion herzuhalten, während Wind- und Solarstromanlagen günstiger werden und schneller baubar sind. Der hohe Anteil an schwankender Sonnen- und Windenergie kann außerdem dazu führen, dass AKWs nicht ständig unter Volllast gefahren würden, was die Stromgestehungskosten in die Höhe treibt und die Anlagen unwirtschaftlicher macht. Mittlerweile rückt sogar die Atomkraftnation Frankreich perspektivisch vom Glauben an die Kernspaltung ab – bis 2040 soll diese Art der Energiegewinnung deutlich reduziert werden. Auch angesichts klimawandelbedingter Hitze und des Mangels an (Kühl-)Wasser eine nachvollziehbare Entscheidung.

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Nachmittag | 06. Dezember 2023 | 16:10 Uhr

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