Paläogenetik und NobelpreisNobelpreisträger Svante Pääbo: Forschung zwischen Steinzeitgenetik und Neandertaler-Lifestyle
Ein Schwede holt in Schweden die größte wissenschaftliche Auszeichnung der Welt – und bringt sie nach Leipzig. Am 10. Dezember werden die Nobelpreise verliehen, auch an Svante Pääbo. Ihm gelang vor einigen Jahren das fast Unmögliche: den Erbgut-Baukasten der Neandertaler zu entschlüsseln. Und damit einen Teil unserer eigenen Vergangenheit. Ein Überblick.
Die Frühgeschichte der Menschheit legt nahe, dass es nicht immer die Europäerinnen und Europäer waren, die sich auf der Welt breitgemacht haben. Und anderen Zivilisationen den Garaus. Anthroposophisch gesehen haben europäische Menschen vor vierzig tausend Jahren von jenen eins auf die Mütze bekommen, die sich parallel zu ihnen in Afrika entwickeln konnten. Denn irgendwann stellte sich heraus, dass eben nicht der Neandertaler, sondern der Homo Sapiens das genetische Erfolgsmodell Mensch darstellt.
Das hielt die unterschiedlichen Evolutions-Fabrikate aber nicht davon ab, eine Zeitlang zu koexistieren, das eine oder andere Techtelmechtel miteinander zu betreiben – und damit ihr Erbgut zu vermischen. So können wir heute mit Sicherheit sagen: Ein bisschen Neandertaler steckt immer noch in einigen von uns und kann sogar unsere Haut-, Haarfarbe und Verhaltensmuster beeinflussen. Das wissen wir, weil wir inzwischen ihr Erbgut entschlüsselt haben. Also eigentlich haben das Sven Pääbo und sein Genetik-Team gemacht. Seit 25 Jahren wird am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) im Leipziger Zentrum-Südost das erforscht, was den Menschen zum Menschen macht. Dazu zählt auch das Erbgut unserer Vorfahren. Zwar ist der Neandertaler nach dem ersten Fundort östlich von Düsseldorf benannt. Durch die Leistung des Max-Planck-Instituts in Leipzig könnte der Name dieses Vorfahrens inzwischen aber auch getrost nach westsächsischer Prämisse Muldentaler oder Rosentaler lauten.
Der Neandertaler ist heute ein Rosentaler
Sven Pääbo, der dafür verantwortliche Direktor für Evolutionäre Genetik, ist zwar kein Ursachse, aber seit der Bekanntgabe seines Medizinnobelpreises der Liebling des wissenschaftlichen Leipzigs. Geboren 1955 in Stockholm, könnte man fast sagen, dass das Nobelpreistragen wiederum bei ihm eine genetische Angelegenheit ist: 1982 erhielt sein Vater Sune Bergström ebenfalls den Medizinnobelpreis. Pääbos Ehrung ist jedoch mitnichten einfach nur eine Fortführung des elterlichen Geschäfts. Im Prinzip gelang ihm, so begründete das Nobelkomitee die Entscheidung Anfang Oktober, was zuvor schlichtweg fast unmöglich klang: die Entschlüsselung des Erbguts eines ausgestorbenen menschlichen Vorfahrens. Und damit ein Fass ohne Boden an Erkenntnissen hinsichtlich der Frage, wo wir herkommen und wie wir zu dem wurden, was wir heute sind.
Pääbos Selbsteinschätzung des eigenen bisherigen Lebenswerks klingt da etwas weniger überschwänglich, fast schon skandinavisch zurückhaltend: "Neandertaler sind die engsten Verwandten des heutigen Menschen. Vergleiche ihrer Genome mit denen heutiger Menschen sowie mit denen von Menschenaffen ermöglichen uns zu bestimmen, wann genetische Veränderungen bei unseren Urahnen eintraten."
Wie es sich für eine Koryphäe gehört, war Pääbos Lebenslauf alles andere als geradlinig: Noch vor dem Studium besuchte er eine Dolmetscherschule, seine anschließenden Studienfächer waren mannigfaltig: Ägyptologie, Russisch, Wissenschaftsgeschichte und, auf Anraten seines Vaters, auch Medizin – allerdings ohne klinischen Teil und damit ohne Abschluss. Zumindest drei dieser Fächer passten zu seinem geglückten Vorhaben, als Doktorand die DNA eine Mumie zu klonen.
Was macht das MPI EVA?Das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie kennen die Besuchenden das Leipziger Zoos durch eine berühmte Außenstelle: Das Pongoland, das eigentlich Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum heißt und in dem – backstage sozusagen – Menschenaffen beobachtet werden. Das wird am MPI EVA aber auch in freier Wildbahn getan. Ebenfalls in freier Wildbahn werden DNA-Spuren aus unserer Vergangenheit gesammelt. Seit seiner Gründung 1997 beschäftigt sich das Institut mit unserer Evolutionsgeschichte und hat seinen Sitz auf dem Bio Campus im Zentrum-Südost. Es ist eines von drei MPI in Leipzig. Neben Primaten und Genetik gilt ein besonders Augenmerk unserer Kultur(rellen Evolution).
Zum Forschungsteam des MPI EVA in Leipzig gehört Pääbo seit dessen Gründung 1997. Letztendlich waren es die Fortschritte in der Gensequenzierung, die es ihm und seinem Team ermöglicht haben, nach ersten kleinen Erfolgen in den Neunzigern bis 2014 ein nahezu vollständiges DNA-Konvolut zum Neandertaler vorzulegen. Ab dann dauerte es nicht lange, bis es schlagzeilenfähige Erkenntnisse hagelte: Zum Beispiel sind Menschen mit Neandertaler-Gen schmerzempfindlicher. Schmerzempfinden ist beim Menschen vom Alter abhängig – Menschen mit Neandertaler-DNA empfinden Schmerzen so, als wären sie in etwa acht Jahre älter. Ein anderes Neandertaler-Gen sorgt indes offenbar dafür, dass Frauen fruchtbarer sind, weniger Fehlgeburten und weniger Blutungen haben. Also: bessere Karten hinsichtlich einer möglichen Schwangerschaft.
Diese Pääbo-Genetik hat sich als Paläogenetik inzwischen einen Namen gemacht. Mehr noch: Pääbo gilt mitunter als ihr Begründer, auch wenn der Begriff etwas älter ist als seine Forschung. Ein wissenschaftliches Teilgebiet auf sich zu vereinen, noch dazu in der modernen Welt, ist ein Attribut, das sich nicht viele Forschende in den Lebenslauf schreiben können. Dazu arbeitet Pääbo in einem Institut, an dem Neandertaler nicht nur aus genetischer, sondern auch kulturhistorischer Perspektive hoch im Kurs stehen: 2018 zeigte Forschung am MPI EVA, dass die Neandertaler nicht so stumpf und einfach waren, wie man es ihnen mitunter nachzusagen pflegt, sondern sie mit der Höhlenmalerei quasi die bildende Kunst erfunden haben.
Die Forschungen am MPI auf dem Bio Campus und insbesondere die Erkenntnisse, die Päärbo vorangebracht hat, sind eigentlich die Erforschung, wie die Welt zu dem werden konnte, was sie ist. Mit einer komplexen Besiedlungsgeschichte einer merkwürdigen Spezies, die sie nachhaltig geprägt hat und derzeit nachhaltig den eigenen Lebensraum zerstört. So liefern die Leipziger auch Antworten auf hochaktuelle Fragestellungen: und zwar, welchen Einfluss ein potenzielles Neandertaler-Erbgut eigentlich auf Covid-19-Verläufe hat. Pääbo und Team gaben Mitte 2020 bekannt, dass das Risiko größer ist und im Februar darauf, dass das Erbgut ein schweres Verlaufsrisiko senkt. (Verfolgen Sie den Verlauf dieser Erkenntnisse: Erstens, zweitens, drittens.) Beides ist richtig und zeigt die Komplexität der Geneinflüsse. "Es ist auffällig, dass zwei von den Neandertalern vererbte genetische Varianten die Covid-19-Verläufe in entgegengesetzter Richtung beeinflussen. Offensichtlich beeinflusst ihr Immunsystem uns heute sowohl in positiver als auch in negativer Weise", sagte Pääbo damals.
Und noch eine Menschen-Art!
Bereits 2010 schaffte es Pääbo zusammen mit weiteren Forschenden nicht nur unseren wissenschaftlichen Horizont zu erweitern, sondern den der Menschheitsgeschichte, indem im zentralasiatischen Altai-Gebirge eine völlige neue, parallel zum Homo sapiens und Neandertaler existierende Menschenart nachgewiesen wurde: der Denisova-Mensch. 2018 wurde klar, dass sich auch diese "neue" Art mit den Neandertalern vermischt hat, als die Gene eines Kindes von einer Neandertalerin und eines Denisovas sequenziert wurden.
Oder anders gesagt: Diese beiden Versionen Mensch sind offenbar regelrecht übereinander hergefallen. "Es ist schon beeindruckend, dass sich unter den wenigen Genomen früher Menschen, die wir bis jetzt sequenziert haben, dieses Neandertaler-Denisovaner-Kind befindet", sagte Pääbo im Rahmen der Studie. "Neandertaler und Denisovaner hatten vielleicht nicht viele Gelegenheiten einander zu treffen. Aber wenn sie aufeinandergetroffen sind, müssen sie relativ häufig Kinder miteinander gezeugt haben – viel öfter, als wir bisher dachten."
Svante Pääbos Nobelpreis führt nicht etwa dazu, dass man am MPI EVA jetzt alle Viere grade sein lässt: Erst neulich veröffentlichte das Insitut Erkenntnisse zum Familien- und Gemeinschaftsgefüge und den Neandertalerschen Sozialstrukturen, zumindest was jene in Sibirien betrifft. Fest steht: In ihrer 90.000-jährigen Geschichte hat diese Art Mensch sicher noch das eine oder andere Geheimnis parat, das sie uns über ihr Erbgut mitzuteilen gedenkt. Und wir bekommen die eine oder andere Gelegenheit zu überlegen, was das für unser modernes Leben bedeuten könnte.
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