Kommentar Billiger Populismus als CDU-Strategie beim Bürgergeld

10. November 2022, 14:14 Uhr

Geringverdienende gegen Arbeitslose auszuspielen ist schon in Zeiten ohne Krisen unterirdisch. Jetzt, wo Inflation und Energiepreise die Existenzängste insbesondere in diesen beiden Gruppen zusätzlich befeuern, ist die Agenda der CDU jedoch besonders unredlich. Der Vorschlag der Christdemokraten, jetzt dringend notwendige Reformen durch eine simple Anhebung der Regelsätze auszubremsen, ist eine Strategie, die nicht aufgehen darf.

Torben Lehning
Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler

Vor Kameras zeigt sich der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz gerade gerne jovial. Im Interview mit den ARD-Tagesthemen am Sonntag schlägt Merz einen Kompromiss vor. Es müsse zu keiner Blockade des Bürgergelds durch die Union im Bundesrat kommen, sagt Merz. Seine Fraktion würde sich dazu bereit erklären, noch in dieser Woche mit der Regierungskoalition gemeinsam eine Hartz-lV-Regelsatzerhöhung von 50 Euro zu beschließen. In Sachen Bürgergeldreform wolle die Union aber doch lieber noch einmal nachverhandeln, erklärt der CDU-Chef einen Tag später auch bei MDR AKTUELL.

Das Bild vom faulen Arbeitslosen

Für Merz geht es um die Frage, ob "derjenige, der in unserem Land arbeitet mehr verdienen soll, als derjenige, der nicht arbeitet und Transferleistungen erhält". Es wirkt ein bisschen so, als wäre die CDU nach der verlorenen Bundestagswahl auf der Suche nach ihrem Markenkern in eine Zeitkapsel gestiegen. Das Bild vom faulen Arbeitslosen, der glücklich – dank üppiger Alimentierung – der steuerzahlenden Bevölkerung auf der Tasche liegt, bedient jahrzehntealte Klischees. Trotzdem kommen diese jetzt erneut zur Aufführung.

Erst am vergangenen Wochenende erklärte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, dass Alleinverdienende mit einem Bruttolohn von 2.500 Euro nach Inkrafttreten des Bürgergelds weniger verdienen würden als Arbeitslose. Die CSU setzt einen drauf und liefert mit ihrer "Leistung muss sich lohnen"-Kampagne Rechenbeispiele, die genau das belegen sollen.

Die CDU und die Fakten

Sowohl der sächsische Ministerpräsident als auch der Parteivorsitzende der CDU wissen, dass sie mit derlei Behauptungen gezielte Desinformation verbreiten. So schwindelt die CDU, wenn sie sagt, dass Arbeitslose Miete und Energiekosten vom Staat übernommen bekämen. Tatsächlich bekommen Arbeitslose ihre Wohn- und Heizkosten nur in einem "angemessenen Rahmen bezahlt". Was die Heizkosten angeht, soll das auch mit dem neuen Bürgergeld so bleiben. Stromrechnungen hingegen müssen arbeitslose Menschen auch weiterhin von ihren Regelsätzen bezahlen.

Weiter unterschlägt die Union zusätzliche Leistungen für Geringverdienende. Sie erhalten vom Freibetrag, über Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld mehrere Hundert Euro vom Staat, die Arbeitslosen verwehrt bleiben. Zudem vergrößert auch der im Oktober an den Start gegangene Mindestlohn von zwölf Euro die Unterschiede zwischen den Kontoständen von Arbeitslosen und all jenen, die ein festes Gehalt haben. Ein Mindestlohn, den die CDU kaum überraschend ebenfalls ablehnte.

Missbrauch staatlicher Fürsorge?

Auch wenn Sozialverbände und Journalistinnen und Journalisten die von der Union veröffentlichten Zahlen vielfach widerlegt haben, bleiben die Christdemokraten bei ihrer Mär vom Sozialstaat, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestraft. Man muss das nicht als dreiste Lüge bezeichnen – schließlich lassen die Rechenkünstler der Union lediglich Informationen weg. Billiger Populismus ist es aber allemal.

Weiter kritisiert die Union, dass ein Schonvermögen von 60.000 Euro für eine Einzelperson in den ersten zwei Jahren und der Wegfall einer Angemessenheitsprüfung für Wohnraum einem Missbrauch von staatlicher Fürsorge Tür und Tor öffne. Beides sind Instrumente, die schon in der Corona-Pandemie Gültigkeit erfuhren, weil man Selbstständige, die kurzfristig arbeitslos wurden, nicht aus ihren Wohnungen treiben oder dazu zwingen wollte, ihr Firmenkapital zu verpulvern. Interessanterweise stimmte die CDU diesen Instrumenten im Bundestag zu. Aber damals war sie ja auch noch nicht in der Opposition.

Eine Frage des Menschenbilds

Die Hauptkritik der Union entzündet sich an einem anderen Punkt. SPD, Grüne und FDP wollen die Sanktionsmöglichkeiten des Staates beschneiden und Arbeitslosen mehr Spielraum bei der Arbeitssuche und Weiterbildung ermöglichen. Der Plan, ein System der Leistungskürzungen, Angst und Repression für Arbeitssuchende zu beenden, ist offenbar nicht mit dem Weltbild der Union vereinbar.

Arbeitslose – für die Union sind das nicht etwa Leute, die Pech hatten, deren Stellen gekürzt oder die mit über 50 Jahren gekündigt wurden, die alleinerziehend sind, psychisch oder körperlich krank sind. Nein, für die Union sind arbeitslose Menschen faule Bittsteller, wenn sie nicht augenblicklich jeden Job annehmen, den man ihnen anbietet. Wer in einem Land mit Fachkräftemangel nicht für die Gemeinschaft einzahlt, soll unter Androhung der Kürzung seines Existenzminimums versuchen, über die Runden zu kommen. Das ist keine Zuspitzung des Autors, sondern genau das, was Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst meint, wenn er sagt, dass es sich bewährt habe, "wenn Menschen sich ein Stück weit anstrengen müssen, wenn sie Sozialleistungen bekommen".

Der faule Kompromiss

Die Fraktionen der Regierungskoalition dürfen jetzt nicht der Versuchung erliegen und auf den faulen Kompromiss der CDU eingehen. Nun schnelle Regelsatzerhöhungen zum Jahreswechsel zu beschließen, ohne das System zu reformieren, würde erneut Stillstand bedeuten und viele Ungerechtigkeiten aufrechterhalten.

Lässt die Regierungskoalition sich nicht auf den Kompromiss ein, wird es die Union wohl darauf ankommen lassen und ihre Blockade im Bundesrat durchziehen. Die notwendigen Reformen einschließlich der Regelsatzerhöhungen wird das verzögern. Doch besser später als nie. Außerdem bleibt zu hoffen, dass die Menschen, die von dem Reformstau betroffen sein werden, auch erkennen, wem sie diesen zu verdanken haben.

Sich als Schutzpatron der arbeitenden Bevölkerung aufzuspielen und dabei populistische Stimmungsmache gegen all jene zu betreiben, die gerade am härtesten von den Krisen betroffen sind, ist in jedem Falle scheinheilig und unsozial.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 07. November 2022 | 09:00 Uhr

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