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Zukunftsvision: Die "Rail Baltica" soll die baltischen Staaten mit dem europäischen Schienennetz verbinden. Bildrechte: Rail Baltica/MDR

EU-OsterweiterungBahnlinie Rail Baltica – Vom Jahrhundertprojekt zur Schmalspurvariante?

02. Mai 2024, 21:02 Uhr

Eine Bahnlinie, die die Emanzipation von Moskau endgültig besiegeln und das Baltikum mit dem Rest der EU verbinden würde – davon träumen die drei baltischen Staaten schon lange. 2010 wurde die "Rail Baltica" mit großen Ambitionen begonnen, doch heute herrscht Ernüchterung. Die Kosten explodieren, die Baufortschritte lassen zu wünschen übrig. Dabei ist aus dem zivilen Infrastrukturprojekt längst eines geworden, das von großer militärischer Bedeutung ist.

"Leute, ihr solltet das besser nicht filmen. (…) Das ist unser berüchtigter zehntausendseitiger Vertrag", sagt Einars Jaunzems und scrollt etwas verlegen in einem Dokument auf seinem Notebook herum. "Aber wir würden es gerne filmen", entgegnet Filmemacher Karlis Lesińš, "weil… es zeigt die Komplexität des Projektes". Am Ende darf gedreht werden.

Jaunzems ist der lettische Koordinator bei der "Rail Baltica", dem größten Eisenbahnprojekt in der Geschichte der baltischen Staaten. Ein multinationales, milliardenschweres Projekt, vom dem die ehemaligen Sowjetrepubliken des Baltikums seit ihrer Unabhängigkeit träumen. Ein Projekt mit Symbolkraft. Denn nach dem EU- und NATO-Beitritt von Estland, Lettland und Litauen 2004 ermöglicht die "Rail Baltica" endlich auch die Emanzipation von Moskau auf den Schienen.

Schnelle Züge von Berlin bis Helsinki möglich

Die Hochgeschwindigkeitsstrecke wird seit 2010 geplant und soll zweigleisig und vollständig elektrifiziert die 870 Kilometer lange Strecke von Tallin in Estland über Riga in Lettland und Vilnius in Litauen bis nach Warschau führen. Das würde die Fahrzeiten zwischen den Hauptstädten des Baltikums deutlich verkürzen: Die rund 600 Kilometer zwischen Talinn und Vilnius etwa könnte man in knapp drei Stunden und 40 Minuten zurücklegen. Heute braucht man mit dem Auto fast acht Stunden, einen durchgehenden Zug gibt es nicht. Und: Europa hätte damit endlich ein einheitliches Schienennetz, das Baltikum wäre integrierter denn je und schnelle Züge von Paris oder Berlin bis nach Helsinki würden Wirklichkeit werden. Denn bisher fahren die Züge im Baltikum auf sowjetischen Schienen, die eine größere Spurbreite haben. Heißt: An der polnischen Grenze müssen Waggons für Güter und Personen aufwändig umgesetzt werden, bevor sie weiterfahren können.

Mit dem Zug von Warschau nach Helsinki: Die Trassenführung der "Rail Baltica". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Während in Deutschland und weiten Teilen Europas kaum jemand von "Rail Baltica" gehört hat, sorgt sie im Baltikum für Emotionen: "So etwas hat es in der Geschichte unserer Region noch nicht gegeben", erklärt Karlis Lesińš, "das war ein Grund, warum ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf richten wollte." Der Filmemacher aus Riga begleitet das Projekt seit 2018 und reist durchs ganze Baltikum – um Baustellen in Augenschein zu nehmen, um Interviews und Recherchen durchzuführen.

Das "Jahrhundertprojekt" wird zum Zankapfel

Bereits 2014 gründeten Estland, Lettland und Litauen das staatliche Gemeinschaftsunternehmen "RB Rail AS", um das sogenannte "Jahrhundertprojekt", dessen Kosten auf 5,8 Milliarden Euro veranschlagt wurden, gemeinsam umzusetzen. Das zehntausendseitige Vertragsdokument, das Lesińš kurz zu sehen bekam, offenbart nicht nur die Größenordnung der "Rail Baltica", sondern gibt auch einen Hinweis auf die langwierigen Verhandlungen, oder anders formuliert: auf ein ziemliches Gerangel um Geld, Kompetenzen und verschiedene Interessen der drei Staaten – zum Unmut Brüssels, das den Bau zu 85 Prozent finanziert und immer wieder anmahnt, dass alle an einem Strang ziehen und das große Ganze sehen mögen.

Drei Staaten, viele Interessen, noch mehr Streitigkeiten: Der Bau der "Rail Baltica" geht nur langsam voran. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Doch auch nachdem die Vereinbarung von allen drei Parlamenten ratifiziert wurde, scheinen die Interessen unversöhnlich zu bleiben. Die erste, die unter diesem Druck das Handtuch warf, ist Baiba Rubesa. 2015 wurde die Lettin Geschäftsführerin und Vorstandsvorsitzende der "RB Rail AS", 2018 gab sie auf: "Nach diesen drei Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich hauptsächlich gegen Windmühlen kämpfe. Und zwar schmutzige Windmühlen – in Estland, Lettland und Litauen." Im Interview mit Karlis Lesińš macht Rubesa damals ihrem Ärger Luft: "Litauen wollte vom ersten Tag an kein gemeinsames Projekt. Aber dass sie so böse sein würden (…), hätte ich nicht erwartet. Die Litauer sind echte Schurken." Die Aussage verunsichert selbst den erfahrenen Filmemacher. "Ach die wissen, dass ich so denke", winkt Rubesa ab, "das ist kein Geheimnis."

Auch nach Rubesas Rücktritt scheinen die Streitigkeiten bei der "RB Rail AS" nicht enden zu wollen: Rubesas Nachfolger blieb nur zwölf Monate lang im Amt und dessen Nachfolger räumte erst vergangenes Jahr seinen Posten. "Dieses Projekt", fasst Karlis Lesińš heute zusammen, "war von Anfang an ständig von Problemen begleitet: finanzielle Probleme, Planungsprobleme, Probleme mit der Termineinhaltung und all diese politischen Auseinandersetzungen."

Der Baufortschritt stagniert, die Kosten explodieren

Ursprünglich sollten die Züge 2026 auf der "Rail Baltica" ins Rollen kommen. Inzwischen wird 2030 anvisiert. Und die Kosten explodieren. Das lettische Fernsehen berichtete im September 2023, dass der Bau allein in Lettland acht Milliarden Euro verschlingen könnte. Bemerkenswert angesichts der ursprünglich geplanten 5,8 Milliarden Euro für alle drei baltischen Staaten zusammen. Auf der offiziellen RB-Rail-Website wird diese Summe bis heute so angegeben.

Ursprünglich sollten auf den neuen Schienen 2026 die ersten Züge rollen, derzeit rollen aber nur die Baufahrzeuge - und das langsam. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Spätestens seit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine schauen auch die NATO-Verbündeten beunruhigt auf das zähe Vorankommen des Projektes. Die neue Bahnstrecke würde den Transport von Truppen und Militärgerät ins Baltikum enorm erleichtern und wäre für die NATO von großem Vorteil. Kein Wunder, dass Moskau scheinbar versucht, den Bahnbau zu sabotieren. Auch diesen Spuren geht Karlis Lesińš nach: "Seit wann spionieren Sie für den russischen Geheimdienst?", konfrontiert er Valentins Frolovs gerade heraus. Der Mann wurde wegen Spionage angeklagt und soll mutmaßlich im Auftrag Russlands Informationen über die "Rail Baltica" gesammelt haben.

Das ursprünglich zivile Projekt hat nun auch militärische Bedeutung

Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, aber seit 2022 macht die "Rail Baltica" wirklich gewaltige Fortschritte. "Das, was im Moment vielleicht geholfen hat, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine", so Karlis Lesińš, "ist die Tatsache, dass man sich nicht mehr scheut zu sagen, dass das Rail-Baltica-Projekt auch ein militärisches Projekt ist (…). Folglich gibt es jetzt eine größere Möglichkeit, Mittel für die militärische Mobilität zu erhalten, die vielleicht einen Teil der fehlenden zivilen Mittel ersetzen können."

Die "Rail Baltica" soll in Zukunft auch für den Transport von Truppen und militärischem Gerät genutzt werden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zwar fließen inzwischen zusätzliche Millionenbeiträge zur Förderung der Militärmobilität in das Rail-Baltica-Projekt, doch dass sie die riesigen Finanzierungslücken ausgleichen können, ist zu bezweifeln: Erst im März hat Lettlands Verkehrsminister erklärt, dass seinem Land drei Milliarden Euro fehlten und dass die Anbindung des Rigaer Hauptbahnhofs bis 2030 nicht realisiert werden könne. In Estland wurden Ende vergangenen Jahres gar Überlegungen laut, dass eine der zwei geplanten, parallel verlaufenden Schienen-Trassen für den Bahnbetrieb ab 2030 ausreichen würde und die andere dann ab 2040 gebaut werden könne. Aber es gibt auch gute Nachrichten: So entstehen immer mehr neue Baustellen, und Litauen hat Mitte April bekräftigt, dass es seine Schienen bereits 2028 mit Polen verbinden möchte.

Ohne Zweifel wird die für 2030 geplante Inbetriebnahme inzwischen von allen drei Staaten ernst genommen. Die Frage ist mittlerweile wohl eher, mit welcher abgespeckten "Schmalspurvariante" bis dahin zu rechnen ist. Karlis Lesińš bleibt aber zuversichtlich: "Ich glaube nach wie vor, dass es eine große Chance für unsere Region ist und Auswirkungen auf die gesamte EU hat." Für ihn ist die "Rail Baltica" ein "Symbol dafür, dass wir als Europäische Union nahe beieinander sind (…) und uns frei und schnell bewegen können."

Filmemacher Karlis Lesińš unterwegs auf den Spuren der "Rail Baltica". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK


Mehr über die "Rail Baltica", ihre Bedeutung und Herausforderungen erfahren Sie in der Dokumentation von Karlis Lesińš und Dietrich Duppel: "Rail Baltica – Ein Zug für Europa", in der ARD/MDR-Mediathek.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Rail Baltica - Ein Zug für Europa | 28. April 2024 | 23:05 Uhr