Das Altpapier am 08. Januar 2018 Vereint in Betroffenheit?

Der neue ARD-Vorsitzende hält einen ARD-Sender für nicht besonders unverzichtbar. Unklar ist, wer bei Twitter löscht. Das NetzDG vereint bereits die gesamte Bundestags-Opposition. Stärkt es immerhin die Medienkompetenz? Und sind wir noch Charlie, oder ist die Frage rhetorisch? Außerdem: das neue ZDF-Ereignis (in dem nicht Devid Striesow den Graf von Lauterbach, aber Heiner Lauterbach den Graf von Striesow spielt). Ein Altpapier von Christian Bartels.

"Wilhelminismus" wurde die Epoche, die in der ARD angebrochen ist, vergangene Woche hier genannt. Schließlich ist der Bayerische Rundfunks-Intendant Ulrich Wilhelm nun ARD-Vorsitzender, und

"der Vorsitz ist ... ein faszinierendes Amt, weil sich der öffentliche Raum derzeit so grundlegend ändert",

wie Wilhelm auf der jüngsten Station seiner Antrittstournee, im Handelsblatt-Interview, sagt. Dieses Interview führte er daheim in München mit Hans-Peter Siebenhaar, dem "Wilhelministen" (René Martens), und Hans-Jürgen Jakobs, der beim Handelsblatt den vor allem klangvollen Titel "Senior Editor" trägt, aber früher ja auch mal die Medienseite der Süddeutschen gemacht hatte. Ganz gratis online gibt's das Interview nicht. Die Düsseldorfer Wirtschaftszeitung ist relativ versiert darin, Inhalte online zu verkaufen. Bei Blendle kostet es 35 Cent, das heißt pro berechnete Minute Lesezeit sieben Cent.

Wobei es das Interview natürlich, wie im deutschen Onlinejournalismus üblich, schon vielerorts zitiert wird. Allerdings haben Agenturen und Aggregatoren bloß die – bei harter Konkurrenz – allerunüberraschendste, jedoch klickträchtigste Wilhelm-Aussage aufgegriffen und, gerade noch sinngemäß, zu "ARD-Intendant Wilhelm will höhere Rundfunkgebühr ..." (Funkes Morgenpost), "ARD will höhere Rundfunkgebühren" (bild.de) oder "ARD-Chef Wilhelm will mehr Geld - oder weniger Programm" (SPON) verdichtet.

Es lohnt sich aber, Wilhelm im Original zu lesen. Dort lautet die Aussage:

"Heute ist der Rundfunk der einzige Teil öffentlicher Daseinsvorsorge, bei dem die Inflation nicht ausgeglichen wurde. Inflationsbereinigt zahlen die Menschen in Deutschland seit gut zehn Jahren nicht mehr Rundfunkbeitrag – und das bei einem größeren Angebot."

Und dass die ARD zur "Daseinsvorsorge" gehört, könnten viele Menschen, die noch linear fernsehen, aber vor allem um 20.15 Uhr einschalten, kaum noch bewusst gewesen sein ... Das implizite Entweder-Oder (im O-Ton: "Ganz ohne Inflationsausgleich müssten wir kräftig ins Programm schneiden – zulasten unseres Publikums, das sich zu Recht beschweren würde...") freilich könnte ein spannender Punkt werden. Wie viele Beschwerden es über etwas weniger als "20 TV-Programme und 69 Radiosender" der Öffentlich-Rechtlichen, von denen die Interviewer sprechen, tatsächlich gäbe, ist eine offene Frage. Jedenfalls deutet Wilhelm schon mal an, welches Fernsehprogramm er zur Disposition stellen wollen könnte:

"Wir sind bereit, Dinge zurückzubauen. Das gilt auch für unsere Beteiligungen und Tochterfirmen. Doch Nordrhein-Westfalen hat sich beispielsweise aus standortpolitischen Gründen geweigert, den ARD-Kanal 'Einsfestival' mit Sitz in Köln zu streichen. Seit 2016 heißt er 'One'."

Ein anderes Thema hält die dpa, die eines der ersten Wilhelm-Interviews des Jahres geführt hat, für vielversprechender, und hält daher mal wieder das Stöckchen in den Raum, dass die ARD ja auch am relativen Leuchtturm in der öffentlich-rechtlichen Krimiflut, am "Tatort" sparen könnte ...

Sinnvoller zu lesen ist freilich der kompakt-kompetente Überblick darüber, welche Entscheidungen die entscheidungsbefugten Bundesländer-Medienpolitiker in diesem Jahr überhaupt treffen dürften, den Kai-Hinrich Renner (u.a. für Funkes Morgenpost) verfasst hat. Dort wirft er, allerdings noch vorm Handelsblatt-Interview, Wilhelm vor, "die rundfunkpolitischen Diskussionen der letzten Jahre verschlafen" zu haben.

Und den guten Hinweis, dass "bei den deutschen Öffentlich-Rechtlichen ja fast eitel Sonnenschein" herrscht, zumindest im Vergleich mit dem deutschsprachigen Ausland, gibt taz-Medienredakteurin Anne Fromm im Rahmen ihrer 2018-Vorschau.

(Falls Sie dagegen interessieren sollte, welches Resümee die Protagonistin der vorwilhelminischen ARD-Epoche, sozusagen der karolingischen, zu ihrer Amtszeit zieht: Zu dem Zweck hat Promedia/ medienpolitik.net Karola Wille das Mikrofon gehalten ...)


"Freiheit des digitalen Geschnatters"

Jetzt twittern wieder, als wäre nichts geschehen: Beatrix von Storch und die Titanic. Und viel mehr ist ja in dieser Hinsicht auch gar nicht geschehen. Während die Titanic, außer Schabernack mit Dobrindt zu treiben, ihre aktuellen Printinhalte vertwittert – wer schreibt, muss sich schließlich auch irgendwie Leser besorgen! –, erhöhte die AfD-Politikerin gerade mit einem lieb Tränen lachenden Emoji die Reichweite der elektronischen "Tagesschau"-Presse:

"AfD und Titanic waren schon betroffen", heißt es bei tagesschau.de mit fast schon dem feinen Humor der alten Neuen Frankfurter Schule, den die neue Titanic ja eher mit Füßen tritt. "Nun fordern FDP und Grüne die Abschaffung des 'vermurksten Gesetztes' (sic!)". Und weil außer diesen beiden Parteien und der AfD sowieso überdies die Linke gegen das NetzDG ist (vgl. die heutige FAZ-Titelseite), gibt es sozusagen eine Querfront aller mutmaßlichen Oppositionsparteien gegen das Gesetz. Eine Abstimmung darüber könnte also spannend werden.

Andererseits kann etwas, das von so vielen unterschiedlichen Seiten attackiert wird, nicht ganz übel sein. Diese Ansicht, die etwa der am Freitag hier verhandelten Toralf-Staud-These folgt, vertritt ungefähr auch Rainer Stadler, der sich in der Neuen Zürcher Zeitung über die deutsche Aufregung der vergangenen Woche "verwundert":

"Der tatsächliche Schaden hält sich indessen in Grenzen, weil von Storchs Provokation sogleich von den Massenmedien vermeldet und bewertet wurde. Twitters Sperrung trug also – wie üblich in solchen Fällen – zur Multiplikation der Botschaft bei. Die Autorin erreichte ihr Ziel. Die Freiheit des digitalen Geschnatters liess sich nicht unterdrücken."

Stadler hält ebenfalls für fair, dass Facebook und Twitter "ebenso unter Zeitdruck entscheiden (müssen)", welche Beiträge sie sperren oder löschen, wie klassische Zeitungen und Portale entscheiden müssen, "welchen Leserbrief oder welchen Online-Kommentar eines Besuchers sie auf ihren Foren zulassen wollen – ohne vorher die Polizei zu fragen. Diese Entscheidungsfreiheit ist ihrerseits Teil der Meinungs- und Medienfreiheit".

Eine andere Frage lautet freilich, wer genau entscheidet. Facebook löscht in Deutschland mit leibhaftigen Hundertschaften, die es ganz selten sogar vorzeigt (Altpapier). Nach dem genauen Sitz der deutschen Twitter-Niederlassung freilich suchte Shahak Shapira im Sommer vergeblich (altes Altpapier).

Nun dreht Julia Krüger bei netzpolitik.org (nicht ohne von Storchs Tweet auch noch mal selbst zu bewerten und vermelden: "was für eine Phantasie die Dame hat!"), diese Frage weiter, und zwar mit Bezug auf Patrick Beuths neulich hier schon erwähnte "Anleitung für Hetzer" auf SPON:

"Beuth hat anschaulich beschrieben, wie man das Meldeverfahren publikumswirksam dazu einsetzt, eine Löschung von Tweets zu riskieren, die zur Politisierung einer Angelegenheit eingesetzt werden können. Allerdings geht er immer noch von Menschen aus, die gemeldete Inhalte prüfen. Was aber wäre, wenn da gar keine Menschen zum Einsatz kommen, sondern Algorithmen auf die Menge von Meldungen und Stichworte reagieren? Oder Algorithmen zumindest den Community-Teams Empfehlungen geben ..?"

Heißt: Beim einnahmeschwachen Twitter wird, zumal in deutscher Sprache, ohne teure menschliche Arbeitskraft gelöscht. Wie praktikabel eine deutsche "Ausdehnung der Grundrechte gegenüber Unternehmen", die Krüger dann vorschlägt, im weltweiten Netz und in der EU wäre, ist eine weitere, große Frage. Doch wenn das NetzDG zumindest das Wissen zu verbreiten hilft, dass Facebook, Twitter und Co, darunter Google, eben keine Daseinsvorsorge-artigen Infrastrukturen sind, die jedem Bürger grundsätzlich-grundgesetzlich offenstehen, sondern gewiefte Angebote, mit denen profitgetriebene Konzerne Daten abschöpfen, die sie anderweitig monetarisieren (bzw. im Falle Twitters: zu monetarisieren versuchen), erfüllt es immerhin einen guten Zweck. Wenn auch einen anderen als es anstrebte.

Dass etwa Twitter selbst daneben auch viele gute Zwecke erfüllt, zeigen im aktuellen Zusammenhang übrigens noch dieser Mariam-Lau-Tweet und die Diskussionssträngchen darunter ...


Redaktion mit "Panikraum" ("Sind wir eigentlich noch Charlie?")

Womöglich hätten Stéphane "Charb" Charbonnier, Jean Cabut, Bernard Verlhac, Philippe Honoré, Georges Wolinski, Bernard Maris, Mustapha Ourrad, Michel Renaud, Elsa Cayat und auch Franck Brinsolaro bloß ein bitteres Hohnlachen für die Problemchen übrig, die das deutsche NetzDG derzeit hierzulande bereitet. Vielleicht hätten sie auch eine andere Meinung. Bei den Genannten handelt es sich um die Charlie Hebdo-Mitarbeiter, die am Sonntag vor drei Jahren in Paris von Islamisten ermordet wurden.

Der am Freitag hier empfohlene FAZ-Artikel, in dem Jürg Altwegg "ziemlich resigniert" Bilanz zieht, steht inzwischen frei online. Ähnlich bitter schildert Tanja Kuchenbecker vom Tagesspiegel die Lage:

"Der Polizeischutz, der vorübergehend sein sollte, ist zum Alltag geworden. In der Redaktion gibt es sogar einen sogenannten 'Panikraum', in den die Journalisten im Falle eines Angriffs flüchten können. Auf Reportage zu gehen, ist fast unmöglich. 'Unter diesen Bedingungen agieren die Leute nicht wirklich natürlich. Oft müssen alle Behörden darüber informiert werden, dass Charlie auf Reportage ist', erzählt ein Redakteur."

Und weil es im Altpapier gar nicht vorkam, sollte vielleicht hier noch mal erwähnt werden, dass die (ohnehin wenig bekannt gewordene) deutsche Charlie-Hebdo-Ausgabe Ende vergangenen Jahres schon wieder eingestellt wurde (mit den Worten "Es fiel uns nicht leicht, Euch zu verstehen ...", vgl. horizont.net).

Der Kommentar, den Welt-Außenpolitikredakteur Klaus Geiger dazu schrieb (und überflüssigerweise, aber multimedial, ähnlich fürs Video einsprach) ragt nicht besonders heraus. Er enthältlich eigentlich bloß Selbstverständlichkeiten. Doch die Einstiegs-Frage "Sind wir eigentlich noch Charlie?" ist, so rhetorisch sie klingt, eine ziemlich gute.

Dass auch die Meinungsfreiheit der Andersdenkenden weitestgehend verteidigt gehört, bis an die Grenze, an denen – von welchen Seiten auch immer – Gewalt angedroht oder verübt wird, scheint in Deutschland wieder ziemlich vergessen zu sein.


Altpapierkorb ("Tannbach", Youtubes Kinderprogramm, "kognitiver Kapitalismus", abgeschaltetes UKW)

+++ Krimi-Fans aufgepasst! Heute um 20.15 Uhr zeigt das ZDF mal keinen, sondern startet die Fortsetzung eines zeithistorischen Fernsehereignisses. Richtig begeistert sind die Kritiker nicht, aber angesichts der "ganzen Erzählwut des 'Tannbach'-Spektakels" kommen sie selbst ins schönste Erzählen. So Nikolaus von Festenberg im Tagesspiegel: "... Anna Loos als ein ehrliches Mädchen Rosemarie aus den Hinterhöfen Berlins bringt frischen Wind in die 'Tannbach'-Tristesse. Endlich mal keine bleierne Heimchenfrau vom Dorf ... Sie heiratet den vor Kummer und Harm zerknitternden Grafen Striesow (Heiner Lauterbach) ...". +++ "Es ist ebendieser unbedingte Wille zum Staatstragenden, der 'Tannbach' zwar vielleicht zu forderndem Fernsehen macht, aber nicht zu mitreißendem", schreibt David Denk auf der SZ-Medienseite, nicht ohne ins Norbert- Himmler-Vorwort im Presseheft und ins Internet-Bonusmaterial ("Dieser freundliche Service wäre freilich nicht nötig gewesen, wenn man sich dazu durchgerungen hätte, die Geschichte stärker zu fokussieren") geschaut zu haben. +++ Ein DVD-Edition-fähiges Blurb spendiert immerhin Heike Hupertz in der FAZ ("Diesen Dreiteiler, so viel ist schon jetzt sicher, wird man am Ende des gerade begonnen Jahres zu dessen herausragenden Fernsehereignissen zählen"). +++

+++ Einen lesens- und sehenswerten, allerdings vorerst nur teilweise frei online verfügbaren Überblick über "das Unterhaltungsangebot für Drei- bis Zwölfjährige" auf Youtube, bei dem es nicht um Kaufanreize geht, gibt bei uebermedien.de Lukas Heinser (der hier nebenan selbst fröhliche Videoinhalte gestaltet). +++

+++ Frische Begriffe, die sich zur Google-, Facebook- und Co-Kritik eignen, zum Beispiel "Algokratie", "kognitiver Kapitalismus" ("'Google-Knowing' nennt [Michael Patrick] Lynch dieses Halbwissen, bei dem Nutzer Informationen nicht mehr auf ihre Herkunft überprüfen, sondern Suchmaschinentreffer für bare Münze nehmen. Der Konzern hat damit dem postfaktischen Zeitgeist den Boden bereitet") und "monopolists of mind" bietet Adrian Lobe im Rahmen einer US-amerikanischen Medienschau im SZ-Feuilleton. +++ Ein Aspekt, der dabei zu kurz kommt: die "Privatisierung wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns". Darauf macht Christian Stöcker in seiner SPON-Kolumne aufmerksam.

+++ Fundiertes zur Chips-Krise schreibt Constanze Kurz im FAZ-Feuilleton (derzeit nicht frei online): "Der Prozessorhersteller Intel behandelte die Katastrophe im Wesentlichen als PR-Problem. Nachdem der Intel-Chef rechtzeitig noch alle Aktien abgestoßen hatte, die er verkaufen durfte, litt das öffentliche Ansehen des Prozessor-Platzhirschs dann auch deutlich. Doch wo wendet sich die deutsche Öffentlichkeit hin, wenn sie verlässliche Fakten und Hinweise zur Abhilfe sucht? Es böte sich das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) an, das die Fachleute hat, um eine fundierte Einschätzung abzugeben. Doch statt sinnvolle Hinweise zu geben, setzte sich das deutsche BSI die Krone der bizarren Reaktionen auf: Neben den üblichen Gemeinplätzen (immer schön patchen!) tat die IT-Sicherheitsbehörde so, als wenn sie schon lange auf das Problem hingewiesen hätte. ..." Dabei habe das BSI "seit vielen Jahren den Holzweg erforscht". +++

+++ Hans Hoff ist alt genug, um sich zu "erinnern, dass das mit dem Fernsehen einst als Kunst galt." Von daher ärgert er sich über die Schlampigkeit, mit der inzwischen in pseudoauthentischen Zusammenhängen Ansteckmikrofone zu sehen sind ("Oder trägt man das jetzt so? Legt man morgens nach dem Aufstehen ein Funkmikrofon an?", dwdl.de).

+++ Norwegen ist medienpolitischer Pionier beim Digitalradio-Standard DAB+. Im Dezember wurde daher der analoge Standard, also UKW, abgeschaltet. Dass damit keineswegs alle Norweger zufrieden sind, schreibt Silke Bigalke auf der SZ-Medienseite. +++

+++ Und dass nach der fulminanten Wiederkehr der Schallplatte noch ein weiteres analoges Speichermedium eine Renaissance erlebt, hat der Standard dem "Jahresbericht zur Musikbranche von Nielsen Media Research" entnommen: "Das Jahr 2017 hat einen deutlichen Schub bei verkauften Audiokassetten gebracht." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.