Das Altpapier am 22. Januar 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 4 min
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Kolumne: Das Altpapier am 22. Januar 2024 von René Martens Es ist fünf nach eins

Kolumne: Das Altpapier am 22. Januar 2024 – Es ist fünf nach eins

Caren Miosga stellt fast keine kritische Frage zum CDU-Programmentwurf. Die Macher des "Berichts aus Berlin" sind nicht lernfähig. Das einflussreichste Musikmagazin des 21. Jahrhunderts ist tot.

Di 23.01.2024 13:37Uhr 03:52 min

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Kolumne: Das Altpapier am 22. Januar 2024 Es ist fünf nach eins

22. Januar 2024, 13:10 Uhr

Caren Miosga stellt fast keine kritische Frage zum CDU-Programmentwurf. Die Macher des "Berichts aus Berlin" sind nicht lernfähig. Das einflussreichste Musikmagazin des 21. Jahrhunderts ist tot. Der Zukunftsrat hat keine digitalen Ideen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Weiche Fragen

Am Freitag hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen eine Pressemitteilung veröffentlicht, in dem er darauf hinweist, dass die "Tragweite" des vor eineinhalb Monaten veröffentlichten CDU-Parteiprogrammentwurfs "noch nirgends richtig angekommen" bzw. der "öffentliche Aufschrei bislang ausgeblieben" sei.

Das bezog sich in erster Linie auf folgende Passage:

"Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren."

Natürlich haben Medien dies zitiert, aber von einer angemessenen Einordnung dieser irrwitzigen und monströsen Idee kann bisher kaum die Rede sein, jedenfalls deckt sich mein Eindruck mit dem des Flüchtlingsrats. Als ich dessen Pressemitteilung las, dachte ich noch: Dann bin ich mal gespannt auf Caren Miosga, da ist Friedrich Merz ja der einzige Gast aus dem Politikgewerbe. Tja, Pustekuchen.

Überhaupt habe Miosga "fast keine einzige kritische Frage" zum neuen Grundsatzprogrammentwurf gestellt, kritisiert Christian Buß in seiner Premieren-Rezension für den "Spiegel".

"Stattdessen durfte Merz verbale Werbebanner für den neuen Konservatismus, den er mit seinem Team erfunden zu haben meint, im Studio ausrollen."

Am Ende wird Buß dann aber versöhnlich:

"Man darf sich auf die zweite Ausgabe freuen. Dann einfach am Anfang das Kamingeplauder weglassen."

Bei Nele Pollatschek ("Süddeutsche") ist der Tenor ähnlich:

"Auch wenn die Fragen mitunter so weich waren, dass sogar ein Friedrich Merz, der ja nicht unbedingt für seinen überbordenden Charme bekannt ist, als haushoher Gewinner vom Platz gehen kann (weshalb Miosga sich wohl in näherer Zukunft über hochkarätige Gäste freuen darf). Das Format der Sendung - wenige Gäste, verhältnismäßig viel Zeit, die man nur selbstbewusster auskosten müsste - ist eigentlich gut."

Ich will ja niemandem die Freude auf die nächste Miosga-Show nehmen, sondern auf das Kernproblem der ersten Sendung hinweisen: Hinter uns liegt eine Woche einer historisch mindestens außergewöhnlichen Mobilisierung der Zivilgesellschaft, und für jemanden, der gerade eine neue Polit-Talkshow startet, kann es ja gar keine besseren Zeiten geben als die gegenwärtigen. Statt die Massendemonstrationen und deren Bedeutung zum alleinigen Thema zu machen, entschied sich Miosga aber für "Merz richtet die CDU neu aus. Wird Deutschlands Zukunft konservativ?" und klebte das Thema aller Themen eher notdürftig kurz an den Anfang der Sendung.

Stattdessen Tinnef à la: Hat Angela Merkel Bock auf einen Festakt zu ihrem 70. Geburtstag? Kommt Merz bei Frauen nicht gut an oder stimmt das gar nicht? Die Sendung wirkte komplett aus der Zeit und aus der Welt gefallen.

Ich hasse eigentlich Fußball-Metaphorik, aber: Der Weltgeist hat Caren Miosga einen Elfmeter ohne gegnerischen Torwart zugesprochen, und statt den Ball ins leere Tor zu schieben, jagte sie ihn in den Himmel wie weiland Uli Hoeneß in Belgrad.

Wir hätten von Wallonien lernen können

Im aktuellen "Holger ruft an"-Podcast von "Übermedien" geht es - natürlich - um die Correctiv-Recherchen, und Moderator Holger Klein sagt im Gespräch mit der stellvertretenden Correctiv-Chefredakteurin Anette Dowideit (ab ca. 18:10), er beobachte nicht nur eine "Mobilisierung der Zivilgesellschaft", sondern:

"Es scheint mir auch eine Mobilisierung des Journalismus zu geben. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass der deutsche politische Journalismus einen etwas angemesseneren Umgang mit der AfD findet. Täuscht das gerade? Ist da der Wunsch Vater des Gedankens oder passiert tatsächlich gerade was?"

Dowideit sagt, das könne sie nicht beantworten. Sie sagt auch:

"Das ist eine gute Frage."

Ich versuche mal, mich einer Antwort anzunähern, würde vorher aber noch die Frage dahingehend erweitern wollen, dass es nicht nur auf einen angemesseneren Umgang mit der AfD ankommt, sondern auch auf einen angemesseneren Umgang mit Positionen, die die AfD über die eigene Partei hinaus durchgesetzt hat.

Beginnen wir bei einer Annäherung mal mit Helge Matthiesen, dem Chefredakteur des Bonner "General-Anzeigers". In einem Kommentar unter der Überschrift "Es geht um alles" schreibt er:

"Viele Menschen und viele Organisationen unterstützen den Protest gegen die Menschenverachtung. Es müssen mehr werden."

So etwas wäre vor dem 10. Januar im "General-Anzeiger" oder einer vergleichbaren Regionalzeitung in der Tat nicht möglich gewesen, insofern liegt Holger Klein mit der oben zitierten Beobachtung richtig.

Wie verhält es sich nun mit der Berichterstattung über AfD-Positionen jenseits der AfD? Bereits am vorvergangenen Wochenende, wenige Tage nach Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen, hatte Patrick Bahners in der FAZ geschrieben:

"In der Sache gehen die Punkte in (Martin) Sellners Konzept, die Correctiv referiert, an vielen Stellen nur ein oder zwei Schritte über die migrationspolitischen Planspiele der Ampelkoalition und der Unionsparteien hinaus. Ein 'Musterstaat' in Afrika – das ist erst einmal nur die konsequentere Variante des Projekts der Stabilisierung Libyens oder der Ruanda-Pläne von Rishi Sunak und Jens Spahn."

Ähnlich, aber einen Tick schärfer formuliert es Leo Fischer in der aktuellen Wochenendausgabe des ND:

"Wie passt es zusammen, dass eine Grünen-Fraktion, die den 'Asylkompromiss' mit routiniert simulierten Bauchschmerzen passieren ließ, voller Sorge den gesellschaftlichen Zusammenhalt anmahnt? Die Potsdamer Deportationspläne spiegeln doch bloß ihre eigene Politik, konsequent zu Ende gedacht."

Zu "einem 'weicheren' Kurs in der Geflüchtetenfrage" könnten SPD und Grüne aber "nicht zurück. Somit wird man die AfD weiter rhetorisch verurteilen – während man ihr Programm faktisch ausführt".

Ich finde, dass sowohl Matthiesen als auch Bahners und Fischer Recht haben. Die angemessene Synthese wäre: dem Publikum Aufbruchstimmung vermitteln, ihm aber keine Illusionen machen.

Zum Thema medialer Umgang mit Rechtsextremisten ist bereits vor fast drei Wochen im Magazin "Good Impact" (hervorgegangen aus der namentlich möglicherweise etwas bekannteren Zeitschrift "Enorm" und bei mir bisher nicht auf dem Radar) ein instruktiver Artikel erschienen. Miriam Petzold schreibt hier:

"Der damalige AfD-Parteivorsitzende Alexander Gauland sagte 2018 in einem FAZ-Interview, dass AfDler:innen 'in der Tat versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten'. Ein Blick ins Ausland zeigt: Es geht auch anders. Medienschaffende können sich durchaus als Hüter:innen dieser Grenzen verstehen – und den Rechtsruck damit verhindern. Untersucht hat das die Politikwissenschaftlerin Léonie de Jonge in ihrem 2021 veröffentlichten Buch 'The Success and Failure of Right-Wing Populist Parties in the Benelux Countries'. Dass es Rechtspopulist:innen bislang nicht in die Parlamente Walloniens und Luxemburgs geschafft haben, in Flandern dagegen zweitstärkste und in den Niederlanden stärkste Kraft sind, liegt de Jonge zufolge nicht etwa daran, dass die Menschen dort finanziell abgesicherter, gebildeter oder weniger rassistisch wären".

Sondern:

"In Wallonien (…) haben schon in den 1990er-Jahren alle Rundfunkanstalten einen Pakt geschlossen, den "cordon sanitaire médiatique": Menschen, die rassistischen, demokratiefeindlichen Gruppen nahestehen, bekommen keine Plattform; Einladungen zu Live-Interviews und Talkshows sind tabu. Nach rechtlichen Streitigkeiten urteilte der Belgische Staatsrat 1999: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe das Recht, undemokratischen Parteien den Zugang zu verwehren (…) Das heißt nicht, dass wallonische Journalist:innen nie mit Rechtsextremen reden. Es heißt, dass sie nur dann zitiert werden, wenn die Zitate kontextualisiert werden und antidemokratische Inhalte als solche einordbar sind. Reden von rechtsradikalen Politiker:innen etwa werden nicht direkt übertragen, sondern von Reporter:innen zusammengefasst."

Tja, es hätte also alles so einfach und Deutschland ein noch einigermaßen erträgliches Land sein können, wenn "wir" von Wallonien gelernt hätten, aber nun ist es fünf nach eins, also vielleicht schon zu spät. Wer jedenfalls immer noch nichts gelernt hat: die Redaktion von "Bericht aus Berlin", die am Sonntag den AfD-Agitator Bernd Baumann in die Sendung holte.

Ärger noch: In der schriftlichen Interview-Zusammenfassung bei tagesschau.de wird nur wiedergegeben, was Baumann gesagt hat, ohne den Hauch einer Einordnung. Dummheit oder Vorsatz? Ja-ha, so machen wir das immer bei den schriftlichen Zusammenfassungen der "Bericht aus Berlin"-Interviews, werden die Verantwortlichen jetzt vielleicht sagen. Dazu ließe sich sagen: Stimmt, ihr macht es immer falsch, und es ist auch dann falsch, wenn der interviewte Politiker nicht von der AfD stammt.

Was die "Bericht aus Berlin"-Leute möglicherweise auch nicht gelesen haben: die aktuelle Ausgabe von Nils Minkmars Newsletter "Der siebte Tag". Unter dem Schlagwort "erfolgreicher Kampf gegen die radikale Rechte" heißt es dort unter anderem:

"Man darf es (…) getrost unterlassen, die Protagonistinnen und Protagonisten ins Fernsehen einzuladen, solange einen kein Gericht dazu verurteilt. Sie sind am Chaos interessiert, nicht an Lösungen oder Kompromissen. Sie lügen nach Herzenslust und verbergen ihre Absichten. In (…) den vielen Versuchen, mit Rechten zu reden, wurde die Dimension ihrer Deportationspläne nicht zutage gefördert. Leute wie Götz Kubitschek, Martin Sellner und Renaud Camus sind klassische Schreibtischtäter."

"Die Klaviatur des Rechtspopulistenbingos"

Dass die "radikale Rechte", um bei Minkmars Formulierung zu bleiben, überhaupt erfolgreich sein konnte, hat auch damit zu tun, dass Journalistinnen und Journalisten in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger die mindestens irreführenden Begriffe "irreguläre Migration" und "illegale Migration" verwendeten - oft genug sogar, ohne sie in Anführungszeichen zu setzen (siehe Altpapier-Jahresrückblick). In der ersten "journalist"-Ausgabe dieses Jahres geht Sebastian Pertsch in der Rubrik "Worte und Wörter" darauf ein.

Die Verlaufskurven des Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache zeigten, so Pertsch, "dass es einen drastischen Anstieg der beiden Formulierungen erst seit den 2010er-Jahren gab, beide also recht neu ihrer starken Verbreitung sind".

Zu diesem "stakkatoähnlichen Stück auf der Klaviatur des Rechtspopulistenbingos" schreibt er weiter:

"Demokratiefeinde nutzen (…) bewusst die manipulativen Wordings 'irreguläre Migration' oder noch schärfer 'illegale Migration'. Das Dilemma: Es geht dabei nur um eine Minderheit."

In seiner Erläuterung greift Pertsch auf das Glossar des Sachverständigenrats für Integration und Migration zurück. Im bereits erwähnten Jahresrückblick hatte ich das Gremium ebenfalls zitiert.

Wie man journalistisch angemessen mit dem Begriff "irreguläre Migration" umgeht, zeigt aktuell Josephine Schulz im Deutschlandfunk. In einem Interview mit dem SPD-Menschenrechtsfachmann Frank Schwabe, der dort Sätze wie "Wir wollen verhindern, das Menschen irregulär zu uns kommen" performt, fragt sie mehrmals nach, was er mit "irregulär" denn eigentlich meine. So ein Interview wäre, um jetzt noch mal einen ganz großen Bogen zu schlagen, vor dem 10. Januar vielleicht nicht möglich gewesen. Mit Dank an die Kollegin Gilda Sahebi für den Hinweis auf das Interview.

"Die Zerstörung des seriösen öffentlichen Nachdenkens und Kunst und Kultur"

Daraus, dass Condé Nast das Musikmagazin "Pitchfork" zu einem Teil seines Männermagazins "GQ" machen und damit de facto einstellt - darüber schreiben unter anderem die FAZ im Wirtschaftsteil und die FAS in der Rubrik "Die lieben Kollegen". Am ausführlichsten mit dem Thema beschäftigt sich im deutschsprachigen Raum Daniel Gerhardt bei Zeit Online. Er selbst teasert ihn bei Bluesky so an:

"Einerseits ist es mir fast peinlich, wie sehr mich das mitnimmt, andererseits sind die Implikationen so wichtig, dass es mich noch viel mehr beschäftigen sollte."

Das beschreibt auch ungefähr meine, tja, Gemütslage. In seinem Artikel schreibt Gerhardt:

"Pitchfork ist nun nicht nur ein weiterer toter Mitbewerber auf einem Nischenmarkt, sondern es war das zeitweise meistgelesene und sicherlich einflussreichste Musikmagazin der vergangenen 20 Jahre. An Musikjournalismus, der unabhängig vom Wohlwollen der Musikindustrie funktioniert, bleibt nun kaum mehr etwas übrig."

Angesichts des Endes von "Pitchfork", wie wir es kannten, drängt es sich allerdings auf, nicht "nur" über Musikjournalimus zu reden, sondern auch über die existenzielle Wichtigkeit von Kulturkritik an sich. Johannes Franzen vom Feuilleton-Magazin "54 books" tut dies in einem Thread bei Bluesky:

"Ich kann nicht verstehen, wie sich liberale Überflussgesellschaften bewusst dazu entscheiden, das seriöse öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur auf diese Art zu zerstören. Wenn die Entfinanzierung der Medien, wo geistreich und mit intellektuellem Anspruch über Bücher, Musik, Kunst, Serien, Film, Theater geschrieben wird, in diesem Tempo weitergeht, wird Kulturjournalismus in wenigen Jahren wieder ein reines Privileg einer Elite von Amateuren sein. Mit jedem kulturjournalistischen Medium, das kaputt gemacht wird, verschwindet auch eine soziale Infrastruktur des Austauschs."

Für den "Guardian" schreibt Laura Snapes, die selbst Pitchfork-Autorin ist/war:

"Die Einbindung von Pitchfork in ein Männermagazin zementiert auch die Wahrnehmung, dass Musik eine männliche Freizeitbeschäftigung ist, und untergräbt die Tatsache, dass es Frauen und nicht-binäre Autor*innen (...) waren, die die Website in den 2010er Jahren verändert haben. Es suggeriert auch, dass Musik nur eine weitere Facette eines Consumer Lifestyles ist und keine eigenständige Kunstform, die Nischengemeinschaften verbindet."

In einen noch größeren Medienkrisenkontext ordnet Ezra Klein das "Pitchfork"-Ende in der "New York Times" ein ("I Am Going to Miss Pitchfork, but That’s Only Half the Problem").

Hallo Zukunftsrat, wo bleibt das Digitale?

Die am Donnerstag vorgestellten Vorschläge "des Rates für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks", vulgo: Zukunftsrat (siehe Altpapier von Freitag), sind weiterhin ein Thema. Aurelie von Blazekovic konstatiert in der SZ-Wochenendausgabe:

"(Das) Papier sieht eine handfeste Umverteilung der Macht bei der ARD vor. Der Zukunftsrat fordert nicht, wie viele entweder erhofft oder befürchtet hatten, eine Einsparung oder Fusion einzelner Anstalten wie Radio Bremen oder Saarländischem Rundfunk. Er entwirft sogar eine neue Anstalt, die anstelle der bisherigen Arbeitsgemeinschaft eine leitende Dachfunktion übernehmen soll (…) Wenn das bedeutet, dass sich einzelne Sendungsmacher künftig nicht mehr gleich mit vier oder sechs Redaktionen im Senderverbund absprechen müssen, wäre das für die Kreativität im Programm begrüßenswert. In der neuen Dachanstalt könnte man sich zum Beispiel auch darum kümmern, dass nicht alle ARD-Sender Dokus zu denselben Themen in Auftrag geben, dass sich die Programme aber auch deutlicher von den privaten Sendern unterscheiden."

Im Ratsbericht selbst heißt es dazu:

"Die Landesrundfunkanstalten, von zentralem Abstimmungsaufwand befreit, können sich stärker auf ihre Aufgabe konzentrieren: die regionale Grundversorgung und regionale Perspektive."

Wäre das wirklich ein Fortschritt? Zentralisierungen auf der inhaltlichen Ebene bedeuten ja immer einen Verlust von Vielfalt. Meine erste Assoziation nach der Lektüre, wohlgemerkt: Assoziation, war: Wenn sich die ARD entwickelte wie der Regionalzeitungsmarkt nach der Einführung von Zentralredaktionen, wäre das nicht wünschenswert.

Leonhard Dobusch benennt in einem Beitrag für netzpolitik.org, was aus seiner Sicht im Zukunftsrats-Bericht fehlt:

"Worte wie 'Offenheit', 'Open Source', 'Dezentrale Soziale Netzwerke' 'Fediverse' oder ähnliches finden sich in dem Papier nicht. Weder wird andiskutiert, ob neue digitale Technologien vielleicht auch eine Erweiterung des Auftrags nahelegen (z.B. Kuratierung von Drittinhalten in öffentlich-rechtlichen Portalen), noch wird diskutiert, wie neue digitale Technologien besser zur Erfüllung des bestehenden öffentlich-rechtlichen Auftrags eingesetzt werden könnten (z.B. durch Öffnung der Mediatheken für Publikumsbeiträge)."

Zum Thema Soziale Netzwerke taucht in der Tat nur der banale Satz "Globale Social-Media-Plattformen ohne journalistischen Qualitätsanspruch emotionalisieren den öffentlichen Raum". Zu einer Social-Media-Strategie findet sich indes nichts. Keine Anregung, in Sachen Fediverse mal ein bisschen zu größer denken. Kein Ideechen dazu, wie der ÖRR darauf reagieren könnte, dass sich die Social-Media-Nutzung immer weiter fragmentiert. An die Themen müssen dann wohl ein paar andere Zukunftsberater ran.


Altpapierkorb (ein nicht alltäglicher Einblick in den journalistischen Alltag, Trivialisierung kriegerischer Gewalt bei Tiktok, die Kampagne gegen Claudine Gay und Harvard, "Wir waren in der AfD")

+++ Erica Zingher gibt in ihrer taz-Kolumne auf eine für Journalistinnen und Journalisten außergewöhnliche Weise Einblick in ihren derzeitigen Arbeitsalltag: "Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel habe ich immer wieder mit Angehörigen der Geiseln gesprochen. In meiner Laufbahn als Journalistin waren das die bislang schwierigsten Gespräche. Als der Kibbuz Be’eri Mitte der Woche den Tod von Itay Svirsky und Yossi Sharabi bekannt gibt, breche ich in meiner Wohnung in Tränen aus. Svirskys Cousinen kämpften gerade noch in Berlin für seine Freilassung. Die Hamas hatte ein Propagandavideo veröffentlicht, worin es die Leichen der beiden Männer zeigte. Angesichts solchen Grauens verzweifle ich hin und wieder; in mir kriecht dann die Frage hoch: Was bringt das Engagement, die eigene Arbeit?"

+++ Wie ein 19-jähriger "Pirat" namens Rashed Al-Haddad bei Tiktok Propaganda der jemenitischen Huthi-Miliz verbreitet, rekapituliert Marcus Bösch in seinem Newsletter "Understanding TikTok". Der Teenager greife  auf eine Taktik zurück, die oft als "Thirst trap"-Propaganda bezeichnet werde. "Al-Haddad - auch wenn er nicht offiziell zum Houthi-Militär gehört - wendet diese Propagandatechnik in einer asymmetrischen Kriegsführung an, um die Wahrnehmung von Gewalt zu minimieren und zu trivialisieren", so Bösch weiter.

+++ Über den erzwungenen Rücktritt Claudine Gays von ihrem Präsidentenamt in Harvard und die Rolle der Medien dabei hatte ich kürzlich im Altpapier geschrieben, und auch in der vergangenen Woche kam das Thema im Altpapier zumindest kurz vor. Der Harvard-Professor Randall Kennedy schreibt nun fürs "London Review of Books": "Ich gehe auf mein vierzigstes Jahr an der Fakultät zu und schätze meine Verbindung mit Harvard. Sie hat mir ein wunderbares Umfeld geboten, in dem ich lehren und forschen konnte. Ich bin jedoch fassungslos über die offensichtliche Unfähigkeit der Universität, sich zu verteidigen, und werde von einem zunehmenden Gefühl des Grauens ergriffen". Die "traurige Realität" sei, dass Claudine Gay und die Harvard-Universität "von einer Gruppe rücksichtsloser rechter Politiker und Aktivisten zu Fall gebracht" worden sei.

+++"Die AfD ist eine Einsamkeitsmaschine: Sie zieht einsame Menschen an - um sie noch einsamer zu machen." So lautet das Fazit einer Kurzrezension, die Philipp Bovermann für die SZ über von der ARD am vergangenen Donnerstag ausgestrahlte MDR-Dokumentation "Wir waren in der AfD – Aussteiger berichten" geschrieben hat. Der Satz erinnert ein bisschen an eine berühmte Ärzte-Zeile: "Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe."

Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.

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