Eine Hand wird gehalten
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MDR INVESTIGATIV - HINTER DER RECHERCHE (Folge 95) Vereinbarkeit von Pflege und Beruf: Womit pflegende Angehörige kämpfen

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Derzeit sind in Deutschland knapp 5 Millionen Menschen pflegebedürftig, ein großer Teil von ihnen wird zu Hause gepflegt. Das belastet Pflegende nicht nur emotional, sondern oft auch beruflich. Häufig ist es für pflegende Angehörige schwer, eine Betreuung zu finden, die sich gut mit dem Job vereinbaren lässt. Vor welchen Herausforderungen stehen die Angehörigen, und was muss sich politisch ändern, damit sie besser entlastet werden?

Esther Stephan (ES): Wer einen Angehörigen pflegt, der investiert in der Regel nicht nur eine Menge Kraft und Emotionen, sondern muss auch beruflich einiges aushalten. Nur 77 Prozent der Pflegenden arbeiten. Davon im Durchschnitt 33 Stunden in der Woche. Und wer sich Unterstützung suchen möchte, eine teilstationäre oder vorübergehende stationäre Unterbringung sucht, findet eventuell keinen Platz. Das führt dann oft dazu, dass Pflege und Beruf nicht mehr funktioniert. Pflegende Angehörige steigen entweder ganz aus dem Beruf aus oder geben den Mann, die Frau oder das Kind weg. Dafür entschieden hat sich zum Beispiel Brigitte Braun, die ihren Mann Manfred zehn Jahre gepflegt hat und der jetzt in einer Senioren-WG lebt.

Es ist mir nicht leicht gefallen, mein Mann sozusagen in "fremde Hände" zu geben, weil ich mir eigentlich vorgenommen hatte, solange, wie es geht, ihn zu Hause zu betreuen.

Brigitte Braun

ES: Vor welchen Herausforderungen stehen pflegende Angehörige? Was bewegt sie? Und welche Veränderungen braucht die Pflegepolitik, um pflegende Angehörige künftig besser zu entlasten? Darum geht es heute bei „MDR Investigativ - Hinter der Recherche“. Hier sprechen wir mit Journalist*innen über ihre Recherchen, ihre Erlebnisse während der Dreharbeiten und ihre persönlichen Eindrücke. Ich bin Esther Stephan, und ich begrüße Sie zu unserer ersten Folge im neuen Jahr. Und heute spreche ich mit Christin Simon. Hallo!

Christin Simon (CS): Hallo, Esther!

ES: Das ist ja jetzt nicht das erste Mal, dass du zum Thema Pflege arbeitest, warum reizt sich das eigentlich so?

CS: Stimmt. Also ich glaube, insgesamt sind es jetzt schon acht Jahre, wo ich immer wieder zu dem Thema recherchiere. Und am Anfang, muss ich sagen, war das für mich gefühlt so ein bisschen ein Fass ohne Boden, weil es so viele Probleme gab. Also angefangen: fehlendes öffentliches Interesse für dieses Thema insgesamt und dann auch fehlende Anerkennung für Pflegende und Probleme bei der Finanzierung und Personalmangel. Naja, und ein paar Punkte haben sich über die Jahre schon verbessert, muss man sagen. Also zum Beispiel das öffentliche Interesse ist größer geworden. Es wird viel mehr über Pflegekräfte, Pflegebedürftige, pflegende Angehörige gesprochen und eben auch die Finanzierung für Pflegekräfte. Da hat sich auch einiges getan, aber auch dieses öffentliche Interesse muss man sagen, rührt glaube ich, auch daher, dass sich die Situation auch zuspitzt. Weiterhin. Weil es gibt, immer mehr Pflegebedürftige und die Unterbringung, die Pflege für diese zu garantieren, das ist wirklich nicht leicht. Weil auch die Kosten steigen, und das wird spannend sein und echt eine Herausforderung, das in den nächsten Jahren zu regeln.

ES: Die Kosten steigen, die Gesellschaft wird ja auch im Schnitt immer älter, und bei so häuslicher Pflege denkt man ja eigentlich immer schnell so an diese Situation: Da ist eine ältere Person, die von einer anderen älteren Personen gepflegt wird, also so in der Ehe zum Beispiel. Ist das so auch die Realität?

CS: In der Regel schon. Wenn man sich die Zahlen anguckt, dann ist es wirklich so, dass ein Großteil der Pflegenden, also die eben pflegen, zu Hause pflegen, zwischen 50 und 65 ist. Und die pflegen, wie du auch schon gesagt hast, eben oft den Ehepartner, also den Mann, die Frau oder ein Elternteil, also auch ältere Menschen. Das ist der Großteil. Aber man muss eben auch sagen: es gibt pflegende Eltern, die haben eben pflegebedürftige Kinder. Und das ist eine viel kleinere Gruppe. Also wir sprechen in Deutschland von etwa 160.000 pflegebedürftigen Kindern zu insgesamt etwa 5 Millionen Pflegebedürftigen. Also eine viel, viel kleinere Gruppe. Aber wir haben sie ja auch, in unserem Film begleiten wir eine Familie von einem kranken kleinen Mädchen. Und das war mir auch super wichtig, dass eben auch diese kleinere Gruppe mit in dem Film eine Rolle spielt, weil die eben einfach noch mal in einer ganz anderen Situation sind. Die sind eben jünger und haben mit etwa 30 vielleicht einen Hauskredit abzubezahlen oder für eine Wohnung. Und dann ist das wirklich noch mal eine ganz andere Situation, wenn dort ein Einkommen deutlich geringer ist oder ganz wegfällt. Das ist dann sehr schwierig für diese Familien. Und deswegen wollten wir uns unbedingt angucken: Wie sieht es denn bei denen aus? Wie sind da die Bedingungen? Pflege und Beruf unter einen Hut zu bekommen?

ES: Wenn du sagst, es ist eh auch so eine kleine Gruppe, aber auch. Hat das denn dann überhaupt gut geklappt eigentlich, Angehörige zu finden, die dann auch noch mit dir darüber sprechen wollten, dass sie pflegen?

CS: Diese kleine Gruppe tatsächlich, also die Familie von Zoe, Familie Jobs aus unserem Film, die hatte ich super schnell gefunden. Also das wirklich sehr, sehr schnell. Und habe ich auch nicht gedacht, wie du schon sagst, es ist ja eine kleine Gruppe, also wahrscheinlich schwieriger, die zu finden. Aber die hatte ich sehr schnell. Diesen klassischen Fall sozusagen, also ein älterer Pflegebedürftiger, wird auch von einem älteren Menschen gepflegt, das hat wirklich lange gedauert. Also das war ehrlich gesagt so schwer wie noch nie.

ES: Weißt du, woran das gelegen hat?

CS: Ich habe dann auch lange überlegt. Also klar, zum einen gibt es ja immer so ein bisschen Vorbehalte, und auch die Scheue, sich von einem Kamerateam begleiten zu lassen. Und Pflege ist nun mal ein super persönliches und intimes Thema. Aber wie gesagt, das habe ich ja in den letzten Jahren auch immer gemacht. Um das war nie so schwer. Ich glaube tatsächlich, dass es bei diesem Thema schwierig ist, dass es da eine Scheu gab, weil es eben einfach oft nicht funktioniert, diese Vereinbarkeit, Pflege und Beruf wirklich gut zu schaffen. Und das heißt dann in einem Bereich gelingt es eben nicht. So machst du Abstriche und darüber zu sprechen, das fällt natürlich schwer. Und auch dieser Jobverlust. Also wir haben es ja auch in dem Film gezeigt, wenn es dann irgendwann nicht mehr klappt, entweder steigen die pflegenden Angehörigen aus dem Job aus oder geben eben den Pflegebedürftigen auch weg. Und das tut den Menschen auch weh. Das hat auch viel mit Versagensängsten und Versagensgefühlen zu tun. Das habe ich ganz oft gehört von den Pflegern, Angehörigen dieses Wort "Versagensgefühl". Also gar nicht nur die Angst davor zu versagen, sondern es teilweise auch zu tun, obwohl man wirklich sagen muss: Hut ab! Die leisten so Großes. Sie schaffen so viel. Sie können absolut stolz auf das sein, was sie da tun.

ES: Ich habe das selbst tatsächlich im vergangenen Jahr auch erlebt. Ich habe meine Mutter einige Monate lang gepflegt, und das war einfach eine super stressige Zeit. Also, ich kann da so ein bisschen auch aus eigener Erfahrung erzählen. Bei mir war das so, dass ich mich eigentlich rund um die Uhr kümmern musste. Und dann habe ich halt so versucht, irgendwie nachts und am Wochenende zu arbeiten, wenn dann auch zum Beispiel noch andere Verwandte einspringen konnten. Das geht nicht in jedem Job so. Also ich bin freie Journalistin, und ich kann das machen, auch mal am Wochenende zu sagen: Ich arbeite dann jetzt. Das machen auch nicht alle Arbeitgeber*innen mit. Und ich habe auch gemerkt: ich bin einfach richtig schnell an meine Grenzen gekommen. Das ging nicht lange so gut. Was haben dir denn andere pflegende Angehörige erzählt, wie gehen die mit dieser Situation um?

CS: Wie du sagst, an den Grenzen kommen, das hab ich von jedem gehört. Das passiert auf jeden Fall früher oder später. Es kommt natürlich auch darauf an: Wie hoch ist der Pflegebedarf des Pflegebedürftigen. Also ich habe auch viel mit pflegenden Angehörigen gesprochen, wo eben der Pflegebedürftige dement ist und dann gerade auch bei Frau Braun. Der Mann, am Anfang war das alles noch okay, der konnte seinen Alltag gut bewältigen. Und als die Demenz dann fortschritt, dann wurden viele Dinge schwieriger. Die Tagespflege hat ihn dann nicht mehr aufgenommen. Und solche Dinge. Und deswegen ist das an-die-Grenze-kommen, ich glaube, das trifft auf jeden pflegenden Angehörigen früher oder später zu. Und das, was du ansprichst, das ist ein ganz interessantes Thema. Das ist ja sozusagen die Flexibilisierung, die Wahlfreiheit der Arbeitszeit. Also wirklich zu sagen: Ich muss jetzt nicht meine sechs oder acht Stunden am Stück arbeiten, sondern ich kann mir das einteilen, je nachdem Pflegetag meines Pflegebedürftigen. Und das würde enorm vielen pflegenden Angehörigen helfen. Wenn sie das tun könnten. Du hast es gerade gesagt, es ist nicht in jeder Branche möglich, aber in vielen Branchen ist es möglich. Aber der Arbeitgeber oder Arbeitgeberin machen es eben nicht möglich. Und da ist es wirklich so ein kulturelles Umdenken, was wir brauchen. Also auch von den Arbeitgebern, die eben sagen: Ja, du hast eine Pflegesituation. Das ist auch nicht jeden Tag so. Also es ist ja nicht jeden Tag, dass du nicht deine Stunden am Stück arbeiten kannst, sondern es gibt eben Ausnahmesituationen. Und dafür kannst du dir natürlich diese Flexibilisierung auch rausnehmen. Ich würde ganz gern noch ein Beispiel von einer jungen Mutter anführen, mit der ich eben auch gesprochen habe im Vorfeld. Auch sie hat ein pflegebedürftiges Kind. Und ist eben nach der Elternzeit wieder zurück in ihren alten Job gekommen. Sie ist Sekretärin. Und es war ihr dort nicht möglich, also der Arbeitgeber hat wirklich auf diese starren Arbeitszeiten bestanden. Und wenn mal was dazwischen kam, wie ein Arzttermin, dann musste sie sich Urlaub dafür nehmen. Und es ist halt keine Dauerlösung für sie gewesen. Und jetzt hat sie einen neuen Job, ist auch Sekretärin, also macht im Grunde genommen das Gleiche, und dort ist es möglich. Also dort kann sie sich wirklich die Stunden so - wenn es mal sein muss - so sortieren, dass es eben für sie in ihren Pflegealltag passt.

ES: Du hast doch gerade gesagt, dass es ganz oft nicht möglich ist, dass Arbeitgeber*innen dann eben nicht mitspielen. Du hast mir im Vorgespräch erzählt, dass es in ganz vielen Betrieben auch sogenannte Pflegelotsen gibt. Die sollen eigentlich beraten, wenn es zu einer Situation kommt, dass eine Arbeitnehmerin, ein Arbeitnehmer auch noch pflegt parallel. Wie funktioniert das mit den Pflegelotsen?

CS: Die betrieblichen Pflegelotsen, so heißen die, auf bin ich in der Recherche gestoßen. Und wir fanden das einen wirklich richtig guten Lösungsansatz, wenn wir darüber sprechen, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern. Und das ist im Grunde genommen eine Zusatzausbildung, also wie eine Weiterbildung. Die kann jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin in einem Betrieb machen. Es wird sogar zum großen Teil in vielen Ländern finanziert. Und dann sind es einfach ein paar Tage -  kommt auch wieder darauf an, welcher Anbieter das dann eben macht - wo du geschult wirst: welche Rechte hast du als pflegender Angehöriger, wenn eben der Pflegefall eintritt? Genau das ist eine erste Anlaufstelle. Das heißt, in diesem Betrieb gibt es jemanden, der ist die erste Ansprechperson für pflegende Angehörige. Das ist halt auch erstmal schon mal super, und der weiß ganz viel. Das ist eine erste Beratung, weil auch das haben mir pflegende Angehörige mehrfach erzählt, eine wirklich gute Pflegeberatung gibt es in vielen Regionen einfach nicht. 

ES: Konntest du da auch mal mit jemandem sprechen, der das macht? Die das macht, diesen Job?

CS: Ich bin zuerst auf Thüringen gestoßen, denn in Thüringen macht das die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung. Die bilden das Aus. Die bieten diese Lehrgänge an. Und in Thüringen hat man eben über dieses Programm mehrere hundert Pflegelotsen ausgebildet. Und ich war superoptimistisch, dass wir da jemanden finden, der uns da die Türen aufmacht. Also dass wir in den Betrieb reingehen können und das einfach mal begleiten können. Um da wirklich noch mal mehr zu erfahren, wie funktioniert das jetzt? Leider ist kein Dreh zustande gekommen. Es gab eine positive Rückmeldung, also einen Betrieb, eine Pflegelotsin hätte mit uns gedreht. Und das war dann aber aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Wir haben hier im Dezember produziert, und da haben wir es einfach nicht geschafft. Und ansonsten gab es da keine positive Rückmeldung, keine Bereitschaft, mit uns zu drehen. Das hat mich schon überrascht, weil ich finde, das ist ein absolut positives Beispiel, wie man eben diese verbesserte Vereinbarkeit hinbekommt. Und es hat aber einfach nicht geklappt. Und für Sachsen-Anhalt auch ganz interessant: Ich habe natürlich dann geguckt, wie sieht es in den anderen Ländern bei uns im Sendegebiet aus? Und in Sachsen-Anhalt ist es dann eben so, da wollte man diese Ausbildung auch etablieren und zusammen mit einer Landesinitiative eben auch, einer Krankenkasse und der IHK. Aber es ist nicht zustande gekommen. Es kam kein Lehrgang zustande, weil es einfach kaum Nachfrage gab. Also es war so eine geringe Nachfrage für diesen Kurs, das der einfach nicht zustande kam.

ES: Wer ein Kind erzieht, hat ja eigentlich auch Anspruch auf einen Kita-Platz. In der Pflege wäre das ja eigentlich auch ganz gut. Es gibt aber überhaupt nicht genug Plätze, zum Beispiel in der Tagespflege. Wie ist da eigentlich aktuell gerade der Stand?

CS: Im Film haben wir es ja auch gezeigt. Die aktuellen Zahlen. Es gibt ungefähr 98.000 Tagespflegeplätze gerade für die über 4 Millionen Pflegebedürftigen, die zu Hause gepflegt werden, ist das gerade mal eine Versorgungsrate von 2,3 Prozent, also superwenig. Und dann war es ganz interessant. In meiner Recherche bin ich auf die Auslastungsquoten von Tagespflegen gestoßen und habe gesehen, es gab einen regionalen Vergleich, dass die halt wirklich maximal im Schnitt bis zu 70 Prozent ausgelastet sind. Und dann habe ich mir gedacht: okay, das ist wirklich komisch. Also, wir haben ja schon so wenig, und da würde man ja eigentlich denken wir sind rappelvoll und haben Wartelisten. Warum sind die jetzt nicht ausgelastet? Und dann habe ich aber auch wieder viele Gespräche geführt mit Anbietern und auch mit Verbänden. Und da kam eben raus, dass viele Pflegebedürftige oder pflegende Angehörige das Angebot nicht nutzen, weil zum einen Zeiten sehr starr sind und denen nicht so wirklich helfen. Also oft ist es so zwischen 10 und 15 Uhr, und das hilft dann den pflegenden Angehörigen gar nicht unbedingt. Und dann lassen sie es eben weg. Und das nächste Thema ist, was sich auch aktuell gerade zuspitzt, die Eigenanteile, also das, was die Versicherung nicht bezahlt. Es gibt ja immer noch einen Anteil, der wirklich nur für den Pflegebedürftigen da ist. Und die steigen. Das ist einfach wirklich teuer.

ES: Über was für Summen sprechen wir da?

CS: Naja, also wir haben es eben auch bei der Familie Braun thematisiert. Und da ist es ja in den letzten Jahren, fünf Jahren, hat sich das eben verdoppelt, auf 500 Euro sind es jetzt, glaube ich, pro Monat, die der Pflegebedürftige eben zahlen muss. Aber da muss man ja auch sagen, wenn es um eine ambulante Pflege geht, da sind ja auch oft Pflegedienste im Spiel. Auch da hat man einen Eigenanteil, und auch da erhöht sich dieser Eigenanteil immer. Und dann ist das eben in der Summe einfach Geld, was viele Familien nicht mehr aufbringen können. Aktuell gibt es in der ambulanten Pflege diesen finanziellen Zuschuss zum Eigenanteil, so wie das in der stationären Pflege ist, den gibt es eben gerade nicht. Und das heißt eben, dass dieses ohnehin schon so geringe Angebot, was es gerade gibt an Tagespflegeplätzen, noch nicht mal ausgeschöpft wird. Und da muss sich unbedingt irgendetwas verbessern, denn das ist eigentlich der wichtigste Punkt, den pflegende Angehörige mir genannt haben, wenn sie Pflege und Beruf unter einen Hut kriegen wollen, dass es eben für die Zeit, wo gearbeitet wird, wirklich ein verlässliches Entlastungsangebot gibt.

ES: So ein weiteres Thema, über das wir immer viel bei Pflege auch diskutieren, gerade bei stationärer Pflege, ist natürlich der Fachkräftemangel, den es auch in der professionellen Pflege einfach gibt. Kann man sich da dann nicht einfach theoretisch - ich sage das jetzt einfach mal so ganz flappsig - reinklagen, dass man eben eine stationäre oder teilstationäre Pflege braucht?

CS: Das ist ein super aktuelles und spannendes Thema. Also das wird wirklich gerade ganz aktuell gefordert und diskutiert. Und es ist so, dass im Sozialgesetzbuch 11 steht dieser Anspruch auf eine teilstationäre Pflege wie einer Tagespflege. Also dort steht Pflegebedürftige, der Pflegegrade zwei bis fünf haben einen Anspruch auf eine teilstationäre Pflege. Dachte ich mir so: Okay, das ist ja ein Anspruch, der in einem Gesetz steht. Aber jetzt ist das SGB 11, das regelt ja die Finanzierung der Pflegeversicherung. Und insofern ist es wohl so, dass haben mir einige Juristen im Gespräch erklärt, sei dieser Anspruch eher als Finanzierungsanspruch zu verstehen. Das heißt also, wenn ich einen Platz bekomme, dann muss die Pflegeversicherung mir den auch bezahlen. Also natürlich auch nur den Versicherungsanteil. Der Eigenanteil bleibt bei den Pflegebedürftigen. Ob es jetzt wirklich so ist, dass man sich den einklagen kann, da gibt es derzeit unterschiedliche Aussagen. Ich habe auch einfach gehört, dass es bisher diesen Fall noch nicht gab. Es wurde noch nicht eingeklagt. Versteh mich jetzt nicht falsch. Ich will jetzt hier nicht dazu aufrufen, dass die Leute sich das einklagen sollen. Unsere Gerichte haben ja genug zu tun. Aber auch der Kita-Platz, das hast du ja vorhin angesprochen, diesen Vergleich auch. Da kam erst richtig Bewegung rein, als es eben eine Klage und auch ein Gerichtsurteil gab. Und seitdem ist es eben ein kommunaler Versorgungsanspruch, dass man einen Kita-Platz bekommt. Also ich könnte mir vorstellen, dass hier noch mehr Bewegung reinkommt. Da ist es dann tatsächlich bald auch mal die ersten Klagen dazu gibt. Und dann ist es einfach interessant, abzuwarten und zu gucken, wie entscheiden die Gerichte.

ES: Gesehen von dieser Klage, welche Möglichkeit zu haben denn eigentlich pflegende Angehörige, außer eben selbst im Zweifelsfall aus dem Job aussteigen zu müssen und Sozialleistungen zu beziehen und selber die Pflege zu übernehmen?

CS: Was es gerade gibt, ist die Familienpflege oder Pflegezeit. Die Pflegezeit, das ist ein Recht auf eine komplette Freistellung für sechs Monate, und bei der Familienpflegezeit kann man für mindestens 24 Monate verkürzt arbeiten, mindestens 15 Stunden in der Woche. Das heißt, du hast in dieser Zeit Kündigungsschutz, aber kein Geld. Also, du kannst dir ein zinsloses Darlehen beantragen. Aber das machen super weniger, weil das heißt, du verschuldest dich. Und deswegen ist eben immer wieder im Gespräch, in der Diskussion, diese Lohnersatzleistung analog zum Elterngeld für diese Auszeit. Genau, dass du dir wie für die Erziehung eines Kindes, die frei nehmen kannst und dafür eben Geld bekommst. Und das soll bis Mitte des Jahres verhandelt werden. Und ich bin gespannt, wie das ausgeht.

ES: Wir haben vorhin schon über Sandra und Nicole Jobs gesprochen und ihr kleines Kind Zoe, die pflegebedürftig ist. Inwiefern unterscheidet sich eigentlich die Pflege von Kindern und Erwachsenen? Wir haben das vorhin schon mal angerissen, und vielleicht können wir da jetzt noch mal ein bisschen mehr drüber sprechen?

CS:  Also zunächst muss ich sagen: Familie Jobs hat mich total beeindruckt. Die haben so viel Kampfgeist ausgestrahlt. Also sie haben auch erzählt, dass ihnen so viele Steine in den Weg gelegt wurden. Ob das nun eine schlechte Beratung war: Was kann ich alles beanspruchen und beantragen? Oder eben jetzt in dem Fall, dass sie Zoe eben für die erste Einarbeitungszeit von Nicole in eine stationäre Pflegeeinrichtungen geben müssen, weil sie einfach keine andere Betreuung für sie in der Zeit gehabt hätten. Also man muss ja sagen, dass Nicole jetzt einen Job hat, wo sie eben komplett im Homeoffice arbeiten kann. Das war die Bedingungen für die Jobsuche. Aber für die erste Einarbeitungszeiten muss sie eben jeden Tag ins Büro fahren und Zoe schafft keinen Kita-Alltag. Also sie hatten einen Kita-Platz, aber sie schafft nicht einen kompletten Kita-Tag. Das packt sie einfach nicht. Und eine intensivmedizinische Betreuung, Versorgung, Zuhause wurde abgelehnt. Und deswegen war es eben der sicherste Weg, diese Einarbeitungszeit zu schaffen. Dass Zoe dann eben für ein paar Tage in der stationären Einrichtung untergebracht ist. Man muss eben sagen, dass ist einmal die Trennung der Familie dadurch, und sie bekommen auch noch eine Pflegegeld-Kürzung. Und das ist einfach auch eine Ungerechtigkeit gegenüber den Erwachsenen Pflegebedürftigen. Denn da wird das Geld dann bis zu 28 Tage in so einer stationären Einrichtung weitergezahlt. Also das ist schon mal der erste Unterschied. Und dann zurück zu deiner Frage, was es noch für Unterschiede gibt. Es gibt für Kinder unglaublich weniger Pflegeangebote, also spezielle Pflegedienste für kranke Kinder gibt es kaum, also wenige. Und eben auch stationäre Pflegeeinrichtungen für Kinder gibt es viel, viel weniger, als der Bedarf ist. Und dann, finde ich, muss man auch noch sagen, wenn es eben nicht klappt, diese Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu schaffen, aber es eben einfach auch schwerfällt, aus dem Job auszugehen, dann den Pflegebedürftigen wegzugeben, das kommt bei einem Kind im Grunde genommen nicht in Frage. Das Kind gehört zu seinen Eltern. Das liegt in der Natur der Sache. Und das ist dann einfach auch noch mal wirklich eine ganz andere Situation. Also die Optionen sind viel weniger für pflegende Eltern. Diese Trennung da miterlebt zu haben, also wir waren ja dabei, als die Familie Zoe in der stationären Einrichtung besucht hat, das war wirklich berührend. Also sie haben sich zu keinem Zeitpunkt über diese Trennung beschwert. Sie waren dankbar dafür, dass sie einen dieser wenigen Pflegeplätze bekommen haben. Aber man hat es einfach gespürt, dass da eben die Eltern und das Kind für ein paar Tage getrennt sind. Und das war bewegend.

ES: Und gleichzeitig hat Nicole Jobs dir erzählt, dass sie nach einiger Zeit diese Information, ein pflegebedürftiges Kind zu haben, auch aus ihren Bewerbungsunterlagen wieder rausgenommen hat.

Nicole Jobs: Ich hatte es erst in meinem Bewerbungsanschreiben erst mit drinstehen und habe es dann ja auch weggelassen, dass ich ein schwerbehindertes Kind habe.
Christin Simon: Warum hast du es wieder raus gemacht?
Nicole Jobs: Es war halt so ein Gefühl, Also als ob das vielleicht doch so ein Hindernis war oder ein Grund, dass ich eine Ablehnung bekommen habe.

ES: Weißt du, warum es da so eine Art Scham gibt eigentlich? Also woran liegt das? Das dürfte ja eigentlich kein Grund für eine Ablehnung sei, wenn man sich auf einen Job bewirbt und dann sagt: ja, ich bin aus dem alten Job ausgestiegen, weil ich ein pflegebedürftiges Kind habe, zum Beispiel. Ist Pflege ein Tabuthema?

CS: Ja, Pflege ist ein Tabuthema immer noch. Das sieht man auch daran, von den insgesamt 14 Millionen ehrenamtlich tätigen in Deutschland sind gerade mal 0,7 Prozent in der Pflege ehrenamtlich tätig, unterstützen Pflegebedürftige. Das ist super wenig. Und man muss aber sagen, dass die man Pflege-Herausforderung, die ja in den nächsten Jahren wahrscheinlich immer größer wird, das wir das nur schaffen, wenn wir es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sehen. Und da gehört auch Ehrenamt dazu. Und es sind nicht nur politische Maßnahmen. Klar, man muss auch viele politischen Maßnahmen fordern. Da muss sich auch noch einiges verbessern. Aber ich glaube, man kann es nicht nur mit politischen Maßnahmen schaffen. Und das hat auch Professor Gabriele Meyer, die Pflegewissenschaftlerin aus unserem Film, gesagt, dass es eben mit nur professioneller Pflege und Angehörigenpflege wird es nicht zu schaffen sein. Es braucht das Ehrenamt, und das muss aus den Kommunen heraus organisiert sein.

ES: Dieses Tabuthema, man muss sich auch mit Krankheit, mit Tod auseinandersetzen. Das ist ja vielleicht auch einfach für dich als Reporterin manchmal gar nicht so einfach, wenn man dann eben in einer Recherche auf belastende Geschichten trifft. Ist es dann für dich einfach, in solchen Situationen auch objektiv zu bleiben?

CS: Es ist oft nicht einfach, da hast du recht, wie ich es eben auch schon beschrieben habe. Vor allem Familie Jobs hat mich sehr berührt. Ich bin selbst Mutter, zweier kleiner Kinder und diese Trennung zwischen Eltern und Kind mitbekommen zu haben, das habe ich einfach mitgefühlt. Das ist so. Trotzdem versuche ich immer, verschiedene Seiten zu verstehen, zu sehen. Und wenn man eben die politische Seite sieht, dann geht es vor allem um eine Verteilung von Geldern. Oder es geht einfach darum, dass mehr Geld in das System gespült wird und zum Beispiel um die gestiegenen Heimkosten. Also das war vor sechs Jahren, wo auf einmal diese Eigenanteile eben bei der Unterbringung, bei der stationären Unterbringung von Pflegebedürftigen so gestiegen sind. Und da war dann auch die Frage - wir haben natürlich Interviews mit Politikern geführt: Wie kann man die Situation für Pflegebedürftige und deren Familien verbessern? Und da war die Frage: Gibt es einen steuerfinanzierten Zuschuss oder gibt es mehr Geld von den Krankenkassen? Jetzt gibt es einen Zuschuss eben bezahlt von der Pflegeversicherung. Ich hoffe, dass eben die anstehenden Verhandlungen, dass auch das wieder was bringt, für Pflegebedürftige und deren Angehörigen.

ES: Pflege hat aber ja auch immer ganz, ganz viel damit zu tun, Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen. Wie ist das, wenn du dann in so Situationen reingehst, fühlst du dich auch verantwortlich für deine Protagonist*innen?

CS: Ne, also verantwortlich nicht. Ich sehe es als meine Aufgabe, als Journalistin auf Probleme hinzuweisen, Aufmerksamkeit dafür zu erzeugen und am besten natürlich eine Verbesserung zu erzielen. Bei den Heimkosten damals, um noch mal das Beispiel aufzugreifen, war es dann ebenso so, dass wir dann auch mit Politikern gesprochen haben. Ich habe denen auch Sequenzen aus Drehmaterial gezeigt, die wirklich verzweifelte Angehörige gezeigt haben, die einfach nicht mehr wussten, wie sie das bezahlen sollten. Die zum Sozialamt gehen mussten, obwohl die jahrzehntelang gearbeitet haben. Dass ist wirklich für viele ein schwerer Weg. Naja und dann ist es schon dazu gekommen – also Hintergrund war eben das damals das Tarifniveau für Pflegekräfte anerkannt werden musste - also an sich eine gute Sache, damit Pflegekräfte besser bezahlt werden müssen - aber eben zu Lasten der Pflegebedürftigen. Und dann kam eben durch die vielen Berichterstattungen auch, also nicht nur unsere, natürlich auch andere, dann ein neues Gesetz zustande, das eben gesagt hat: okay, wir schaffen hier 13.000 zusätzliche Stellen, das es eben auch die Entlastung für die Pflegekräfte, gibt die werden aber wirklich komplett bezahlt von der Krankenversicherung. Man kann jetzt darüber diskutieren: Ist das ein zufriedenstellendes Gesetz? Aber ich denke, es ist erst mal doch eine Entlastung. Und das ist gut. Dafür mache ich das.

ES: Wir sprechen gerade Anfang Januar miteinander. Es ist gerade die neue Pflegereform auch in Kraft getreten. Die sieht ja mehr Pflegegeld vor. Wird das an der Situation auch was verändern?

CS: Ja, so mehr Geld ist natürlich immer gut. Das sind, glaube ich, fünf Prozent mehr Pflegegeld. Auch darüber habe ich mit pflegenden Angehörigen gesprochen. Und die Resonanz ist da schon, dass sich die meisten dadurch ehrlich gesagt, ein bisschen veräppelt fühlen.

ES: Fünf Prozent heißt wieviel?

CS: Das muss man auch wieder ganz konkret dann drauf sagen: was hast du für einen Pflegegrad? Also das kann man jetzt nicht pauschal sagen. Das kommt ja dann immer auf die Pflegegrade nochmal an. In Anbetracht der ganzen Steigerungen, Inflation ist das wirklich für die Menschen… eigentlich kommt es nicht an. Insofern ist natürlich diese Erhöhung gut. Aber wenn ich da viele pflegende Angehörige richtig verstanden habe, die sagen, das ist einfach viel zu wenig.

ES: Was wären denn darüber hinaus noch mögliche Lösungsansätze, damit sich die Situation auch für pflegende Angehörige in Zukunft verbessert?

CS: Also wirklich Punkt eins sind die Entlastungsangebote. Also eben die Tagespflege, die wir angesprochen haben, aber eben auch Kurzzeitpflege. Denn da muss es mehr verlässliche Angebote geben, die auch bezahlbar sind. Also das ist wirklich das Wichtigste, damit Vereinbarkeit von Pflege und Beruf besser funktioniert. Und der zweite Punkt für die politischen Maßnahmen sehe ich ganz dringend diese Ungerechtigkeit der Pflegegeld-Kürzungen bei den pflegebedürftigen Kindern. Dass das wirklich abgeschafft wird. Also bei den erwachsenen Pflegebedürftigen wird es erst nach 28 Tagen gekürzt, dann bitte auch bei den Kindern. Und das nächste ist ein kulturelles Umdenken. Das ist auch ganz wichtig. Also zum einen für uns als Gesellschaft, wenn es eben darum geht, dass wir mehr Ehrenabend in der Pflege brauchen. Und zum anderen vonseiten der Arbeitgeber. Denn diese Wahlfreiheit der Arbeitszeit und des Arbeitsortes, wenn es geht – es geht nicht in jedem Job, nicht in jeder Branche. Aber wir haben kein Recht auf Telearbeit. Und ich denke, in vielen Branchen geht das. Und mit dem pflegenden Angehörigen, mit denen ich gesprochen habe, da haben wirklich viele gesagt: ohne diese Toleranz. Ohne diese Flexibilität meines Arbeitgebers hätte ich es nicht so lange geschafft, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu schaffen. Und von diesen Arbeitgebern brauchen wir mehr.

ES: Christine Simon, ich danke dir!

CS: Danke dir, Esther!

ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Den Film über häusliche Pflege, den finden Sie in der ARD Mediathek in der Sendung Exakt vom 10. Januar. Wir hören und an dieser Stelle wieder in zwei Wochen. Aber bevor ich mich verabschiede, habe ich es natürlich noch ein paar Tipps für Sie:

Und wenn Ihnen "MDR Investigativ - Hinter der Recherche" gefällt, dann folgen Sie uns doch gerne in der ARD Audiothek. Machen Sie es gut und bleiben Sie gesund!

MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche

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