Rabbiner Alexander Nachama
Thüringens Landesrabbiner Alexander Nachama Bildrechte: Paul-Philipp Braun

Schabbat Schalom | MDR Kultur | 01.09.2023 Jom Kippur oder das Prinzip der Versöhnung

01. September 2023, 12:00 Uhr

Wir kommen nicht durchs Leben, ohne Fehler zu machen. Doch es kommt darauf an, die eigenen Fehler zu erkennen – und sich mit seinen Mitmenschen zu versöhnen, meint Rabbiner Alexander Nachama in seiner Auslegung des Wochenabschnitts Ki Tawo, wenige Wochen vor den Hohen Feiertagen, Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, und Jom Kippur, dem Versöhnungstag.

In Ki Tawo, dem Abschnitt dieser Woche, lesen wir die schönen Worte: "Gesegnet wirst du sein, bei deinem Eingang und gesegnet, bei deinem Ausgang." Es geht um den Beginn und das Ende unseres Lebens.

Ist ein Leben ohne Sünde möglich?

Dazu heißt es im Talmud: "Mögest du diese Welt verlassen, wie du in sie hineingekommen bist: Ohne Sünde."

Ist es tatsächlich möglich, die Welt ohne Sünde zu verlassen? Ein Kind, das gerade geboren wurde, hat nicht nur sein ganzes Leben vor sich, es ist auch unschuldig: Frei von jeglichen Sünden.

Können wir diesen Zustand ein Leben lang bewahren?

Die Antwort hierauf ist kurz und simpel: Nein, wir können diesen Zustand nicht bewahren. Zwar sollten wir es niemals darauf anlegen, trotzdem ist es Teil unseres Lebens, dass wir uns an bestimmten Stellen weniger gut verhalten: Dass wir Sünden begehen.

Interessant ist, dass die jüdische Religion gar nicht davon ausgeht, dass wir unser Leben frei von Sünden bestreiten.

Alexander Nachama Rabbiner

Jom Kippur bedeutet Umkehr

Jom Kippur, der Versöhnungstag, ist keine Erfindung der Neuzeit, er wird nicht alle zehn Jahre, sondern jedes Jahr begangen. Es heißt in der Tora: "Denn an diesem Tag erwirkt er euch Sühne, um euch zu reinigen, von allen euren Sünden sollt ihr vor dem Ewigen rein werden." (Levitikus 16,30)

Das Zitat passt gut zu der Zeit, in der wir uns gerade befinden: Kurz vor den Hohen Feiertagen, vor Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, das in gut einem Monat stattfindet, und Jom Kippur zehn Tage später. Bis spätestens Jom Kippur haben wir die Möglichkeit, uns mit all jenen, mit denen wir uns im vergangenen Jahr gestritten haben, wieder zu versöhnen. Sie aufzusuchen, um uns zu entschuldigen.

Haben wir dies getan, so sind wir frei von Sünden. Der berühmte Gelehrte Maimonides schreibt im 12. Jahrhundert: "Der Umkehrende ist dem Schöpfer lieb und nah, als habe er nie gesündigt, mehr noch: Sein Verdienst ist größer, denn obwohl er die Sünde geschmeckt hatte, wandte er sich von ihr ab und bezwang ihren Trieb."

Auf Mitmenschen zugehen und sich versöhnen

So können wir nun verstehen, was die Tora meint, wenn es heißt: "Gesegnet wirst du sein, bei deinem Eingang und gesegnet bei deinem Ausgang." Es geht nicht darum, dass wir unser Leben ohne Sünde leben. Es geht darum, dass wir unsere Fehler erkennen, dass wir spätestens an Jom Kippur auf unsere Mitmenschen zugehen und uns versöhnen. Oder – wenn es Sünden gegenüber Gott sind – sie durch Gebete sühnen.

Wichtig zu betonen: Unsere Umkehr (Tschuwa) muss ehrlich gemeint sein. Das bedeutet, dass wir uns vornehmen, die jeweilige Sünde nie wieder zu begehen.

Wer meint, sich vor Jom Kippur versöhnen zu können, um nach Jom Kippur so wie zuvor weiterzumachen, der hat das Prinzip der Umkehr nicht verstanden.

Alexander Nachama Rabbiner

Frei von Sünde die Welt verlassen

So können wir damit beginnen darüber nachzudenken, was im vergangenen Jahr gut gelaufen ist, und wo es vielleicht weniger ideal gelaufen ist, auf wen wir zugehen sollten. Und natürlich sollten wir auch aufgeschlossen sein, wenn jemand anderes auf uns zukommt, und dieser Person zuhören.

So könnten wir auch bei unserem Ausgang – wenn wir diese Welt wieder verlassen – nach der jüdischen Tradition mit 120 Jahren – frei von Sünde sein.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Alexander Nachama Geboren 1983 in Frankfurt am Main. 2005 erhielt er von Rabbiner Zalman Schachter-Shalomi, dem Gründer der Rabbiner- und Kantorenschule "Aleph", eine Urkunde als Kantor. 2008 erhielt er einen Bachelor in Judaistik (Freie Universität Berlin), 2013 einen Master (Universität Potsdam). Ab 2007 absolvierte er eine Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg mit Studienaufenthalten in Israel, die er 2013 mit der Ordination zum Rabbiner abschloss. 1998 - 2011 amtierte Alexander Nachama zunächst als ehrenamtlicher Vorbeter, später als Kantor in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. In den Jahren 2012 - 2018 war er Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Von 2018 bis August 2023 war er Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 01. September 2023 | 15:45 Uhr