Fragen & Antworten Entscheidungen zwischen Leben und Tod - Medizinethik in der Corona-Krise
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14. April 2020, 12:15 Uhr
Die Medizinethik ist in Corona-Zeiten besonders gefragt: Abwägungen müssen getroffen werden, etwa welche Covid-Patienten bei knappen Ressourcen noch behandelt werden können. MDR Wissen beantwortet die wichtigsten Fragen.
Inhalt des Artikels:
- Wird die Medizinethik durch die Corona-Krise mit neuen Fragen konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet war?
- Welche Antworten hat die Medizinethik auf die schwierige Frage nach dem Umgang mit der Triage gefunden?
- Wie würde dann in dem bei "Fakt ist" geschilderten Dilemma entschieden werden, wenn zwischen der Behandlung einer jungen Mutter mit Vorerkrankungen und einem alten Mann ohne Vorerkrankungen gewählt werden muss?
- Könnten im Notfall Patienten auch von den Beatmungsgeräten wieder getrennt werden?
- Müsste nicht sowieso stärker überlegt werden, ob hochbetagte COVID-19-Patienten eher palliativ behandelt werden sollen?
- Wie steht es um das Thema Patientenverfügung in der Corona-Krise?
- Wie groß ist die Gefahr für Mediziner, wegen Entscheidungen bei einer möglichen Triage nachträglich stafrechtlich belangt zu werden?
- Wie bewertet die Medizinethik im aktuellen Lockdown die Gewichtung von Gesundheit und Wirtschaft?
- Kann die Medizinethik auch Positives aus der Corona-Krise ziehen?
Wird die Medizinethik durch die Corona-Krise mit neuen Fragen konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet war?
Nein, sagt Prof. Alena Buyx von der TU München im Gespräch mit MDR Wissen. Die Forscherin, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, erklärt, dass die Medizinethik sogar auf viele Fragen besser vorbereitet sei als andere Disziplinen. "Die ganz besonders schwierigen Fragen der Triage, also wenn Ressourcen auf den Intensivstationen knapp werden, hat die Medizinethik schon seit Jahrzehnten behandelt", sagt Prof. Buyx.
Welche Antworten hat die Medizinethik auf die schwierige Frage nach dem Umgang mit der Triage gefunden?
Konkrete Empfehlungen gibt es etwa von der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). Diese hat das eher theoretische "Diskussionspapier zu 'Möglichkeiten und Grenzen von Ethikberatung im Rahmen der COVID-19-Pandemie'" veröffentlicht. Konkreter sind die "Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie" der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Notfall- und Intensivmedizin (DIVI). Dort heißt es: "Die Priorisierung von Patienten sollte sich deshalb [um möglichst viele Patienten bestmöglich versorgen zu können] am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der 'best choice' bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht."
Wie würde dann in dem bei "Fakt ist" geschilderten Dilemma entschieden werden, wenn zwischen der Behandlung einer jungen Mutter mit Vorerkrankungen und einem alten Mann ohne Vorerkrankungen gewählt werden muss?
Bei "Fakt ist" vom 06.04.2020 antwortete Prof. Jan Schildmann, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Uni Halle-Wittenberg dazu, dass das kalendarische Alter und der soziale Status keine Rolle spielen sollen. Stattdessen soll die Erfolgsaussicht der Behandlung im Mittelpunkt stehen. Im Gespräch mit MDR Wissen fügte der Wissenschaftler, der an den DIVI-Empfehlungen federführend beteiligt war, hinzu:
Das war ein Beispiel, das andeuten soll, wie schwierig die Entscheidung im Einzelfall ist. Es gibt ja Empfehlungen, die sogenannte Ausschlusskriterien nennen, wie etwa die Schweizer Empfehlungen. Da werden bestimmte Krankheitszustände als Nichtaufnahmekriterium für die Intensivstation definiert. Gesundheitsbezogene Kriterien sind zwar zur Orientierung für die Bewertung der Erfolgschance wichtig. Am Ende sind die Einzelfälle aber so komplex, dass man denen, die entscheiden müssen einen Handlungsspielraum geben muss.
Könnten im Notfall Patienten auch von den Beatmungsgeräten wieder getrennt werden?
Laut Prof. Schildmann sollen auch auf den Intensivstationen die Erfolgsaussichten der Behandlung immer wieder kritisch überprüft werden. Wenn sich diese verschlechtern, sollte auch überlegt werden, ob eher palliativ - also nur die Symptome lindernd - weitergearbeitet werden müsste.
Müsste nicht sowieso stärker überlegt werden, ob hochbetagte COVID-19-Patienten eher palliativ behandelt werden sollen?
Mit dieser Frage hat sich der Notfallmediziner Matthias Töns beschäftigt und dabei kontroverse Antworten gefunden.
Die Lungenentzündung am Ende eines Lebens bei einem vielfach Erkrankten gehört nicht auf die Intensivstation. Die muss palliativmedizinisch behandelt werden. Man muss die Atemnot lindern, das kann man mit Morphium gut machen. Und genau das geschieht auf vielen Intensivstationen nicht.
Thöns kündigt eine "wahnsinnige ethische Katastrophe, auf Grund von Geldgier" an, da zu viele alte Menschen nur behandelt würden, weil die Krankenhäuser damit Geld verdienen könnten. Diese Positionen sind unter Kollegen äußerst umstritten. "Es sterben zwar viele alte und hochaltrige Menschen an Covid-19, aber es sind auch Menschen betroffen, die jung sind", sagt Jan Schildmann dazu. "Völlig unabhängig vom Alter ist es entscheidend, dass die Kliniken und andere Gesundheitseinrichtungen ein gutes Palliativkonzept haben."
Wie steht es um das Thema Patientenverfügung in der Corona-Krise?
In der Corona-Krise sei es noch plausibler, eine Patientenverfügung zu haben, antwortet Prof. Annette Dufner von der Uni Bonn im Gespräch mit MDR Wissen - wenn man verhindern möchte, dass am Lebensende Ärztinnen und Ärzte mit großem Aufwand alles tun, um einen zu retten.
Allerdings sollten ältere Menschen, die jetzt darauf angesprochen werden, auf keinen Fall den Eindruck erhalten, nur deswegen nach einer Patientenverfügung gefragt zu werden, weil man insgeheim hofft, dass sie sich sozusagen freiwillig aus der Warteschlange nehmen.
Wie groß ist die Gefahr für Mediziner, wegen Entscheidungen bei einer möglichen Triage nachträglich stafrechtlich belangt zu werden?
Diese Frage wurde auch im Deutschen Ethikrat intensiv diskutiert, berichtet Alena Buyx. "Wir gehen davon aus, dass Kollegen, die in einer solchen Situation diese unglaublich schwere Entscheidung fällen müssen, sich darauf verlassen können, nicht belangt zu werden", erklärt die Medizinethikerin.
Wie bewertet die Medizinethik im aktuellen Lockdown die Gewichtung von Gesundheit und Wirtschaft?
"Wir wissen ja, dass der Entzug von Freiheit auch zu gesundheitlichen Schäden führen kann. Diese Abwägung ist schwierig und konkrete Entscheidungen muss letztlich die Politik treffen", sagt Jan Schildmann dazu. Die Maßnahmen seien umgesetzt worden, damit schlimme Situationen auf den Intensivstationen vermieden werden können, betont seine Kollegin Buyx. Letztlich können Institutionen wie der Deutsche Ethikrat aber nur beratend arbeiten.
Kann die Medizinethik auch Positives aus der Corona-Krise ziehen?
Alena Buyx erklärt, dass sich ihr Fach verstärkt dem Konzept der Solidarität zuwende. "Denn wir merken jetzt, wie wichtig es ist, dass wir diese Solidaritätsressourcen heben und wie abhängig wir auch als Gesellschaft davon sind, dass wir alle unseren Teil dazu beitragen", sagt die Medizinethikerin.