Das Altpapier am 16. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. März 2023 Egal?

16. März 2023, 13:18 Uhr

Der Sender RTL Zwei hat seine Babysoap mit Michael Wendler abgesagt. Aber wie konnte es passieren, dass er sie überhaupt plante? Und kann man von einem privaten Unterhaltungssender verlangen, dass er gesellschaftliche Verantwortung übernimmt? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Klassische Nonpology

Nachdem RTL Zwei die geplante Babysoap mit dem rechtsoffenen Schwurbler Michael Norberg (aka Wendler) gestern recht plötzlich abgesagt hat, bleiben Fragen. Vor allem eine: Warum?

Warum zog der Sender die soeben erst veröffentlichte Ankündigung zurück? Warum war man überhaupt überzeugt davon, dass dieses Format eine gute Idee sein könnte? Und warum war da niemand, der gesagt hat: Schöne Idee, Leute. Aber dieses Konzept werfen wir doch besser in den Papierkorb?

René Martens hat im Altpapier gestern schon die überdimensionierten Zaunpfähle skizziert, die überall herumlagen und die man nur leicht hätte anheben müssen, um zu verdeutlichen: Wenn der Sender jetzt "Querdenker TV" hieße oder RTL für "Rechts und treu zum Land" stehen würde, wäre so eine Doku vielleicht eine Möglichkeit gewesen, aber unter allen anderen Umständen war sie keine.

Die Kommentare und die Stellungnahmen, die der Sender vor und nach der Absage veröffentlicht hat, deuten jedenfalls darauf hin, dass man das Format nicht aufgrund einer plötzlich spürbar werdenden Überzeugung fallen ließ. In der Pressemitteilung, die der Sender gestern veröffentlichte, steht:

"RTLZWEI hat sich immer von Extremismus aller Art distanziert und steht für Weltoffenheit und Toleranz. Es ist uns wichtig, auch nur den Anschein zu vermeiden, dass der Sender hier zu Abstrichen bereit ist."

Das liest sich nach allem, was vorher passiert war, als würde man eine neue Show mit Martin Rütter in letzter Minute streichen und dann verkünden:

"Wir haben Hundeshows schon immer abgelehnt. Es ist uns wichtig, nicht den Anschein zu erwecken, dass wir Programm mit Tieren machen."

Der Sender begründet die Absage mit der "Vehemenz der Reaktion", er schreibt, man nehme "die Stimmen unseres Publikums ernst", und der folgende Satz macht deutlich: Da ist im Grunde gar nichts verstanden worden. Er lautet: "Wir bitten um Entschuldigung, sollten wir hier Gefühle verletzt haben."

Das ist eine klassische Nonpology, also eine Nebelkerze, die nur auf den ersten Blick aussieht wie eine Entschuldigung. Im Grunde steht dort: "Also, für uns selbst ist das alles okay, was wir da gemacht haben. Aber klar, ihr seid möglicherweise etwas empfindlich, und dann sind wir natürlich so großzügig und können das verstehen."

Schuld ist also eigentlich nicht der Sender, schuld sind die Gefühle der Menschen, die da jetzt einen Aufstand machen. Eine Nonpology macht alles nur noch schlimmer, denn darin steckt kein Verständnis für den eigenen Fehler. Hätte man dieses Verständnis, könnte man nämlich schreiben (und müsste es sogar): "Wir haben etwas falsch gemacht." Damit würde man Verantwortung übernehmen. Aber wenn dieses Verständnis da wäre, wäre es wahrscheinlich nie zu so einer Situation gekommen.

Kostenfaktor gesellschaftliche Verantwortung

Die Entscheidung für die Wendler-Doku-Soap fiel nicht aufgrund von künstlerischen Erwägungen, sondern weil mediale Karambolagen den gleichen Effekt haben wie Unfälle in der Wirklichkeit: Man kann nur schwer wegsehen. Wo Menschen schwer wegsehen können, lässt sich gut Werbung platzieren und Geld verdienen. So funktionieren Sender wie RTL Zwei. Es ist schwer, sich in dieser Denkwelt eine Begründung für die Wendler-Absage zu überlegen, in der es nicht einfach um Geld ging, sondern zumindest ein bisschen um gesellschaftliche Verantwortung.

Die Halbschwester RTL distanzierte sich und kündigte an, die Soap nicht im Programm und auch nicht in der App "RTL+" zu zeigen. Übersetzt in RTL-Zwei-Sprache bedeutet das: weniger Werbepublikum, weniger Einnahmen. Auch die Quotenbringer Carmen und Robert Geiss drohten mit ihrem Ausstieg. Das bedeutet wiederum: mögliche Kosten durch den Verlust zweier Zugpferde. Hinzu kommt der Imageverlust durch schlechte Presse: Welches Unternehmen wird in diesem kontaminierten Umfeld noch werben wollen? Auch das könnte Geld kosten.

Gesellschaftliche Verantwortung ist hier nur ein Kostenfaktor. Zu viel Verantwortung kostet unter Umständen Quote, aber wenn man ganz auf sie verzichtet, steht das unter Umständen auch mit auf der Rechnung.

Dass man vermeintliches Gedöns wie gesellschaftliche Verantwortung nicht einfach unter den Tisch fallen lassen kann, weiß man im Unterhaltungsfernsehen natürlich schon. Aber entweder hat man bei RTL Zwei für solche Feinheiten nur ein rudimentäres Verständnis, oder man hielt das Publikum schlicht für so dumm, dass glaubte, ihm so eine Show einfach unterjubeln zu können.

Um die außer Kontrolle geratene Figur Wendler wieder zur Einnahmequelle zu machen, nachdem sie vorher von einem anderen Sender aus der eigenen Familie rausgeworfen und getilgt worden war, hätten dem Sender zwei Sätze gereicht, die in einer inzwischen gelöschten Pressemitteilung standen (aus der hier zitiert wird):

"Von einigen meiner Äußerungen der Vergangenheit möchte ich mich klar distanzieren. Laura und ich sehen dieses Format als Möglichkeit zum Neustart für uns an."

Klar, der Sender möchte Geld verdienen. Der Wendler hätte gern die Gage. Eine Win-Win-Situation. Nach diesem Verständnis ist jede skandalöse Äußerung, die dem Format vorangegangen ist, ja sogar ganz nützlich. Das wird in den Kommentaren deutlich, die der Sender schon vor der Absage auf Social-Media-Kanälen veröffentlicht hatte.

"'Michael Wendler ist einer der am meisten polarisierenden Prominenten des Landes', heißt es in der öffentlich sichtbaren Antwort auf einen Kritiker",

schreibt Anja Rützel in ihrer Analyse für den "Spiegel". Danach folgt diese Passage:

"Wir sind überzeugt, mit ihm und Laura Müller eine spannende, abwechslungsreiche Geschichte erzählen zu können, die andere Seiten ihrer Persönlichkeit zeigt als die zuletzt zu Recht kritisierten."

Rützel kommentiert:

"Das klingt lieb und nachsichtig, als sei Michael Wendler ja nur Berufshetzer und Spalter von 9 bis 17 Uhr, nach Desinfomations-Dienstschluss aber echt ganz nett."

Hier scheint durch, dass es den Menschen in ihrer Babysoap-Realität offenbar schwerfällt, sich vorzustellen, dass die Wirklichkeit keine Soap ist, in der im Grunde nur von Bedeutung ist, ob etwas für Aufmerksamkeit sorgt, ob man noch neue Seiten von irgendetwas erzählen kann, was ja auch wieder für Aufmerksamkeit sorgt, und ob das dann auch hinreichend abwechslungsreich ist, um für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Distanzierung. Problem gelöst.

Und natürlich, man weiß auch bei RTL Zwei, dass es möglicherweise ein Hindernis sein kann (also Gefühle verletzt, wenn auch nicht bei einem selbst), wenn man mit Holocaust-Verharmlosern und Menschen, die Corona-Maßnahmen der Regierung mit Konzentrationslagern vergleichen, Programm macht. Und wie würde man so eine Dissonanz in einer Doku-Soap auflösen? Mit einem einfachen dramaturgischen Kniff. Die Person distanziert sich von sich selbst. Problem gelöst.

Und jetzt?

Anja Rützel schreibt:

"RTL Zwei und die Produktionsfirma Endemol Shine Germany haben mit ihrer im letzten Moment gekippten Babysoap nun ihrerseits Wendlers Verharmlosung verharmlost, und darum darf es mit einem lapidaren 'Okay, dann doch nicht‘ auf keinen Fall getan sein."

Was jetzt kommen sollte, kann allerdings etwas mehr Raum in Anspruch nehmen als zwei Sätze in einer Pressemitteilung. Und damit wird die Umsetzung schwierig.

Die Frage ist: Kann man vom privaten Unterhaltungsfernsehen erwarten, dass es nicht nur darauf schaut, was wirtschaftlich funktioniert, sondern auch ethische und moralische Standards zugrundelegt, zumindest ein bisschen? Ja, kann man. Die Sender brauchen eine staatliche Lizenz, um senden zu dürfen. Die Lizenz wird also von der Gesellschaft vergeben und dann auch von ihr durch die Landesmedienanstalten überwacht. Das hat einen Grund.

Die Sender nehmen großen Einfluss auf die Meinungen und die Wirklichkeit ihres Publikums. Und es ist ein Problem, wenn sie vermitteln: Es ist völlig okay, den Holocaust zu verharmlosen oder rechtsextremen Gehirnmüll zu verbreiten. Man kann sich danach ja einfach distanzieren, und dann ist wieder alles okay.

Das gibt dem Publikum den Eindruck, Corona-Leugnung und Holocaust-Verharmlosung sei im Prinzip nur ein Unterhaltungselement, das am Ende sogar ganz nützlich ist, weil es eben Aufmerksamkeit bringt. Es sieht so aus, als wären Corona-Leugnung und Holocaust-Verharmlosung im Grunde auch nur Elemente der Unterhaltung.

RTL Zwei hat gestern in einer überzeugenden Inszenierung dargelegt, dass ein Verständnis für dieses Problem fehlt. Es wäre dringend notwendig, dass der Nonpology noch eine Entschuldigung folgt – und dass der Sender verständlich erklärt, wie er garantieren will, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Meine Vermutung ist allerdings: Das wird nicht mehr passieren. Denn das Prinzip der Aufmerksamkeit hat man bei RTL Zwei natürlich hervorragend verstanden. Spätestens übermorgen wird sie nachlassen.


Altpapierkorb (Lineker-Lehren für ARD und ZDF, True Crime, MDR-Intendant, Verlage vs. Google, Werbung finanziert Propaganda)

+++ Die BBC hat ihren Fußballkommentator Gary Lineker wieder eingestellt, nachdem sie ihn rausgeworfen hatte (Altpapier). Jochen Bittner kommentiert in der "Zeit": "Die richtige Lehre für ARD und ZDF aus dem Fall wäre: Unparteilichkeit verdient einen höheren Stellenwert. Deshalb braucht es verbindliche Regeln für das Verhalten von Politikreportern in sozialen Netzwerken, nicht bloß Empfehlungen. Aber es braucht auch ihre unparteiliche Durchsetzung. Oder, um es mit einer alten Fußball-Fairnessregel zu sagen: Play the ball, not the man."

+++ Andrej Reisin kommentiert den Fall Lineker bei "Übermedien" und holt dabei weit aus. Er hält Gary Linekers Erfolg für "einen Pyrrhus-Sieg " und befürchtet vor allem einen Abschreckungseffekt. Auch wenn Lineker nicht bestraft werde, könnte das anderen passieren. Die Sorge davor könnte vor allem das freie Personal daran hindern, sich kritisch zu äußern. Die Frage sei, ob auch Lineker und die gesamte Sportcrew solidarisch seien, wenn eine unbekannte freie Mitarbeiterin in eine ähnliche Situation gerate. Reisin erklärt ausführlich, warum er es für "geradezu lächerlich naiv" hält, so zu tun, "als stecke hinter all dem Geraune und Gerede über 'Neutralität‘ und 'Überparteilichkeit‘ keine konzertierte rechtskonservative Agenda". Die Lineker-Affäre lenke davon ab, was auf allen Ebene umgesetzt werde. Reisin: "Mit den immer gleichen Argumenten (zu teuer, zu alt, zu unflexibel, zu unbeliebt) werden Sparzwänge geschaffen, deren Umsetzung zu einer immer weiter fortschreitenden Verzwergung des Rundfunks führt."

+++ Heute präsentiert Bertelsmann- und RTL-Chef Thomas Rabe die RTL-Bilanz für das vergangene Jahr. Passend dazu ist im Handelsblatt eine Analyse erschienen, in dem Michael Scheppe und Hans-Jürgen Jakobs Rabe vorwerfen, den Verlag "Gruner + Jahr" bewusst schlecht gerechnet zu haben, um die Entlassungen einfacher begründen zu können. Sie erklären im Detail, wie Millionengewinne des Verlags innerhalb kurzer Zeit verschwanden. Ein anonymer Manager sagt, Rabe habe dabei "die üblichen Tricks angewandt". Er habe die Filetstücke herausgeschnitten, zum Beispiel die Plattform "Applike" (20 Millionen Euro Gewinn), die Beteiligung am "Spiegel" (12,5 Millionen), die Kommunikationsagentur Territory und die DDV-Mediengruppe (mindestens 15 Millionen). Außerdem habe Rabe steigende Kosten für Papier berechnet, obwohl die Preise inzwischen wieder zurückgingen. Weil viele Manager gegangen seien, habe er die Bilanz mit hohen Abfindungskosten belasten können. Er habe Werbekunden in Unklarheit gelassen und damit abgeschreckt, also Umsätze verhindert. Und er habe Erlöse aus dem Verkauf des Redaktionsgebäudes "Am Baumwall" nach Gütersloh fließen lassen, während die Mietkosten in Hamburg geblieben seien. Scheppe und Jakobs sehen nun auch RTL zunehmend unter Druck. "Im umkämpften Streamingmarkt liegen die Kölner mit ihrer groß angekündigten App RTL+, die gerade zwei Prozent Marktanteil hat, weit zurück. Und bei jungen Zuschauern im Free TV rutschte RTL 2022 erstmals unter die Quotenmarke von zehn Prozent", schreiben sie. Für Bertelsmann sei das gefährlich. Die RTL-Gruppe spiele über 40 Prozent der Konzerngewinne ein.

+++ Das NDR-Medienmagazin "Zapp" beschäftigt sich in einem 19 Minuten langen Film mit True-Crime-Formaten, die zwar beliebt sind, für die Opfer von Verbrechen und Angehörige aber die Hölle sein können. "Zapp"-Reporterin Nhi Le hat dazu unter anderem mit Matthias Corssen gesprochen, einem Überlebenden des Serienmörders Niels Högel, mit Ingrid Liebs, der Mutter der ermordeten Frauke Liebs, und mit den Leuten, die True-Crime-Podcasts produzieren.

+++ Die Wahl des neuen MDR-Intendanten verlief unspektakulärer als erwartet (Altpapier). Helmut Hartung schreibt auf seinem Blog Medienpolitik.net (Titel: "Richtungswahl"): "Die Wahl Ludwigs bedeutet für den MDR keinen 'Neuanfang', wie einige Rundfunkratsmitglieder monierten, sondern eine Fortsetzung des erfolgreichen Transformations- und Reformkurses von Karola Wille. Unter dem ARD-Vorsitz des MDR hatte der Senderverbund 2017 sein bis heute größtes Sparprogramm beschlossen. Auch im Sender wurden wichtige Umstrukturierungen vorgenommen. Ralf Ludwig leitet seit sechs Jahren dabei das einzige wirkliche Reformvorhaben der ARD, die Einführung einer einheitlichen Software für die Verwaltung." Ludwig plane, strukturelle Defizite durch Einsparungen beim Programm und Personal abzubauen. Im Kern bedeute das: insgesamt weniger Programm mit weniger Mitarbeitern. Dass eine solche Strategie dem Personalrat nicht passe, sei klar.

+++ Über 40 deutsche Verlage haben sich bei der Bundeskartellbehörde über Google beschwert, berichtet Marc Bartl für "Kress". Sie werfen dem Unternehmen vor, seine marktbeherrschende Stellung auszunutzen, ihnen den Zugang zum Nachrichtenportal "Google News Showcase" zu erschweren und keine klaren Ansagen über die Zugangsvoraussetzungen zu machen. Google weist das zurück.

+++ Die serbische Nicht-Regierungsorganisation CRTA hat herausgefunden, dass viele serbische Medien durch Anzeigen von westlichen Firmen finanziert werden, auch von vielen deutschen. Das berichtet Pascal Siggelkow für den ARD-Faktenfinder. Problematisch ist das, weil die Medien pro-russische Botschaften verbreiten und gegen die Europäische Union agitieren. Das meiste Geld für die Anzeigen gab der Discounter Lidl aus. Aber auch der Pflegeprodukte-Hersteller Beiersdorf, die Drogeriekette dm oder der Pharmariese Bayer schalteten Anzeigen.

Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.

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