Das Altpapier am 15. Januar 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 3 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G
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Was ist relevanter: eine Royal-Abdankung in Dänemark – oder bundesweite Demonstrationen gegen AfD und Rechtsextremismus?

Mo 15.01.2024 12:48Uhr 03:14 min

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Kolumne: Das Altpapier am 15. Januar 2024 Journalismus ist kein Ü-Ei

15. Januar 2024, 09:58 Uhr

Was ist relevanter: eine Royal-Abdankung in Dänemark – oder bundesweite Demonstrationen gegen AfD und Rechtsextremismus? Außerdem: Wie lässt sich die Bedeutung der jüngsten "Correctiv"-Recherchen über rechtsextreme Deportationsstrategien definieren? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Topmeldung: die dänischen Royals

"Dänemark hat nach mehr als einem halben Jahrhundert ein neues Staatsoberhaupt." Das war die Topmeldung am Sonntag. Kann man machen. An einem Tag, an dem sonst nur Löwen für Wildschweine gehalten werden und in der Fußball-Männerbundesliga Bayern München ein Spiel gewinnt. Oder wenn man ein Boulevardmagazin ist. Aber am gestrigen Sonntag als erster Satz in der 20-Uhr-"Tagesschau"? Darüber hat sich mein Altpapier-Kollege René Martens beim Kurznachrichtendienst Bluesky sehr gewundert. Ich wundere mich mit. Was genau qualifizierte die dänische Umkrönung gestern zur Topmeldung in der linear topterminierten Nachrichtensendung der ARD? Die schönen Klamotten? Es sei "klar, dass allein schon in der Auswahl der Themen eine redaktionelle Gewichtung liegt", heißt es in einem FAQ bei Tagesschau.de. Aber ob die Waage gestern einen Knacks hatte?

30 Sekunden, ein knappes Fünftel des Royal-Berichts, war nach viereinhalb Minuten "Tagesschau" schließlich die dritte Meldung lang, dass Demonstrationen gegen die AfD und gegen Rechtsextremismus stattgefunden hätten. In "mehreren Städten" hätten demnach "Tausende" demonstriert. Wobei man nun auch noch darüber diskutieren könnte, ob nicht eigentlich sogar "Zehntausende bei bundesweiten Demos" waren (spiegel.de im, hust, Abendaufmacher). Allein in Berlin waren jedenfalls knapp 25.000 Menschen auf der Straße, wie zunächst die Veranstalter mitteilten, wie später aber auch die Polizei bestätigte. Auf der Website von tagesschau.de stand das Thema am Sonntagabend immerhin ganz oben und die dänischen Royals auf Platz fünf.

(Andererseits: Aufmacherbild der "Süddeutschen Zeitung", Seite 1 vom Montag – dänische Royals. Allerdings hat das Aufmacherbild einer Zeitung eine andere Funktion; es ist häufig, wie in diesem Fall, ein Teaser, ausgewählt auch nach ästhetischen Gesichtspunkten.)

Wie misst man Relevanz?

Wie misst man Wichtigkeit und Relevanz einer journalistischen Recherche? In Grad Celsius ja nun nicht. Wie wäre es aber mit: ausgelöster folgenreicher Interaktion? Falls das die Währung ist, war die wichtigste journalistische Veröffentlichung der jüngeren Zeit sicher die von "Correctiv" über die "Lehnitzsee-Konferenz", wie sie Ralf Heimann hier am Donnerstag genannt hat: das Netzwerktreffen von Rechtsextremisten mit a) Rechtsextremen, b) Menschen, die im Umfeld des Rechtsextremismus tätig sind, und c) Menschen, die Umgang mit Rechtsextremen pflegen. Sie handeln von einem "Geheimplan gegen Deutschland", so lautete zumindest der "Correctiv"-Titel: von Deportations- und Säuberungsstrategien, die sie als "Remigration" verharmlosen.

Die "Correctiv"-Recherche hat jedenfalls eine Menge Interaktion ausgelöst. Sie ist, erstens, der Anlass für die erwähnten Demonstrationen. Deren am Freitag noch relativ kleiner Umfang war von der spiegel.de-Überschrift "Die schweigende Mehrheit will nicht mehr schweigen" nicht wirklich gedeckt, am Sonntag wäre sie es aber schon eher gewesen.

Es gab, zweitens, bereits Folgerecherchen, etwa zu einer möglichen Beteiligung von AfD-Chef Tino Chrupalla (spiegel.de, €), zu weiteren Netzwerktreffen und zu weiteren Themen, über die in solchen Treffen worden sein soll (wie den Kauf eines Radio- und TV-Senders, der als Plattform hätte dienen sollen, wie zeit.de, €, berichtet). Es gibt, drittens, eine politische Debatte, in der sich sogar der Bundeskanzler geäußert hat, und zwar ohne dass er vorher noch ausführlich darüber geschlafen hätte.

Und zur Interaktion zählen, viertens, neben allerhand ins Netz gekotzten Drohungen und taktischen Hinweisen auf die Finanzierung von "Correctiv" auch die üblichen Relativiereien und Umdeutereien von Autorinnen und Autoren, die sich auf so etwas eben spezialisiert haben. Wir lernen: Wenn Rechtsextreme mit Verbindungen in CDU-Ränder und in die AfD, mit Einfluss, Geld und Bundestagsanbindung darüber sprechen, dass sich in diesem Land nicht sicher fühlen soll, wer ihnen im Weg steht – dann lautet die Verteidigungs-, besser Angriffslinie von Journalist:innen, die bei Medien mit A wie Achse bis Z wie Zürich im Namen arbeiten: Ja Gottchen, was sind denn alle schon wieder so hysterisch?! War doch eh alles bekannt mit der "Remigration", und "Remigration" steht ja sogar in einem wissenschaftlichen Lexikon.

Darauf ein Clowns-Emoji.

"Kalkulierte Ambivalenz"

Tatsächlich sind mit "Remigration" Vertreibungs-/Säuberungs-/Deportationsstrategien gemeint. Der Rechtsextremismusforscher und Soziologie-Professor Matthias Quent schreibt in einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (Abo), es handle sich bei dem Netzwerktreffen um ein "Lehrstück rechtsextremer Hegemoniepolitik". Und er schreibt dem Begriff "Remigration", der nun auch im breiten Diskurs platziert ist, "eine kalkulierte Ambivalenz" zu:

"Zur Verteidigung gegen Kritik kann er für das naive oder wohlwollende Publikum mit dem migrationspolitischen Mainstream und der konsequenten Abschiebung krimineller und 'irregulärer' Ausländerinnen und Ausländer gleichgesetzt werden. Aber darum geht es in Wirklichkeit nicht. Remigration bedeutet, dass Menschen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft deportiert werden sollen – aufgrund ihrer Abstammung oder fehlenden Assimilation an das künftige Regime der Rechtsextremen. Euphemistisch ist die Rede davon, dass 'hoher Anpassungsdruck' und 'maßgeschneiderte Gesetze' erforderlich seien."

Kalkulierte Ambivalenz, das ist ein Trick, mit dem viele Journalistinnen und Journalisten nicht unbedingt gut zurechtkommen. Es gibt eine Schule des Journalismus, in der man lieber brav both sides abfragt (das kann man mit gelerntem Handwerkszeug rechtfertigen), als sich mit etwas, das als Alarmismus gedeutet werden könnte, womöglich in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu begeben. Der Politologe Claus Leggewie schreibt in der "Frankfurter Rundschau" über die "Correctiv"-Recherche:

"Diese Radikalisierung war seit der Gründung der AfD vorgezeichnet, aber sie wurde stets als Alarmismus abgetan. Deshalb ist es gut, dass die wahren Absichten der 'Populisten' deutlich werden…"

… Wobei die Frage ist, ob "die wahren Absichten" nicht längst deutlich genug sind. Das behaupten ja nicht nur Autorinnen und Journalisten, die die neue Recherche kleinschreiben wollen. Sondern das ist wirklich ein relevanter Aspekt. Annika Schneiders Altpapier-Jahresrückblick begann kürzlich zum Beispiel mit drei AfD-Zitaten, die fast schon ausreichen würden, um die Frage zu stellen, was genau man eigentlich nicht gewusst haben könnte. Und von solchen Zitaten gibt es noch viel mehr.

Melanie Amann kommentiert online beim "Spiegel" (€) jedoch, es gebe sehr wohl eine neue Qualität:

"Es gibt die AfD zweimal: einmal auf dem Papier und einmal aus Fleisch und Blut. Die eine AfD findet sich im Parteiprogramm und in Positionspapieren, es ist eine halbwegs gemäßigte Rechtspartei, ein Akteur innerhalb des demokratischen Spektrums. Die andere, die reale AfD, steht längst jenseits des Verfassungsbogens. (…) Die Enthüllung bietet nun eine Chance, der Öffentlichkeit den Ernst der Lage klarzumachen. Plötzlich zeigt sich da ein Plan. Ein rechtsextremes Programm liegt auf dem Tisch, das ein AfD-Teilnehmer des Treffens auch seiner Parteiführung unterbreiten wollte. Die sei für solche Ideen sehr offen, soll der Mann versichert haben. In diesem Moment wird die doppelte AfD zu einer einheitlichen. Die reale AfD und die Partei, die nur auf dem Papier existiert, fügen sich zu einem Ganzen."

Dann läge die Bedeutung der "Correctiv"-Recherchen also darin, vage Gewusstes handfest gemacht zu haben. Andererseits schreibt Amanns Kollegin Ann-Katrin Müller, ebenfalls im "Spiegel" (€), es sei wirklich nichts Neues, dass die AfD und ihre Netzwerke einen völkischen Kern hätten und aus der Partei heraus rassistische Ideen ventiliert würden, die früher Neonazi-Parteien artikuliert hätten.

Womöglich bestätigen die Recherchen also einerseits tatsächlich vornehmlich Bekanntes. Aber zu den Aufgaben von Journalismus gehört nicht die Produktion von Überraschungseiern. Das Finden von Nachweisen schon. Damit aus Bekanntem etwas folgt, braucht es einen neuen Ansatzpunkt, einen Trigger, einen neuen und öffentlich nachvollziehbaren Peak einer Entwicklung. Eine Bedeutung der "Correctiv"-Recherchen liegt gewiss darin, diesen Peak sichtbar zu machen. (Noch mehr zum Thema im Altpapierkorb.)


Altpapierkorb (MDR-Fehlerkultur, ZDFneo-Planungen, ÖRR-Debatten mit Malu Dreyer und Oliver Schenk, Springer-Ausschüttung, Vorabendwerbung, "WISO", "Correctiv"-Recherche im Theater)

+++ "Sieht so Transparenz aus?", fragt "Übermedien" (Abo). Es geht um den MDR. Nachdem dort ein "Umschau"-Beitrag zum Thema Impfstoffe "vorübergehend" aus der Mediathek entfernt (Altpapier) und eine Erklärung gegeben worden war, die Fragen offen ließ, hat "Übermedien" nun beim MDR nachgefragt, "ob er noch aufklären will, weshalb der Film gelöscht wurde – und wie der MDR zur allgemeinen Kritik an dem Beitrag steht" (die, wie "Übermedien" anmerkt, auch vom Altpapier gekommen war). "Doch von der Pressestelle des Senders kommen keine Antworten auf unsere Fragen, sondern wieder nur die drei dürren Sätze, die auf der Richtigstellungs-Seite stehen: Sorgfaltskriterien nicht eingehalten, Beitrag depubliziert, fertig."

+++ Es gibt angeblich noch einen weiteren "Geheimplan". Beziehungsweise "Geheim-Plan". Jedenfalls schreibt "Bild" den Begriff in die Dachzeile über einen Artikel, der vom ZDF handelt. Dessen "Geheim-Plan" besteht demnach unter anderem darin, 600 Millionen Euro mehr bei der KEF angemeldet zu haben und mehr Geld in den Spartenkanal ZDFneo stecken zu wollen. Das geht auf eine Recherche des "Evangelischen Pressedienstes" zurück, über die auch die "FAZ" kürzlich schrieb. Dort hieß es, die KEF bewillige die Kostenanmeldung des ZDF nicht eins zu eins. Bei "Bild" wird das ZDF zu den ZDFneo-Plänen zitiert, es handle sich "um eine Folgewirkung der strategischen Umschichtung von Programmbudget mit dem Ziel, mehr Angebote zu produzieren, die für ein jüngeres Publikum attraktiv sind".

+++ Dass Oliver Schenk, Chef der Staatskanzlei Sachsens, für die Durchsetzung wirksamer Reformen bei den Öffentlich-Rechtlichen einen "Chief Administrative Officer" der ARD vorschlägt, mit "Durchgriffrechten und einem eigenen Budget", steht bei medienpolitik.net. Das wird wiederum zitiert in einem Beitrag von "epd Medien", in dem auch …

+++ … die rheinland-pfälzische Ministerpräsident Malu Dreyer (SPD) zu Wort kommt, die in der von Rheinland-Pfalz koordinierten föderalen Medienpolitik bekanntlich ebenfalls etwas zu sagen hat. Ihr Fokus demnach: "Öffentlich-Rechtliche müssen junge Leute abholen."

+++ In der "Süddeutschen Zeitung" (Abo) geht es, online mit besagter Malu Dreyer bebildert, um die jüngsten "Bitburger Gespräche" über die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber "nicht als Option, sondern als Überlebensstrategie". Die Bitburger Gespräche kreisen um rechtspolitische Themen.

+++ Ebenfalls in der "Süddeutschen" (Abo), allerdings der vom Samstag, wird die britische "Financial Times" (€) zitiert, weil die "mit noch nicht veröffentlichten Zahlen aus dem vergangenen Jahr für Furore" gesorgt habe: "Demnach schüttete das Unternehmen" – gemeint ist Axel Springer – zuletzt 125 Millionen Euro Dividende an seine Aktionäre aus – während beim deutschen Printgeschäft Stellen gestrichen und Bild-Regionalbüros geschlossen wurden."

+++ Und nochmal "SZ" (Abo): Cornelius Pollmer hat sich eine Woche lang alle Nasenspray- und anderen Werbespots der Gesundheitsindustrie reingezogen, die am Vorabend bei ARD und ZDF zu sehen sind. "Das von Werbetreibenden im Vorabend von ARD und ZDF ausgemachte Publikum ist multimorbid, es ist gesichert kurz vorm Totalschaden. Hier gilt, dass jegliche Beschwerden in egal welchem Alter ernst zu nehmen sind. Aber stellt sich gerade deswegen nicht die Frage, warum ausgerechnet die Geschwächten der Gesellschaft noch bestraft werden mit den konkurrenzlos allerdümmsten Werbespots, die Augen je gesehen haben, einen weiterhin stabilen Tränenfilm vorausgesetzt?"

+++ "Viele klassische Magazinformate von gestern müssen schon heute ganz anders funktionieren, um relevant zu bleiben", schreibt Peer Schader in seiner "DWDL"-Kolumne und dekliniert das an "WISO" vom ZDF durch.

+++ Dass die "Correctiv"-Recherche gut verkauft wurde, kann man festhalten, ohne damit substanzielle Kritik zu verbinden. Wie man früher sagte: Klappern gehört zum Handwerk. Damit aus den täglichen News und Storys eine Recherche herausstechen kann, lassen sich Investigativredaktionen seit geraumer Zeit einiges einfallen. Bei großen Recherchekooperationen, in deren Rahmen sehr viele Daten ausgewertet werden, wurde die Größe der Recherche zum Beispiel immer wieder einmal auch in Giga- und Terrabyte angegeben (Altpapier). Der Datensatz der Pandora Papers war zum Beispiel 2,94 Terrabyte groß, größer als jener der Panama Papers (2,6 TB) und der Paradise Papers (1,4 TB). Das sagte zwar erstmal nichts aus, aber dass da jemand eine ganze Menge herausgefunden hatte, konnte man schon mal erahnen. War dann ja auch so.

Die "Correctiv"-Recherchen über den "Geheimplan gegen Deutschland" werden nun demnächst als szenische Lesung am Berliner Ensemble aufgeführt, am Bertolt-Brecht-Theater. Kersten Augustin bemerkt das in der "taz" leicht skeptisch, und Ulrich Seidler glossiert die Idee in der "Berliner Zeitung" (€). Tatsächlich stellt sich die Paarung – investigativer Journalismus und Theaterbühne – auf den ersten Blick nicht gerade wie Topf und Deckel dar. Im Investigativen machen nicht der Plot und die Dramaturgie die Geschichte, sondern die Rechercheergebnisse, die dann hinterher im Idealfall natürlich klug und zugänglich aufbereitet werden sollten.

Andererseits passt’s doch irgendwie, denn erstens bedeutet eine "szenische Lesung" nicht eine unzulässige Fiktionalisierung. Auch die NSU-Gerichtsprotokolle wurden für das "SZ-Magazin" von Schauspielerinnen und Schauspielern gelesen. Und zweitens kann man das Theater auch als Salon und Ort der öffentlichen Debatte betrachten. Wir werden sehen, was herauskommt. Einen Livestream soll es am Mittwoch auch geben.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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