Kolumne: Das Altpapier am 19. März 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 4 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 19. März 2024 Merz’ fehlende faktische Grundlage

19. März 2024, 13:24 Uhr

Das Portal riffreporter.de seziert die Desinformationen, die Politik und Medien zum Thema Bürgergeld verbreiten. Arte zeigt heute eine Dokumentation, die unter anderem die Arbeit von Investigativjournalisten würdigt, die zu EU-Skandalen recherchiert. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Noch der größte Unsinn klingt plausibler, wenn man ihn oft genug gehört hat"

In einem Altpapier-Jahresrückblick haben wir uns bereits damit beschäftigt, dass die einst von Steve Bannon postulierte Strategie "Flood the Zone with shit" besonders beherzt angewendet wird, wenn es ums Bürgergeld geht.

Am Ende dieses ja noch jungen Jahres wird man das wohl ebenfalls schreiben können. Am Sonntag verbreitete der christdemokratische Generalsekretär Carsten Linnemann bei "Berlin direkt" zum Thema "CDU-typische Halbwahrheiten", wie der Rechtsanwalt Volker Gerloff notierte. Mit fünf "Halbwahrheiten" befasste er sich dann auch gleich kurz.

Zu einem größeren Wurf in der Bürgergeld-Debatte setzt aktuell das Portal riffreporter.de an. In einem Text, der im Einzelverkauf 1,99 Euro kostet, geht Martin Rücker auf die maßgeblichen Desinformationen ein.

"Was in der sozialpolitischen Debatte auch von einigen Medien suggeriert wird: Arbeiten lohne sich nicht, das Bürgergeld sei zu hoch und die Strafen für Menschen, die die Arbeit verweigern, seien zu lasch. Was davon stimmt wirklich?"

So lauten die letzten Worte, die vor der Paywall sichtbar sind. Eine der zentralen Fragen lautet natürlich: "Lohnt sich Arbeit gegenüber dem Bürgergeld-Bezug?" Antwort:

"Ja – und zwar immer. Vor allem in den sozialen Medien kursieren zahlreiche Rechenmodelle für Einzelpersonen und Familien, denen zufolge es angeblich lukrativer sein soll, seinen Job aufzugeben und Bürgergeld zu beantragen. Auch die AfD und die Unionsparteien verbreiten entsprechende Rechnungen, die jedoch fehlerhaft sind. Oft berücksichtigen sie nicht, dass viele Arbeitnehmer:innen im Niedriglohnsektor keineswegs nur über ihr Arbeitseinkommen verfügen, sondern ebenfalls Anspruch auf staatliche Hilfen haben. Dazu gehören zum Beispiel Kinderzuschläge und das Wohngeld, ein staatlicher Mietzuschuss."

Warum "einige Medien" bei diesem Thema Falsches "suggerieren", ist ja eine Frage, die mal eine detaillierte Betrachtung verdiente. Und das gilt auch oder erst recht dann, wenn bei den "Suggestionen" ihr Lieblings-Fritz im Spiel ist. Rücker schreibt:

"Wenn CDU-Chef Friedrich Merz (…) über Menschen spricht, 'die arbeiten könnten, aber sich ausrechnen, dass es sich eigentlich gar nicht lohnt, wenn man Bürgergeld bezieht', so entbehrt dies einer faktischen Grundlage."

Vor rund zwei Wochen hatte bereits "Monitor" einen lobenswerten Beitrag gegen die Desinformation gebracht - unter der Überschrift "Mit falschen Fakten gegen die Ärmsten".

Das generelle Problem im Umgang mit falschen Fakten benennt derweil Jonas Schaible in einem viral gegangenen "Spiegel"-Essay. Es geht dort zwar nicht ums Bürgergeld, und Friedrich Merz kommt nicht vor, aber was Schaible schreibt, passt zur gerade skizzierten Auseinandersetzung:

"Überzeugungskraft von Propaganda folgt nicht aus argumentativer Präzision, sondern aus Redundanz. Beharrlichkeit schlägt Kreativität und Wahrheit. Noch der größte Unsinn klingt plausibler, wenn man ihn oft genug gehört hat."

Die Blutbad-Metapher des Bezahlkarten-Fans

Ein X-Post von einem Fraktionskollegen Carsten Linnemanns, dem Stuttgarter CDU-Bundestagsabgeordneten Max Mörseburg, hat offenbar etwas mehr Aufregung ausgelöst als das Interview bei "Berlin direkt".

"In Deutschland gibt es ein Blutbad, wenn die Ampelregierung nicht demnächst durch eine wirtschaftskompetente Regierung abgelöst wird",

hatte Mörseburg am Montag zunächst in Muskistan verbreitet. Schnell löschte er den Satz, natürlich nicht, ohne sich gleichzeitig dafür zu rechtfertigen, dass er ihn überhaupt gepostet hatte. Das ist ja üblich in diesen Kreisen.

Alexander Roth hat für die Medien des Zeitungsverlags Waiblingen mit Mörseburg gesprochen - und geht dabei auch auf die samstägliche Donald-Trump-Rede ein, auf die sich der CDU-Mann bezieht. Roth zitiert Mörseburg unter anderem folgendermaßen:

"'Ich habe zunächst mal keinen Grund, Donald Trump als Person oder seine Rede inhaltlich zu unterstützen.' Er habe sich aber über die Skandalisierung des Wortes 'blood bath' in deutschsprachigen Medien aufgeregt. Das sei eine 'gängige Metapher', die auch in deutschen Medien schon verwendet wurde. Wer beispielsweise CNN lese, stoße direkt auf den wirtschaftlichen Kontext von Trumps Aussage. In Deutschland habe man sich an dieser Formulierung 'aufgehängt', statt die 'absolut kritikwürdigen’ Teile von Trumps Rede in den Fokus zu nehmen. Mörseburg nennt hier zum Beispiel die seinem 'Menschenbild als Christ widersprechenden Tiervergleiche'."

Das wirft natürlich Fragen auf. Hätte jemand, der links von Mörseburg steht, Erfolg damit, wenn er bei Musk "In Deutschland gibt es ein Blutbad, wenn die Ampel durch eine wirtschaftlich inkompetente CDU/CSU-Regierung abgelöst wird" postet und dann hinterher argumentiert, er habe eine "gängige Metapher" verwendet? Wohl kaum. Springer, Hanfeld und Co. würden jedenfalls mindestens drei Tage im Dreieck springen. Und: Warum lässt sich jemand überhaupt von einer Äußerung aus einer Rede einer Person inspirieren, die er "inhaltlich" gar nicht unterstützt? Am drolligsten ist natürlich Mörseburgs Verweis auf sein "Menschenbild als Christ".

Kürzlich hat Mörseburg vorgeschlagen, das Bezahlkarten-Modell auch für Bürgergeld-Empfänger umzusetzen (womit wir teilweise wieder beim Thema von eben wären). Ein Nutzer der Plattform abgeordnetenwatch.de findet das nicht so christlich. Er fragt Mörseburg, ob sein "Vorschlag" auch für ihn gelte und ihm "als Bezieher von Bürgergeld, der zwei nahe Angehörige mit Pflegegrad 3 an 7 Tagen in der Woche rund 18 Stunden am Tag pflegt, (…) kein Bargeld mehr zustehen soll?"

Geantwortet hat Mörseburg darauf bisher nicht.

Journalisten als Helden der Korruptionsaufklärung

Auf Filme, in denen Journalisten eine tragende Rolle spielen, gehen wir an dieser Stelle immer wieder ein, unabhängig davon, ob es sich um fiktionale oder dokumentarische Produktionen handelt. Heute Abend läuft zur Prime Time auf Arte mal wieder so ein Film: die 90-minütige Dokumentation "Gekaufte Politik – Europa in der Korruptionskrise". Im Zentrum steht "Katargate" - der "bislang größte Korruptionsskandal in der EU", wie es in der Ankündigung heißt - und zumindest am Rande geht es in diesem Kontext auch noch einmal um die Fußball-WM 2022. Ein weiterer Fokus liegt auf einem Skandal, in dem die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre SMS-Kommunikation im Zuge des Abkommens der EU mit dem Impfstoffhersteller Pfizer im Mittelpunkt stehen.

Zu diesen beiden Fällen äußern sich im Film Journalisten, die an der Aufklärung wesentlich beteiligt waren: Elisa Braun, Leiterin eines "Katargate"-Teams von "Politico", ihr Kollege Eddy Was, der Ex-netzpolitik.org-Redakteur Alexander Fanta (heute bei der Plattform "Follow the money") sowie Simon van Darpe und Liese Witteman (beide ebenfalls "Follow the money"). Matina Stevis-Gridneff, Leiterin des Brüsseler Büro der "New York Times", wird zwar nur kurz erwähnt, aber ein Gerichtsverfahren, das Stevis-Gridneff mit angestoßen hat, spielt eine wichtige Rolle in der Arte-Dokumentation: eine Klage der "New York Times" vor dem Gericht der Europäischen Union. Die Zeitung will erreichen, dass die Europäische Kommission von der Leyens besagte SMS-Kommunikation veröffentlicht.

Alexander Fanta ("Ursula von der Leyen hat eine lange Geschichte, Beweismittel, wichtige Dokumente zu unterdrücken. Das muss man einfach so hart sagen") ging während der Dreharbeiten davon aus, dass über die Klage der "New York Times" noch vor der Europawahl im Juni entschieden wird, mittlerweile sieht es aber nicht mehr danach aus, wie er vor zwei Monaten postete.

Apropos Europawahl: Der Film blickt auch nach vorn - auf ein internationales Großrechercheprojekt, an dem "mehr als 40 Medienhäuser aus 43 EU-Staaten arbeiten" und das "Follow the money" in Kürze veröffentlichen wird.

Geplant ist ein, wie es im Film heißt, "Online-Katalog", der für alle Kandidaten, die sich im Juni für einen Parlamentssitz bewerben, Auskunft darüber gibt, inwiefern sie für Bestechlichkeit empfänglich sind.

Und um noch einmal auf das Stichwort "Katargate" zurückzukommen: Über Katar als Austragungsort für Sportereignisse werden wir weiter diskutieren müssen: Die Fifa hat ihre innige Liebe zu dieser Monarchie gerade wieder zum Ausdruck gebracht, indem sie fünf aufeinanderfolgende WM-Turniere der männlichen U17-Nationalmannschaften dorthin vergeben hat.


Altpapierkorb (Islam-Berichterstattung, Literaturtalks, Annika Schneider)

+++ Der vor rund einem dreiviertel Jahr publizierte 400-Seiten-Bericht des "Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit" wird zwar wohl bald "wieder veröffentlicht" (tagesschau.de am vergangenen Mittwoch), steht aber derzeit noch wegen einer kleinen Überarbeitung offline. Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen überbrücken diese Offline-Phase nun durch eine Pressemitteilung, in der sie die Essentials des Berichts zusammenfassen. In der Mitteilung heißt es zum Beispiel: "Nach wie vor werde in Medien 'weit mehr über als mit Muslim*innen gesprochen' (…) Muslim*innen würden kaum als Sprecher*innen in Erscheinung treten und 'in hohem Maße objektifiziert.’" [Kursivierung im Original - RM] Darauf, dass zumindest einige der 16 Studien und Gutachten, die für den Bericht eingeholt wurden, weiterhin online stehen, hatte ich am Freitag hingewiesen.

+++ Am Donnerstag beginnt die Leipziger Buchmesse, und "rechtzeitig", so Doris Akrap in der taz, hat die Literaturkritikerin Insa Wilke, die ein "großartiges Talent" dafür habe, Bücher "aufzuschließen", nun ein neues Online-Talkformat gestartet: "Café lit". Die FAZ hatte bereits in der vergangenen Woche über diese Literatursendung geschrieben, sie erinnere "an Gesprächssituationen unter aneinander interessierten Menschen. Also an etwas, das man in Talkshows kaum noch sieht. Und im Alltag immer seltener erlebt". Eine weitere neue Gesprächssendung startet in einer Woche in der ARD-Mediathek: "Longreads" mit Helene Hegemann. Sie spricht mit ihren Gästen über ein Buch, das deren "Leben verändert hat und ihnen viel bedeutet", teilt der zuständige RBB mit. Das wiederum erinnert auf den allerersten Blick nach Jagoda Marinićs Arte-Mediathek-Format "Das Buch meines Lebens", das 2023 für den Grimme-Preis nominiert war.

+++ Am vergangenen Mittwoch schrieb Annika Schneider leider zum vorerst letzten Mal eine Altpapier-Kolumne. Der Grund: Sie arbeitet ab kommender Woche als Redakteurin für "Übermedien". Die Kollegen dort meldeten das am Montag in eigener Sache. Viel Erfolg, Annika!

Das morgige Altpapier schreibt Christian Bartels.

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