Das Altpapier am 19. November 2018 Der Spiegelbild-Spin
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Am Freitagmittag verkündete die ARD, ihre Serie "Lindenstraße" nach nicht ganz vier Jahrzehnten einzustellen. Die Reaktionen ... Ein Altpapier von Christian Bartels.
An wortgewaltigen Frauen und Männern – jugendlich geschrieben: Ehrenfrauen und -männern – mangelt es in der ARD wahrlich nicht. Mit am allerwortgewaltigsten muss natürlich der Programmdirektor sein. Und da hat Volker Herres in der am Freitag um Punkt 12.00 Uhr mittag veröffentlichten Pressemitteilung wieder mal Maßstäbe gesetzt bis geklotzt:
"Denn die 'Lindenstraße' ist eine Ikone im deutschen Fernsehen, die uns seit Jahrzehnten begleitet. Sie ist Spiegelbild der Geschichte und Entwicklung unserer Republik ..."
wird er im Rahmen der Ankündigung, eben diese Serie aus Kosten- und Einschaltquotengründen im März 2020 einzustellen, zitiert.
"Was bedeutet dann die Einstellung der Serie für die BRD?", fragte gleich zu Beginn des Feuerwerks an Reaktionen die kleine Monatszeitung Oxi (die am Franz-Mehring-Platz in Berlin erscheint, also mit der Tageszeitung Neues Deutschland verbunden ist, die historisch der ehemaligen anderen, bloß sogenannten Republik enstammt ...) per Twitter.
Es ist ein bisschen unklar, ob die "Pressemitteilung wie ein Hammer" (Tagesspiegel) der alten Regel folgte, Einstellungs-Nachrichten am besten freitagnachmittags zu verkünden, wenn die Wochenendausgaben der Zeitungen fast fertig sind. (Was natürlich nur für Einstellungen im Sinne von aufgeben/ abschaffen gilt; über Einstellungen im Sinne von: anstellen/ Arbeitsplätze schaffen wird quasi nie freitagnachmittags berichtet ...). Einerseits hatte die Fernsehprogrammkonferenz der ARD ihren Entschluss schon am Mittwoch getroffen. Andererseits ist 12.00 Uhr mittags ja noch kein Nachmittag. Und wackere Autoren und Redakteure wie Hans Hoff und Michael Hanfeld, Christian Meier und Imre Grimm können ohne weiteres innerhalb weniger Stunden spontan größere Abgesänge aus dem Ärmel bzw. ihrem Repertoire schütteln. Wobei der Herres-Spin, die Serie mit der Bundesrepublik zu vergleichen (die sich nach individuellem Belieben mit Attributen wie "alt" und/oder "westlich" verknüpfen lässt), jedenfalls voll auf ging.
"Die 'Lindenstraße' ist eine Serie der alten Bundesrepublik und der Kohl-Ära. Sie ist Seniorenfernsehen geworden, das dank der Langmut der ARD ein hohes Serienalter erreicht hat",
schrieb, wie meist am meinungsstärksten, Micha Hanfeld in der Samstags-FAZ. Lieber mit dem ähnlich langfristig angekündigten Merkel-Rückzug verknüpfte der angesichts der "Herkulesaufgabe, jede Woche das ganze Elend der Bundesrepublik im gequetschten Kosmos einer Münchner Straße spiegeln zu müssen", etwas empathischere Hans Hoff auf der SZ-Medienseite das Thema. "So etwas wie das Ende der alten westdeutschen Republik im öffentlich-rechtlichen Fernsehen", antizipierte Christian Meier in Springers Welt. "Erst die Kanzlerin, jetzt die 'Lindenstraße'. Deutschland verliert seine Konstanten", heißt's in der Frankfurter Rundschau.
Bloß den "endgültigen Abschied von der alten Bundesrepublik" diagnostizierte indes Imre Grimm vom Redaktionsnetzwerk der Madsack-Medien, der den Blick wohl am breitesten aufzog:
"Von einer sanft erzieherischen, sozialkritischen Unterhaltungsreihe träumte Produzent Hans W. Geißendörfer Ende der Siebzigerjahre. Er gehörte der linken Intelligenzia an, er hatte als Regisseur Ibsens 'Wildente' und Thomas Manns 'Zauberberg' verfilmt. Und er verfolgte eine alte linke Idee: die Versöhnung von Unterhaltung und Aufklärung im Erziehungsfernsehen."
Wann haben Sie zuletzt das (russische!) Fremdwort "Intelligenzia" gehört oder gelesen? "Sozialdemokratisches Erziehungstheater", schreibt dann in einem später online nachgereichten, einerseits auf 17-jähriger Serien-Mitwirkung, andererseits auf anschließender 16-jähriger Distanz basierenden Erfahrungsbericht die taz-Berlin-Redakteurin Susanne Memarnia. Zunächst hatte die taz, die ihre Wochenend-Ausgabe ja immer etwas früher vorproduziert, das Thema bloß noch in eine ihrer vielen Glossenformate eingepflegt: "Die 'Lindenstraße', sie war das alte Deutschland", leitet Adrian Schulz seine "Liebeserklärung"-Kolumne ein, ganz ohne "West-" oder "Bundes"-Präfix, dafür mit der anekdotischen oder gerade nicht anekdotischen Korrelation, dass er selbst "ziemlich genau nach der letzten Bundestagswahl aufhörte, sie zu schauen".
Wo blieben die Zuschauer?
Und aufgehört zu schauen, haben im Lauf der Jahre und Jahrzehnte viele.
"Bei Zuschauern mittleren Alters, den Jüngeren sowieso, kommt die Serie nicht an. Es gibt einen Generationenabriss, der sich mit dem Selbstverständnis der 'Lindenstraße' nicht verträgt",
schreibt Hanfeld. Dass die Serie "es in ihrem vierten Jahrzehnt schwerer hat als je zuvor, noch von alten wie jungen Zuschauern wahrgenommen zu werden", Meier. Warum sie irgendwann "nur noch unregelmäßig rein" schaute, schreibt im bislang einzigen relevanten Spiegel/ SPON-Beitrag Anja Rützel. Die relativ meisten Zahlen hat meedia.de. Hans Hoff machte dabei in seinem Samstags-Artikel das Henne-Ei-Problem auf:
"Die nachlassenden Einschaltzahlen korrelierten deutlich mit einer kargeren Finanzausstattung der Serie und mangelnder ARD-interner Wertschätzung. Dies drückte sich in immer häufigeren Abschiebungen in die Digitalwelt aus, und im vergangenen Jahr gab es gar erstmals eine Sommerpause für die Lindenstraße. Zudem sank die Zahl der Folgen pro Jahr, die früher konstant über 50 gelegen hatte, erstmals auf 45."
Was dann am Abend selben Samstag zu einem Interview mit den Produzenten Hans W. und Hana Geißendörfer führte, das die Süddeutsche heute auf ihrer Medienseite (€) abdruckt. "Die ARD hätte über die Jahre durchaus mehr tun können, um unsere Quote zu fördern", beklagt da die junge Produzentin – und hat schon damit recht, dass wer eher abends fernsieht, von der vorabendlichen "Lindenstraße" kaum etwas mitbekommt. Ihr Vater, Hans, nennt, gewiss auch für eventuelle neue Interessenten, quasi den genauen Preis seiner Serie ("Der durchschnittliche Minutenpreis des 18.50-Uhr-Sendeplatzes in der ARD liegt bei 8750 Euro. Wir liegen drunter") und berichtet von dem Aus vorangegangenen Verhandlungen:
"Wir waren bereit, es zum selben Preis fortzusetzen wie jetzt, was natürlich einem tatsächlichen Verlust gleichkommt, weil man die Inflation, steigende Löhne und so weiter einrechnen muss."
Wo bleiben die Proteste?
Ja, gibt's denn keine Proteste? Petitionen ("Wir Fans fordern, dass dieses Stück Kulturgut fortgesetzt wird ...") gibt es bereits.
Die meisten abgeklärten Medienbeobachter wollen sich nicht in die Bresche werfen. "So ist das halt, wenn man um der Weltrettung Willen Fernsehen macht: Irgendwann wird es verkrampft", findet selbst Madsacks Imre Grimm.
Wie sieht's am Produktions-Standort Köln aus? Die wichtigste Zeitung dort, Dumonts Stadtanzeiger, bietet online das gewohnt triste Bild aus möglichst vielen kleinen Agenturmeldungen und Das-sagt-das-Netz-Schauen. Allerdings stammt der bereits verlinkte Frankfurter-Rundschau-Beitrag von der KSTA-Bunte-Seiten-Redakteurin Christiane Vielhaber. Sie schreibt u.a.:
"Dass nun ganz offen Kostengründe und schwache Einschaltquoten als Begründung für die Einstellung genannt werden, ist schon überraschend. Vor allem, wenn die ARD-Verantwortlichen die Serie eine 'Ikone' nennen. Wer schafft schon freiwillig eine Ikone ab? Und das auch noch bei den Öffentlich-Rechtlichen, die doch einen Auftrag haben?"
Da setzen auch die Betroffenen, von denen einstweilen die schärfsten Proteste kommen, an. Die Geißendörfers äußerten sich auf der Seite ihrer Produktionsfirma gff.film und bei Twitter "in Zeiten von Rechtsruck und Ausländerfeindlichkeit" "bestürzt" über die Nachricht. Von Video-Interviewern der Bild-Zeitung "bei einem Wohltätigkeits-Golfturnier ... in Griechenland"erwischt, traf die gesamtgesellschaftlich bekannteste Schauspielerin ihrer Serie, Marie-Luise Marjan, die ARD da traf, wo es ihr weh tut:
"Die ARD hat einen öffentlich-rechtlichen Auftrag. Wir zahlen Steuern dafür. Und wir müssen doch ein gehaltvolles Programm bekommen", sagt die Schauspielerin."
Zwar stellen pflichtbewusste Medienmedien natürlich gleich klar, dass der Rundfunkbeitrag, auch wenn er ein bisschen so aussieht, keine Steuer ist. Aber genau das dürfte zum anderen, langfristigeren Spin, zu dem "Lindenstraße" so oder so noch beitragen wird, werden.
"Das Ende ist als Kommentar zu lesen, wie er in die Lindenstraße nicht besser passen würde: Die Rechner haben gesiegt",
schließt Doris Priesching ihr "Adieu 'Lindenstraße'!" im österreichischen Standard. Und Rechner, die mit diesen und jenen Zahlen so um sich werfen, wie es ihnen ins Konzept passt, gibt es ja auf allen Seiten. Michael Hanfeld, offenkundig kein "Lindenstraßen"-Fan, gab in seinem Artikel gleich eine Kostprobe ("Das mit den Sparzwängen ist Unsinn, die ARD ist finanziell bestens ausgestattet und könnte sich die 'Lindenstraße' ederzeit leisten"). Wer den Krimis-Ausstoß der ARD betrachtet oder das, was sie für Fußballspiel-Übertragungsrechte ausgibt, kann das kaum ganz falsch finden.
Die ARD, die wie die Öffentlich-Rechtlichen überhaupt mit ihrem Sparbemühungs-Spin in weiten Teilen des Publikums weniger durchdringt als Reaktanz hervorruft (die ja noch anschwellen wird, sobald eventuelle Beitragserhöhungen im Raum stehen), hat also ihre traditionsreichste Fernsehserie einzustellen angekündigt. Der "Tatort" ist ja eine Reihe. Es handelt sich um eine Serie, die sich leicht auch dann relevant finden lässt, wenn man sie kaum jemals gesehen hat – was für alle übrigen lang laufenden ARD-Serien kaum gelten kann. Der Entschluss mag unter diversen Einzelaspekten, etwa dem der Einschaltquoten, gerechtfertigt sein, aber Einschaltquoten besitzen ja nicht überall dieselbe Relevanz wie in Programmdirektionen. Hoffentlich hat sich die ARD das gut überlegt.
"Die grundlegenden Inhalte der 'Lindenstraße' sind nicht verhandelbar –sie entsprechen dem Programmauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender. Die Frage kann nur sein: Wie kann man diese Inhalte verpacken, damit sie das Publikum erreichen? Eine wöchentliche Soap Opera, die bereits seit 1985 gesendet wird, ist offenbar nicht mehr die Antwort auf diese Frage. Da die Programmverantwortlichen der ARD nun beschlossen haben, 'Die Lindenstraße' in anderthalb Jahren einzustellen, müssen sie sich spätestens seit dem Zeitpunkt, an dem sie die Entscheidung gefällt haben, Gedanken darüber machen, wie diese Lücke gefüllt werden kann, die die wöchentliche Serie hinterlässt. Es wäre ein sehr großer Fehler, diese Lücke einfach klaffen zu lassen",
schreibt im bislang wohl besten Beitrag zum Thema dwdl.des Serienfüchsin Ulrike Klode.
Altpapierkorb (Olympia-Fernseh-Filetierung, tipptopp organisierte Tage, Abbas Kiarostami, Medien und Polizei)
+++ Hoppla, ist Joachim Hubers Vorschlag im Tagesspiegel, in den "gewonnenen 30 Minuten Fernsehzeit am Sonntagabend" ab 2020 "ein Bürger-trifft-Politiker-Format" zu senden, ernst gemeint oder abgefeimt sarkastische Satire?
+++ Noch'n interessantes Interview (auch €) in der SZ, im Wirtschaftsressort. Caspar Busse führte es mit dem deutschen Finanzvorstand des US-amerikanischen Medienkonzerns Discovery.
Mit dessen milliardenschwerem Olympia-Fernsehrechte-Geschäft zeigt sich Gunnar Wiedenfels sehr zufrieden ("Die Grundidee beim Kauf der Rechte war, uns in eine Gatekeeper-Funktion zu bringen. Wir haben alle Rechte für ganz Europa, über alle Plattformen hinweg. Es war auch von Anfang an geplant, diese Rechte zu filetieren und mit anderen zu teilen"; allerhand Filets haben schließlich ja doch ARD und ZDF gekauft) und weist die Idee, den deutschen Discovery-Plattform-Partner ProSiebenSat.1 (siehe AP vom Donnerstag) zu kaufen, mit einem "Das ist derzeit nicht naheliegend" sehr zurückhaltend zurück.
+++ Der Tagesspiegel hat Barbara "Barbara" Schöneberger interviewt ("Sie machen Fernsehen, singen, schauspielern, Sie haben die Zeitschrift 'Barbara' und machen jetzt barba radio. Hat Ihr Tag mehr als 24 Stunden?" – "Mein Tag wird einfach tipptopp von meiner Managerin organisiert ...").
+++ Die FAS interviewte die Macher der Zeitschrift Das Wetter und fragte sie nach der Bedeutung dieses Namens. "'Das Wetter' war hängengeblieben und passte auch: Wetter ist ein Gesprächsthema, auf das man zurückgreift, wenn man sonst keins hat, und etwas, worüber man zu jeder Zeit reden kann. So sollte das mit dem Magazin auch sein", antwortet Sascha Ehlert.
+++ Der "Tag des inhaftierten Schriftstellers", an dem die taz an dem zu lebenslanger Haft verurteilten türkischen Schriftsteller Ahmet Altan erinnerte, liegt schon vier Tage zurück. Doch die Inhaftierungen dauern an, daher sollten Sie auch hier klicken.
+++ "Einen schöneren, würdigeren Film hätte dieser Meisterregisseur nicht hinterlassen können", schreibt Oliver Jungen im FAZ-Fernsehtipp über Abbas Kiarostamis, von seinem Sohn beendeten Experimentalfilm "24 Frames", den Arte heute schon vor Mitternacht (23.35 Uhr) zeigt.
+++ Der Rundfunkbeitrag ist keine Steuer, aber in den Aufsichtsgremien der Anstalten mischt die Politik durchaus mit. Ilse Aigner, "seit dem 5. November neue Präsidentin des bayerischen Landtags in München, ist seit demselben Zeitpunkt auch neue Vorsitzende des Verwaltungsrats des Bayerischen Rundfunks", meldet die Medienkorrespondenz.
+++ René Martens' neulich schon erwähnten epd medien-Leitartikel "zum schwierigen Verhältnis von Medien und Polizei" gibt's inzwischen frei online.
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.