Innenraum, Kirchenschiff, einer leeren Kirche.
Die Zahl der Kirchenaustritte wird von Jahr zu Jahr größer. Bildrechte: IMAGO/Sven Simon

MDRfragt Für deutliche Mehrheit haben christliche Werte kaum Bedeutung

20. November 2023, 05:00 Uhr

Mehr als jeder zweite MDRfragt-Teilnehmende misst christlichen Werten wie Nächstenliebe oder Gerechtigkeit wenig bis keine Bedeutung für unsere Gesellschaft bei. Zugleich denkt die Mehrheit jedoch auch, dass die Kirchen mit ihren sozialen Angeboten eine Lücke schließen, die der Staat offen lässt. Das zeigt eine nicht repräsentative, aber gewichtete Befragung von MDRfragt unter mehr als 23.000 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

MDR-Redakteurin Anna Siebenhaar
MDR-Redakteurin Anna Siebenhaar Bildrechte: MDR / David Sievers

Im vergangenen Jahr haben die Kirchenaustritte in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. 2022 traten 522.821 Menschen aus der katholischen Kirche aus. Die evangelische Kirche verzeichnete im gleichen Jahr 380.000 Austritte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche Bedeutung haben die christliche Kirchen und ihre Werte noch für unsere Gesellschaft?

Die deutliche Mehrheit der MDRfragt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer misst christlichen Werten, wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Solidarität oder Versöhnung, wenig bis keine Bedeutung für unsere Gesellschaft bei. Mehr als ein Drittel denkt hingegen schon, dass diese eine relativ große Bedeutung haben.

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MDRfragt-Mitglieder zu Gast bei Fakt ist! aus Erfurt

Viele Werte werden nicht dem Christentum verbunden

In den Kommentaren der MDRfragt-Mitglieder wird deutlich, dass die Werte, wie Nächstenliebe oder Solidarität, an sich für Viele durchaus eine große gesellschaftliche Bedeutung haben. Jedoch verbinden nur Wenige diese in der heutigen Zeit mit dem Christentum.

So schreibt MDRfragt-Mitglied F. (21) aus Chemnitz zum Beispiel: "Ich denke, dass die Werte als Solches für unsere Gesellschaft wichtig sind, jedoch nichts mit "christlich" zu tun haben. Sie sind zum Teil in unseren Gesetzen verankert und für jeden wichtig und verbindlich." Sandra (26), ebenfalls aus Chemnitz, sieht das ähnlich. Sie verankert die Werte zwar durchaus im Christentum, kritisiert aber zugleich: "Die christlichen Werte stehen mittlerweile zum Teil im Grundgesetz, die Kirche hingegen hat den Sprung ins neue Jahrhundert verpasst und sich durch die Skandale der letzten Jahrzehnte selbst ins Abseits gestellt." Dem schließt sich Reinhard (75) aus Nordhausen an. Für ihn sind die Werte an sich "für ein friedliches Zusammenleben der Menschen unverzichtbar". Zugleich hat sich aus seiner Sicht aber "die Kirche zu wenig der Zeit angepasst."

Die christlichen Werte stehen mittlerweile zum Teil im Grundgesetz, die Kirche hingegen hat den Sprung ins neue Jahrhundert verpasst.

MDRfragt-Mitglied Sandra (26), Chemnitz

Tatsächlich wird in den Kommentaren immer wieder Kritik an der Kirche geäußert und dabei deutlich zwischen dieser und dem Christentum an sich unterschieden. Michaela (48) aus der Börde misst beispielsweise den christlichen Werten eine große und den Kirchen an sich eine eher geringe Bedeutung zu und erklärt: "Die christlichen Werte können die Gesellschaft zueinander führen. Die Kirche vertritt diese Werte jedoch häufig nur nach Außen und wendet sie nicht im Inneren an."
Auch Dorit (27) aus Jena unterscheidet bewusst zwischen den christlichen Werten und der Kirche. Sie schreibt: "Die Werte Nächstenliebe, Toleranz, Ehrlichkeit und Respekt sind universell wichtige Werte. Deshalb sind sie nicht nur im Christentum, sondern in vielen anderen Religionen verankert. Aber für diese Werte brauche ich die Kirche nicht. Schon gar nicht, wenn es in der Institution so eine Doppelmoral gibt und sich Personen der Institution in so großem Stil selber Verfehlungen gegenüber diesen Werte erlauben."

Anders sieht das MDRfragt-Teilnehmer Lars (50) aus Zwickau, für welchen die christlichen Werte und die Kirchen durchaus eine gesellschaftlich relevante Einheit darstellen. Er bedauert, dass "viele Menschen die wertvolle Arbeit der Kirchen nicht sehen." Analog dazu kritisiert er, dass sich "gerne auf die christlichen Werte bezogen wird", ohne aber die Kirchen zu unterstützen. Auch Nicky (36) aus dem Harz betrachtet beides als Einheit. Er denkt, dass "die Werte, die letztendlich die Kirche vertritt, für die gesamte Gesellschaft maßgeblich sind."

Drei Viertel werten gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen als gering

Wie es die Kommentare vieler MDRfragt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer bereits vermuten lassen, schreiben mehr als drei Viertel den Kirchen an sich wenig bis keine Bedeutung für unsere Gesellschaft zu. 18 Prozent sehen das jedoch anders – sie schätzen die Bedeutung der Kirchen als relativ groß ein.

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Knapp zwei Drittel halten Kirchenaustritte nicht für problematisch

Analog dazu halten knapp zwei Drittel der MDRfragt-Mitglieder, die sich an der Befragung beteiligt haben, die Zahl der Kirchenaustritte nicht für gesellschaftlich problematisch. Mehr als ein Viertel hingegen schon.

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Im sozialen Bereich hält die Mehrheit Kirchen für wichtig

Blickt man auf den sozialen Bereich, scheint sich das Meinungsbild jedoch zu ändern. So sind 53 Prozent der MDRfragt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer der Ansicht, dass die Kirchen mit ihren sozialen Angeboten Lücken schließen, die der Staat offen lässt. 36 Prozent teilen diese Ansicht hingegen nicht.

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Welchen Beitrag die Kirchen dabei konkret leisten, berichtet MDRfragt-Mitglied Jürgen (36) aus Weimar. Er schreibt: "Kirchliche Vereine oder Gemeinschaften tragen in vielen Kommunen zur Unterstützung der Armen und Vernachlässigten bei oder organisieren auch Veranstaltungen und Ausflüge." Zudem sieht er die Kirchen als "Zufluchtsort für Ausgegrenzte, Verfolgte und Opfer von Gewalttaten." Aus Jürgens Sicht ist das ein "Beitrag, den wir im Land nicht missen wollen". Dorit (27) aus Jena kommentiert ähnlich. Sie denkt: "Die sozialen Angebote der Kirche sind einfach immer noch oft unschlagbar. Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht Kosten oder Personalbedenken". Sie empfindet die kirchliche Gemeinde als "Gemeinschaft, die sich um einander kümmert und Halt gibt."

Die sozialen Angebote der Kirche sind einfach immer noch oft unschlagbar. Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht Kosten oder Personalbedenken.

MDRfragt-Mitglied Dorit (27), Jena

Zugleich kritisieren jedoch auch viele MDRfragt-Mitglieder die Tatsache, dass Lücken im sozialen Bereich überhaupt geschlossen werden müssen.

So findet Hans-Jürgen (62) aus Mittelsachsen es "schlimm und traurig, dass der Staat überhaupt Lücken lässt, die die Kirche schließen muss." Dem schließt sich Ines (58) aus Magdeburg an. Aus ihrer Sicht ist es "sehr bedauerlich, dass der Staat seiner sozialen Verantwortung in Bildungseinrichtungen, Gesundheit und Pflege nicht vollumfänglich gerecht wird und diese Verantwortung teilweise an kirchliche Träger ausgelagert wird." Vor diesem Hintergrund und mit einem Blick in die Zukunft fordert Irmgard (63) die Lücken anderweitig zu schließen, nicht zuletzt weil "die Kirchen immer weniger Mitglieder und damit weniger finanzielle Mittel haben werden."

70 Prozent rechnen mit Bedeutungsverlust der Kirchen

Und wie steht es um die Zukunft der Kirchen? 70 Prozent der Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer denken, dass die Bedeutung der Kirchen in Zukunft abnehmen wird. Ein Fünftel ist hingegen der Ansicht, dass diese etwa gleich bleibt. Lediglich 3 Prozent rechnen mit einem Bedeutungszuwachs der Kirchen.

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Über diese Befragung Die Befragung vom 10. bis 14. November 2023 stand unter der Überschrift:
Streikzeit – nachvollziehbar oder nervig? Diese enthielt auch Fragen zur Bedeutung der Kirche.

Insgesamt sind bei MDRfragt 65.918 Menschen aus Mitteldeutschland angemeldet (Stand 14. November 2023, 10:00 Uhr).

23.452 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben online an dieser Befragung teilgenommen.

Verteilung nach Altersgruppen:
16 bis 29 Jahre: 214 Teilnehmende
30 bis 49 Jahre: 2.930 Teilnehmende
50 bis 64 Jahre: 9.802 Teilnehmende
65+: 10.506 Teilnehmende

Verteilung nach Bundesländern:
Sachsen: 11.994 (51 Prozent)
Sachsen-Anhalt: 5.779 (25 Prozent)
Thüringen: 5.679 (24 Prozent)

Verteilung nach Geschlecht:
Weiblich: 10.027 (43 Prozent)
Männlich: 13.361 (57 Prozent)
Divers: 64 (0,3 Prozent)

Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ. Wir haben sie allerdings in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat nach den statistischen Merkmalen Bildung, Geschlecht und Alter gewichtet. Das heißt, dass wir die Daten der an der Befragung beteiligten MDRfragt-Mitglieder mit den Daten der mitteldeutschen Bevölkerung abgeglichen haben.

Aufgrund von Rundungen kann es vorkommen, dass die Prozentwerte bei einzelnen Fragen zusammengerechnet nicht exakt 100 ergeben.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! Aus Erfurt | 16. Oktober 2023 | 22:10 Uhr