Aktenstapel
Immer komplexere Dokumentationspflichten belasten die Wirtschaft und lähmen den Ausbau. Bildrechte: IMAGO / Westend61

Kommentar Deutsche Bürokratie – wenn Beschleunigung zum Stillstand führt

16. Mai 2024, 11:44 Uhr

Bürokratieabbau wollte die Bundesregierung mit Gesetzen zur Planungsbeschleunigung und Modernisierung von Vergaberichtlinien erreichen. Doch das Gegenteil war der Fall, wie "Umschau"-Autor Malte Wilms zeigt. Dokumentationspflichten und schwer durchschaubare Regelungen werden für immer mehr Unternehmen zur Zerreißprobe.

"Das Bürokratieentlastungsgesetz IV bringt weitere Entlastung", schreibt das Bundesjustizministerium gleich mehrfach auf seiner Homepage. Ein Entlastungsgesetz, das – Überraschung! – Entlastung bringen soll. Justizminister Marco Buschmann spricht sogar von einem "Bürokratie-Burnout", in welchem das Land stecke. Willkommen in Deutschland, ein Land, welches Bürokratie mehr zu lieben scheint, als weiße Socken in Adiletten.

Dabei ist Bürokratie nicht mal ein deutsches Wort, entlehnt vom französischen "bureaucratie" beschreibt es die "Herrschaft der Verwaltung". Und weil diese Herrschaft sich anschickt, zur Diktatur zu werden, sind die Versuche, Bürokratie einzudämmen seit jeher hoch im Kurs. Und deswegen wird in deutschen Gesetzen gerne "modernisiert" und "beschleunigt". Doch klappt das? Oder ist die deutsche Bürokratie in Wahrheit eine Hydra – versucht man, ihr einen Kopf abzuschlagen, wachsen gleich zwei wieder nach?

Das Planungsbeschleunigungsgesetz und die A49

Beispiel: das "Gesetz zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich", auch bekannt als "Planungsbeschleunigungsgesetz". Dieses Gesetz wurde im Jahr 2017 verabschiedet. Ziel: Planungs- und Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte im Verkehrsbereich zu beschleunigen, um die Realisierung von dringend benötigten Bauprojekten zu erleichtern. Kurzum, der Abbau von langwierigen bürokratischen Hürden, um die Zeit zwischen der Planung und der Umsetzung von Infrastrukturprojekten zu verkürzen. Das Gesetz sah vor, die Beteiligung der Öffentlichkeit zu straffen und die Anzahl der Einspruchsmöglichkeiten zu begrenzen, um Verzögerungen bei Bauprojekten zu verhindern, so das hehre Ziel.

Wie gut das klappte? Ein schönes Beispiel ist der Bau der A49 von Kassel nach Gießen. Eine Autobahn, die seit mehr als 50 Jahren geplant und gebaut, beziehungsweise nicht gebaut wird. Das neue Gesetz, das zur erhofften Beschleunigung die Öffentlichkeitsbeteiligung begrenzte, führte zu einem Verlust an Transparenz und demokratischer Kontrolle über die Planungs- und Genehmigungsverfahren, was erst recht zu weiteren Bedenken und Protesten führte – und vor allem zu Klagen unter anderem von Naturschutzverbänden und Landwirten, welche die Gerichte beschäftigten und den Bau erst recht lahmlegten. Beschleunigung bis zum Stillstand. Das "Planungsbeschleunigungsgesetz" ist übrigens 2023 nachgebessert worden. Vielleicht wird die A49 ja nun in den nächsten 50 Jahren fertig.

Das Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts

Wenn es mit der Beschleunigung schon nichts wird, dann aber wenigstens mit der Modernisierung – oder? Das "Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts" in Deutschland, 2016 in Kraft getreten, sollte die Vergabe von Bauaufträgen für öffentliche Infrastrukturprojekte, wie beispielsweise den Bau von Schulen oder Krankenhäusern vereinfachen. Das Ziel dieses Gesetzes war unter anderem, das Vergabeverfahren zu beschleunigen und bürokratische Hürden abzubauen, um insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu erleichtern. Gut gedacht. Doch auch gut gemacht?

In der Praxis zeigte sich, dass insbesondere kleinere Unternehmen oft Schwierigkeiten hatten, mit den komplexen Anforderungen des Vergabeverfahrens Schritt zu halten. Die Einführung neuer Regelungen und Anforderungen, wie beispielsweise die verstärkte Berücksichtigung sozialer und ökologischer Aspekte bei der Vergabe, führte zu einem noch komplexeren Vergabeprozess. Die Unternehmen waren nun mit einer Vielzahl neuer Bestimmungen und Dokumentationspflichten konfrontiert, was zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand führte: komplexere Anträge, mehr Formulare. Mehr Zeit, mehr Ressourcen – mehr Bürokratie. Für viele kleinere Unternehmen zu viel – sie bewarben sich erst gar nicht mehr auf öffentliche Aufträge.

Normenkontrollrat fordert weiteren Bürokratieabbau

Der Nationale Normenkontrollrat macht sich unter anderem dafür stark, bereits im Entwurfsstadium neue Gesetze zu prüfen. Zum Beispiel, welche Kosten sie verursachen, ob praxistauglichere Alternativen bestehen und ob eine digitale Ausführung möglich wäre. Wichtigste Frage: Was sind die Folgekosten, also der "Erfüllungsaufwand" eines Gesetzes? Erfüllungsaufwand bedeutet nichts weiter als: "Welcher Zeitaufwand und welche Kosten fallen für die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und die Verwaltung an, um ein Gesetz umzusetzen? Und ist der Aufwand überhaupt verhältnismäßig?"

Ein Beispiel für unverhältnismäßigen Erfüllungsaufwand: Die Energiepreispauschale für Studierende. "2022 hat die Bundesregierung beschlossen, dass alle Studierenden zur Abfederung der stark gestiegenen Energiekosten pauschal 200 Euro Zuschuss bekommen sollen. Das Gesetz wurde verabschiedet, ohne dass geklärt war, wie die Auszahlung ablaufen soll", erklärt David Braun, Pressesprecher des Nationalen Normenkontrollrates. "Es hat dann über ein halbes Jahr gedauert, bis eine digitale Antragsplattform aufgebaut war, über welche die Studierenden die 200 Euro beantragen konnten. Der Aufwand für den Aufbau dieser Struktur für eine einmalige Beantragung und Auszahlung war enorm. Wir brauchen dringend einfache, digitale und bürokratiearme Verwaltungsverfahren, um solche Maßnahmen mit verhältnismäßigem Aufwand durchführen zu können", so Braun.

Er bemängelt außerdem, dass besonders kleine und mittlere Unternehmen, zum Beispiel Handwerksbetriebe, von bürokratischem Aufwand - relativ gesehen - immer am meisten betroffen sind: "Es gibt Studien, die zeigen, dass für den Bürokratieaufwand durchschnittlich bis zu drei Prozent des Umsatzes der Unternehmen draufgeht. Bei kleineren Betrieben ist der Aufwand sogar deutlich größer."

Es gibt Studien, die zeigen, dass für den Bürokratieaufwand durchschnittlich bis zu drei Prozent des Umsatzes der Unternehmen draufgeht. Bei kleineren Betrieben ist der Aufwand sogar deutlich größer.

David Braun, Pressesprecher des Normenkontrollrates

Listen über Listen

Genau das kann Franz Richter bestätigen. Der Metzgermeister führt einen kleinen Handwerksbetrieb mit 15 Angestellten und zwei Verkaufsfilialen in Leipzig: "Hier in meinem Betrieb hängen mehr als 20 Listen, die wir jeden Tag ausfüllen. Wer hat was mit welchem Desinfektionsmittel zu welcher Uhrzeit sauber gemacht? War das Reinigungsmittel sauer oder basisch? Wie war die Temperatur im Kühlhaus, im Gefrierhaus, in der Theke – all das müssen wir zweimal täglich dokumentieren. Jetzt gerade habe ich Kochschinken im Kessel, da muss ich gleich noch die Kerntemperatur aufschreiben."

Franz Richter schätzt, dass täglich eine Arbeitsstunde in seinem Betrieb nur für Dokumentationspflichten benötigt wird.

Ausflug ins Steuerrecht

Ein Metzger und eine Frau in einer Metzgerei.
Metzger Franz Richter mit einer Mitarbeiterin aus seinem Team, auf das er bauen kann. Bildrechte: Franz Richter

Doch noch komplizierter und ärgerlicher ist für ihn das Steuerrecht. Metzgermeister Richter erklärt: "Isst ein Kunde seine Wiener mit Kartoffelsalat bei uns im Laden, wird das mit 19 Prozent versteuert. Nimmt er die Wurst in einer Assiette mit nach draußen, dann fallen auf das Essen sieben Prozent an, auf die Assiette aber 19 Prozent Mehrwertsteuer."

Die Metzgerei betreibt auch ein Catering. Und hier wird es noch komplizierter mit dem deutschen Steuerrecht: "Wenn ich nur das Essen zu meinem Kunden liefere, dann entfallen darauf sieben Prozent Mehrwertsteuer. Aber wehe, ich packe da noch eine Gabel und einen Teller dazu. Dann werden aus den sieben Prozent sofort 19 Prozent. Denn, das ist dann kein Essen mehr, sondern eine Dienstleistung", erklärt er. "Noch besser wird es, wenn wir beim Catering grillen. Auf meine Dienstleistung als Grillmeister entfallen 19 Prozent. Und dann kommt alles darauf an, wie ich meine Wurst dem Kunden überreiche. Packe ich sie ihm direkt auf den Teller: 19 Prozent. Nimmt der Kunde sich die Wurst selber: sieben Prozent. Das kann man eigentlich keinem mehr erklären".

Im Deutschen Steuerrecht geht es tatsächlich um die Wurst. Das Bürokratieentlastungsgesetz IV wird übrigens auch daran nichts ändern. Vielleicht aber ja das Bürokratieentlastungsgesetz V. Oder doch erst VI?

MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 14. Mai 2024 | 21:45 Uhr

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