MDR INVESTIGATIV - HINTER DER RECHERCHE (FOLGE 85) Neonazi-Terror im sächsischen Colditz

Audiotranskription

22. Februar 2024, 19:25 Uhr

Moderation

Drei Männer, Neonazis, alle aus derselben Familie dominieren die sächsische Kleinstadt Colditz seit Jahren und scheinbar ungehindert. 2014 berichteten zwei Betroffene bei MDR exakt, was sie mit der Familie erlebt haben

Dauerhaftes, permanentes Stalking, Nachstellereien, Attacken, tagtäglich, mehrmals von früh bis spät bis in die Nacht hinein. Ja, wir mussten uns also hier rings um unser Grundstück herum regelrecht verbarrikadieren.

Michael L. (ehem. Nachbar) MDR exakt, 2014

Über die letzten zehn bis 15 Jahre hat er Gäste von meiner Pension belästigt. Er hat gesagt ihr seid Ausländer, und wir brauchen euer Geld nicht.

Ralf Gorny, Pensionsbesitzer aus Colditz MDR exakt, 2014

Moderation:

Diese beiden Männer wollen heute nicht mehr vor die Kamera. Warum das so ist - dazu später. Der Landkreis Leipzig, in dem Colditz liegt, ist auch der Wahlkreis der Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz von den Linken. Sie meint

Ich glaube, das Thema "Gefahr von rechts" wurde vielfältig unterschätzt. Man hat sich auf Hotspots konzentriert. Zur damaligen Zeit war es immer wieder Wurzen oder die sächsische Schweiz. Aber Colditz? Wer kannte schon Colditz? Man lebte ja auch diese Ideologie miteinander, die Verherrlichung der Nazizeit ganz massiv, immer wieder Bezüge, Schmierereien, Hakenkreuzschmierereien in Colditz und Umgebung.

Kerstin Köditz, MdL Sachsen, Die Linke

Moderation:

Die drei Männer, um die es in diesem Podcast gehen soll, sitzen seit März 2023 in Untersuchungshaft. Allerdings nicht wegen ihrer rechtsradikalen Umtriebe, sondern weil bei ihnen bei einer Razzia Drogen und Waffen gefunden wurden. Nun könnte man denken, es wird aufgeatmet in Colditz. Das ist aber nicht so. Es herrscht offenbar bei vielen ein Klima der Angst. Warum und wovor haben die Bürger Angst? Wie konnte es so weit kommen? Und warum haben weder Polizei noch Justiz in den vergangenen Jahren bedrohte Bürger in Colditz ausreichend geschützt?

Nachrichten

Ein Mann mit einem zugeschwollenen blauen Auge 44 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Und damit willkommen zu einer neuen Folge von "MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche". Alle zwei Wochen, immer freitags, sprechen wir hier mit Kolleginnen und Kollegen über die Hintergründe ihrer Reportagen und Berichte und wollen wissen, was passiert ist, wenn die Kamera aus war und welche Meinung sie selbst zu der Geschichte haben. Ich bin Secilia Kloppmann und arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks. Im Podcast zu Gast - mal wieder - ich freue mich sehr, sind Nina Böckmann und Thomas Datt.

Secilia Kloppmann (SK)

Ihr habt beide zusammen einen Film gemacht, den kann man auf YouTube im Chanel MDR INVESTIGATIV sehen und auch in der ARD-Mediathek. Der heißt "Kriminelle Neonazis in Colditz - wenn der Staat wegschaut". Das klingt eigentlich schon vom Titel her ganz schön krass: Kriminell, Neonazis, der Staat schaut weg. Könnt ihr mal bitte kurz umreißen, worum es in dem Film geht?

Nina Böckmann (NB)

Naja, du hast ja gerade selber damit angefangen und gesagt: Drei Männer in U-Haft, es gab eine Razzia, es gibt aber vor allem, und darum dreht sich auch der Film - eine sehr lange Vorgeschichte zu dieser Razzia und zu dieser Familie. Vor allem muss man sagen und ich bin tatsächlich selber jetzt erstmit dieser Razzia dazugekommen. Thomas ist  schon viel, viel länger dran an Colditz... Das Erstaunliche ist, es gibt ganz viel Material zu dieser Familie und zu deren politischen Hintergrund und vor allem von den Einschüchterungsversuchen da vor Ort, die sie über Jahre sehr erfolgreich, also nicht nur Versuche, da betrieben haben. Dieser Film will eigentlich diese diesen Hintergrund noch mal ein bisschen herausarbeiten und sagen, eigentlich ist es erstaunlich, dass es jetzt erst dazu kommt, dass diese Familie beziehungsweise, die drei Männer der Familie in den öffentlichen Fokus und auch in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden kommen.

SK

Wenn man sich den Film anschaut, da gibt es auch viele schöne Bilder von Colditz. Das ist so ein bisschen hügelig. Man sieht, dass da einen Fluss lang fließt, die Zwickauer Mulde. Es gibt ein Schloss...  rund 8.500 Einwohner hat Colditz. Ist es eine typische sächsische Kleinstadt - Thomas?

Thomas Datt (TD)

Das Renaissance-Schloss Colditz an der Zwickauer Mulde
Colditz Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Peter Endig

Ja, es gibt viele Sachen, die machen Colditz zu einer typischen sächsischen Kleinstadt. Auch ihre Nachwendegeschichte. Colditz hat zu DDR-Zeiten ein großes Porzellanwerk gehabt, das den gesamten Ostblock beliefert hat plus Jugoslawien. Dieses Werkes ist dann geschlossen worden, nachdem es ein bayrischer Investor übernommen hatte und Investitionszusagen gemacht hatte, Fördergelder halten hatte. Und als die Fristen abgelaufen waren, hat er die Maschinen in sein Stammwerk abtransportiert und das Werk dort geschlossen. Viele Leute wurden arbeitslos. Also sagen wir mal auch dieser dieser Niedergang und dieser Katzenjammer und das Neuorientieren, was man überall im Osten hatte. Gleichzeitig hat sich das schon relativ früh, wie anderswo in Sachsen und in ganz Ostdeutschland muss man ja sagen, eine militante Neonazi-Szene entwickelt....Da ist eine Sache, die wir in unserem Film nicht thematisiert haben. Es gab 1998 einen schweren Anschlag, einen Brandanschlag, auf eine türkische Familie. Da ist die Tochter der Familie verletzt worden, so schwer verletzt worden, dass sie bis heute leidet. Sie lebt schon lange mit ihrer Familie in Frankfurt am Main. Sie trägt bis heute an diesen Folgen. Damals wurden Täter ermittelt, die wurden auch verurteilt. Aber auch damals wurde das schon als quasi als "Streit zwischen zwei Familien", also zwischen der türkischen und einer deutschen Familie dargestellt, sowohl politisch als auch medial

Naja, und man darf nicht vergessen, Colditz hat eine spezielle Lage, das ist vielleicht eine Besonderheit, es liegt ein bisschen abgelegen. Ziemlich weit weg von Autobahnen, liegt am Land des Landkreises Leipzig, ein bisschen am Rand der Verwaltung und der Verwaltungsstrukturen. Ob das jetzt die Landkreisverwaltung ist, ob das die Polizeidirektion ist, die Staatsanwaltschaft Leipzig … und das schlägt sich auch ein bisschen im Umgang mit der Kriminalität vor Ort nieder, würde ich sagen.

SK

Jetzt gab es diese Razzia. Ich hatte es eingangs gesagt, der Vater Ralf und die Söhne Uwe und Andreas sitzen aktuell in Untersuchungshaft. Warum ganz genau? Nina?

NB

Colditz
Unter anderem wurden Waffen bei der Razzia gefunden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wir haben ja anfangs schon von dieser Razzia gehört, die Ende März diesen Jahres stattgefunden hat. Die ist beziehungsweise das, was da gefunden wurde, ist Grund dafür, weshalb die drei erstmal in U-Haft sitzen. Gefunden wurden fünfeinhalb Kilo Crystal, 2600 Cannabispflanzen. Eine ziemlich große und so, wie uns das erzählt, wurde auch ziemlich professionelle Plantage. Und gefunden wurden aber auch noch Waffen. Also so ein bisschen die Melange des Drogenhandels, wie man sich das so ganz klassisch vorstellt. Gefunden wurde auch noch eine relativ große Summe Bargeld. Es erfüllt so ein bisschen das Klischee dessen, was man mit Drogenhandel verbindet. Beschlagnahmt wurden nämlich auch noch ein Mercedes AMG, also ein großes Auto, und ein Lamborghini - also auch untypisch für die sächsische Kleinstadt. Würde ich mal sagen...

SK

Es gibt über 400 Anzeigen gegen die jetzt Festgenommenen, vor allen Dingen, weil sie Leute beleidigt haben, Prügeleien und so weiter. Und wenn man Euren Film ansieht, da hat man schon den Eindruck, diese Familie, die machen da an diesem Ort in Colditz, salopp gesagt eigentlich, was sie wollen, ist das ein Gefühl, was nur ich habe? Oder hattet ihr das auch, als Ihr vor Ort wart?

TD

Na ja, also es war vielleicht punktuell so, dass sie es nicht tun konnten. Ansonsten würde ich das unterschreiben. Und es ist ja auch so, dass wir von Leuten wissen, die zum größten Teil weder eine Anzeige erstattet haben, geschweige denn von der Kamera gehen würden, dass zum Beispiel der Vater der Familie der jetzt in Untersuchungshaft sitzt, Ralf N. , dass der bis zum Schluss, also bis zu seiner Inhaftierung, Leute bedroht haben soll. Es waren immer so ganz verschiedene Motive: Manchmal Leute, weil er sie als politische Feinde betrachtete und manchmal, weil sie ihm einfach nicht passten oder weil sie ihn irgendwie störten oder  es konnte auch sein, weil sie irgendwas nicht gemacht haben, was er wollte. Er hat ja auch, da brauch man sich bloß die sozialen Netzwerke angucken, er halt bis heute auch nicht wenige Unterstützer in der Stadt. Also bei den Leuten, mit denen er gut stand, mit denen er befreundet war - nicht zufällig natürlich, auch einen Haufen junge und ältere Neonazis darunter - die beschreiben ihn alle, das haben uns zum Beispiel auf dem Stadtfest welche erzählt, als wir dann eine Diskussionen hatten, mit so einer Gruppe junger Neonazis, als sehr großzügig und verlässlich. Das ist ja ein Mann, der dafür bekannt war, mit Geldbündeln in einer Stadt unterwegs zu sein. Wenn der mit den Leuten gut stand, war das offenbar ein charmanter, witziger und auch sehr verlässlicher Freund. Man durfte ihn nun nicht zum Feind haben.

SK

Weil du gerade gesagt hast, auf dem Stadtfest. Da gibt es ja keine Bilder im Film davon, dass du dich mit jemandem unterhältst. Also vor der Kamera wollte da offenbar niemand sprechen. Wie bist du dann doch mit Leuten ins Gespräch gekommen?

TD

Menschen mit rechtsradikalen T-Shirts
Auf dem Colditzer Stadtfest - einschlägige T-Shirts Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wir waren ja am Freitagabend schon da. Da hat Nina dann auch abends diese Bilder gemacht, nach dem Schluss des Stadtfestes, als sich jemand mit "Sieg Heil" verabschiedet hat und mit Hitlergruß. Da waren wir so unterwegs, das wir, denke ich zumindest, nicht erkannt wurden. Am Sonntag war ich dann am Tag ganz offen da und wurde erkannt. Weil wir vorher schon für MDR exakt einen Beitrag gemacht hatten, und da im Bild zu sehen waren. Und da hört ich, dass eine Gruppe von jüngeren Männern in, sagen wir mal interessanten und einschlägigen T-Shirts kam,und irgendwie lautstark rummoserte. Und dann habe ich gefragt, was das Problem ist. Und dann kam ein paar. Und dann beschwerten sich darüber. Wir hatten Bilder von den Corona-Protesten 2021 gezeigt, sagte der eine junge Mann, "Sie haben uns als Neonazis bezeichnet". Ich sagte, na Moment, wir haben gesagt, "wütende Bürger und Neonazis". "Ja, Sie haben uns als Neonazis diskriminiert". Und da habe ich ihn gefragt, und warum hast du eine 88 auf dem T-Shirt? "Das ist meine Meinung". Und dann sagte der junge Mann, der hinter ihm saß, der sagte, na uns stört ja auch nicht, dass hier ein - ich sage jetzt das Wort nicht - ein N. auf der Bühne Musik macht. Da war gerade ein schwarzer Musiker auf der Bühne, der Schlagzeug spielte. Und da habe ich dann gesagt, dass das N-Wort ja schon eine Beleidigung ist, und was die Hautfarbe mit der Musik zu tun hat. Da kam dann die Antwort: "Für uns schon". Und dann verschwanden die, bis auf einen. Der sich noch länger unterhalten wollte und der ließ sich auch nicht wegziehen von den anderen, die immer wieder ankamen. Und es war schon interessant, und daran erkennt man glaube ich auch, dass da schon Struktur dahinter ist. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam jemand mit einem Telefon. Auf dem lief ein Gespräch. Das hat der dem ans Ohr gehalten, und dann ist der doch aufgestanden. Also es gibt offenbar Leute, die da schon Durchgriff haben. Das heißt, diese Struktur existiert auch unabhängig von den Ns.

SK

Bei dem Film und auch der Berichterstattung dazu, sind natürlich beim MDR auch immer die Juristen eingebunden, und da gab es auch immer den "Zeigefinger": Aufpassen, dass man nicht "Neonazi-Familie N", sagt. Denn dann würde man ja die gesamte Familie dazu rechnen. Was weiß man über die Familie? Über Vater und die beiden Söhne hinaus?

NB

Ich würde jetzt weniger auf die Familie eingehen wollen. Aus Gründen. Aber interessant ist schon, dass die vielen Grundstücke, die im erweiterten Sinne zu dieser Familie gehören, überwiegend auf die Partnerin von Ralf N. laufen. Die einem Beruf nachgeht, der erstmal nicht die finanziellen Möglichkeiten schafft, das man Immobilien und Grundstücke erwirbt.

SK

Das ist ja auch eine Frage, die sich stellt:  Grundstücke... dann sieht man im Film Uwe N., er mit einem Hummer - das ist so ein riesiger panzerartige Jeep - durch den Ort fährt .. das war offenbar auch eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, so hat es da jemand, erzählt. Es sind zwei Luxusautos konfisziert worden bei der Razzia. Ganz offiziell hatten die den Holzhandel. Davon kann man es wahrscheinlich nicht finanzieren. Wovon leben die denn offiziell, die jetzt Verhafteten?

TD

Den Holzhandel gibt es ja auch offiziell schon ein paar Jahre nicht mehr. Das Gewerbe ist abgemeldet. Die drei sind in den letzten Jahren keiner offiziellen Beschäftigung nachgegangen, hatten auch kein eigenständiges Gewerbe. Sie hatten dann einen Schrottplatz, und sie hatten dieses Grundstück, wo auch dann die Cannabispflanzen gefunden wurden. Vor Gericht sind die öfter und auch über Jahre immer wieder als Sozialhilfeempfänger aufgetreten. Und das ist natürlich eine Frage, die sich bis heute viele Leute vor Ort stellen, die sich auch Polizisten vor Ort stellen. Wie kann es sein, dass solche Leute ungehindert mit Luxusfahrzeugen, die ja gar nicht zu diesem Status passen, rumfahren können, ohne das, was passiert? Man darf ja nicht vergessen, auch das mit den Luxusfahrzeugen, das geht ja schon ewig. Das ist jetzt keine Erscheinung der letzten fünf Jahre, sondern es ist schon viel länger so. Tja, das ist Frage, auf die man aber auch schwer eine Antwort findet, weil Sozialbehörden natürlich an der Stelle nicht besonders transparent sind. Im Prinzip: Dreister konnte man dem Staat und auch dem Sozialstaat nicht auf der Nase rumtanzen, wie die drei das gemacht haben.

SK

Und Ralf N. , also der Vater der Familie, der jetzt auch inhaftiert ist. Der ist 67 Jahre alt. Was weiß man über den, Thomas? Was hat der für eine Geschichte?

TD

Ralf N. kommt ursprünglich aus Naunhof, war Fleischer von Beruf und ist in der Nachwendezeit nach unseren Recherchen Bestandteil des sogenannten Leipziger Milieus gewesen. Ich kenne zum Beispiel jemand aus früheren Recherchen. Den habe ich vor Jahren mal nach Ralf N. gefragt. Und dann stellte sich heraus, dass Ralf N. in den 90er-Jahren es sich offenbar mit anderen Ganoven so ein bisschen verscherzt hatte. Weil Ralf N. hätte damals behauptet, er werde von der russischen Mafia bedroht und brauche eine Waffe. Daraufhin wurde ihm eine Pistole besorgt. Und es stellte sich dann Vierteljahr später raus, dass diese Waffe offenbar weiterverkauft wurde, was natürlich in diesem Milieu auch riskant ist. Und so, wie die Person geschildert hat, muss der offenbar einige andere „Ganoven“ übers Ohr gehauen haben. Und da waren wohl so einige Rechnungen offen. Und das ist vielleicht auch eine Erklärung, warum Ralf N. , der bis dahin einen anderen Nachnamen hatte, den Namen seiner Frau angenommen hat, nach Colditz zog und dort einen Holzhandel aufgemacht hat. Das war hier interessanterweise in Millieukreisen noch nicht bekannt. Dass heißt, er musste offenbar weg. Es hatte sich zu viel angehäuft, und dann hat er halt dort (in Colditz) eine Gruppe von Neonazis um sich geschart und hat sozusagen damit seine Geschäfte abgeschirmt. Der Holzhandel wurde dann auch ein Treffpunkt, wo man eben feiern konnte und wo man auch an Autos schrauben konnte. Und naja, das hat sich, glaube ich, für ihn ausgezahlt, dieser Umzug,

SK

Die Aufnahmen, die im wir am Anfang gehört haben, die waren von MDR exakt aus dem Jahr 2014. Warst du da schon vorher dort?

TD

Nein, da ist eine Sache, die mich bis heute ärgert, und wo ich mich auch ein bisschen schäme. Dass wir  das irgendwie so kollektiv würde ich sagen, als Journalisten - außer einige LVZ-Lokalreporter - doch ziemlich verschlafen haben.  Obwohl Colditz gar nicht so weit weg liegt von Leipzig, nicht mal 50 Kilometer.  Und es ja da in den jahren 2008 bis 2012 brutale offene Straßengewalt gab,  gegen Linke aber auch Bundeswehrangehörige, die dort zu Besuch waren oder auf der Durchfahrt. Also Leute, die sozusagen nicht dazugehörten, also die nicht ortskundig oder ortsbekannt waren. Und trotzdem ist das irgendwie an uns allen vorbeigerauscht. Heißt also, wenn man unseren Film sieht, der auch die Behörden sehr kritisiert für ihre Passivität, dann fehlt natürlich in dem Film auch der Punkt der Passivität der Medien. Die Ignoranz ist sozusagen allgemein gewesen. Nicht nur auf die Behörden beschränkt.

SK

Hast du versucht, Kontakt aufzunehmen zu den drei jetzt Inhaftierten? Und wie, wie ist die Reaktion gewesen?

TD

Ja. Damals hatten wir eine ziemlich lustige Begegnung mit Andreas N., dem älteren Sohn. An dem Holzhandel, der es damals noch war, nach der Verhaftung seines Bruders wegen des Chrystals. Ja, und er hat uns da erst mal versucht, ich würde schon sagen, in "altbewährter Neonazi-Manier" mit seinem VW-Bus zu verfolgen und zu filmen mit einem Handy. Wahrscheinlich dachte er, wir lassen uns davon einschüchtern, haben wir nicht gemacht. Und dann hat er umgeschaltet und dann mit uns diskutiert. Und hat uns dann halt erklärt: Ja, was denn? Also Neonazi und Drogen, das passt doch gar nicht zusammen und hatte das bestritten mit den Drogen. Da kann man den Schluss daraus ziehen, als was er sich selber gesehen hat und auch seinen Bruder. Und er hielt das alles für fake und falsche Vorwürfe. Und das ist nur kleiner ein kleiner Ausschnitt, den haben wir aus Zeitgründen nicht in den Filmen gekriegt. Aber das ist so ein bisschen so ein Motiv, was sich durchzieht bei der Familie, das habe ich auch bei diesen jüngeren Männern, bei diesen Neonazis auf dem Stadtfest gemerkt. Die haben sozusagen so ein eigenes Narrativ geschaffen, das in ihrem Bekannten- und Freundeskreis geglaubt wird. Die sind also auch sehr gut darin, sozusagen der Geschichte den Spin zu geben, den es für ihre Zwecke braucht. Zum Beispiel gab es da auch einen jungen Mann, der mir erzählt hat bei dem Stadtfest, dass er dabei war, als sie da diesen Schikane-Ferch gefüllt haben, gegen den Nachbarn: "Da war ich mit in Wermsdorf und habe da mit 200 Puten geholt." Und freute sich, denn er fand es witzig. Da habe ich gesagt, Moment, das ist ne totale Schikane gegenüber dem Nachbarn, der in Schicht arbeitet. Und da erzählte er die Geschichte, die halt der alte N. immer wieder verbreitet hatte, das angeblich dieser Nachbar seine Frau angemacht habe. Dafür gab es nie Belege, das stimmt offenbar nicht. Und es ist interessant, dass diese, sagen wir mal Lügengeschichten bis heute, sich in diesen Unterstützerkreisen dieser Familie halten. Also es gibt bis heute Leute, die in den sozialen Netzwerken schreiben, das ist eine ehrenwerte Familie.

SK

Weil Du das vorhin auch angesprochen hast, das Argument von Andreas N. "Neonazi und Drogen  - passt ja nicht so richtig zusammen". Da habe ich auch darüber nachgedacht. Das sind Leute, die nicht wirklich einer geregelten Beschäftigung nachgehen, teilweise von Sozialhilfe angeblich leben, Dealer sind, prügeln.. Dem Bild des sozusagen "guten Deutschen", was bei Neonazis oft vertreten wird, entsprechen die doch eigentlich überhaupt nicht. Oder?

TD:

Naja, aber ich meine, zumindest gab auch in der NS-Zeit regen Drogengebrauch. Es gab Homosexualität bis in die obersten Ränge. Es gab ein Haufen Gewohnheitsverbrecher, die Karriere gemacht haben. Es gab Leute, die die Umstände genutzt haben, um sich schamlos zu bereichern. Und also das ist ja sowieso so ein Konstrukt mit dem mit dem "aufrechten oder guten ehrbaren Deutschen". Weil Neonazis sind ja in ihrer eigenen ideologischen Darstellung auch keine guten Menschen, weil, sie sind ja angetreten sozusagen, Deutschland von den nicht hierher Gehörigen zu säubern.

SK

Ihr habt auch mehrere Leute getroffen, die Opfer geworden sind. Offen von der Kamera gesprochen, heute, hat nur Hartmut Lehmann. Was ist die Geschichte von Hartmut Lehmann? Nina

NB

Der Ur-Colditzer Hartmut Lehmann zeigt Reporter Thomas Datt den Ort an dem er überfallen wurde, eine Bushaltestelle.
Hartmut Lehmann und Thomas Datt an der Stelle, wo Lehmann 2005 zusammen geschlagen wurde. Bildrechte: MDR

Hartmut Lehmann ist Colditzer. Er kommt aus der Gegend und ist geblieben. Das es ist schon mal was, was nicht ganz so typisch ist, würde ich sagen. Hartmut Lehmann hat als Mechaniker eine Werkstatt betrieben. Und 2005, also schon eine sehr lange Zeit her, hat er einen Anruf bekommen und wurde damals zu einer Motorradpanne gerufen und ist dann auf einer Landstraße in einem Bushaltestellenhäuschen brutalst überfallen und zusammengeschlagen worden. Das Krasseste, finde ich persönlich, daran ist, dass dabei beinahe noch seine Tochter entführt wurde, die im Auto saß, was einer der Täter wegfahren wollte. Das konnte er verhindern. Im Film sieht man auch Fotos von ihm. Die zeigen ihn nach diesem Angriff mit einem komplett zugeschwollenen Auge, grün und blau. Und der Hintergrund dieses Angriffs ist bis heute eigentlich, muss man sagen, nicht aufgeklärt. Das, was er erzählt, ist, dass damals die Täter, die ihn zusammengeschlagen haben, ihm damals gesagt haben, er solle doch aufpassen, mit wem er sich einen Colditz anlegt. Und er erzählt auch, wenige Minuten nach dem Angriff sei Ralf N. an dieser Bushaltestelle vorbeigefahren. Das ist ein krasser Vorfall. Und trotzdem das finde ich persönlich auch beeindruckend, Hartmut Lehmann ist einer der wenigen Colditzer, der weitermacht. Der jetzt zum Beispiel auch 2021, als damals diese Corona-Proteste in Colditz stattfanden, eben auch eine Gegendemonstration angemeldet hat, einfach aus Trotz vielleicht sogar muss man sagen. Weil er das politisch wichtig fand, denen eben nicht den Markt zu überlassen, das Zentrum der Stadt. Und er ist eigentlich der einzige und auch einer der wenigen vor Ort, die offen sprechen,

SK

Was ich besonders niederschmetternd fand, dass er ja dann auch noch erzählt hat, dass dieser Fall, wie du schon sagt, nicht aufgeklärt worden ist. Aber dass ihm am Ende auch noch von der Polizei unterstellt wurde, dass es da irgendeine Verbindung gebe zu diesen Tätern.

Es wurde dann sogar so gestrickt, bis ich selber dran schuld wäre und wüsste, mit wem ich mich anlegen und mit wem ich wohl Geschäfte machen würde. Und dann versuchten die über mich, irgendetwas rauszukriegen über irgendwelche Sachen. Und ja, ich wurde dann als Täter dargestellt und da habe ich dann auch die Zusammenarbeit abgebrochen mit der Polizei.

Hartmut Lehmann, Opfer von Gewalt in Colditz MDR exactly

SK

Hartmut Lehmann sagt, er hat die Zusammenarbeit abgebrochen, mit der Polizei.  Was haben euch andere Betroffene erzählt, von der Reaktion der Polizei auf Vorfälle, auf Anzeigen?

NB

Ich würde sagen, das war so ein bisschen durchmischt. Es gab durchaus, das wurde uns erzählt, vor allem Polizisten vor Ort, die engagiert waren. Die versucht haben, an diese Familie ranzukommen. Die auch die Berichte der Betroffenen nicht einfach weggewischt haben. Es gab aber auch Erfahrungen mit der Polizei, dass die gerufen wurde und nicht kam. Oder das Dinge auf einer Art nicht weitergereicht wurden. Also dass es an einem bestimmten Punkt versiegte und da aber auch bis heute für mich persönlich so ein bisschen unklar ist, wer hat wann und wie und warum eigentlich, die Ermittlungen schleifen lassen? Weil man muss ja auch fairerweise sagen, natürlich ermittelt zunächst die Polizei. Aber dann übernimmt die Staatsanwaltschaft, und in diesem Fall war es die Staatsanwaltschaft Leipzig. Und die hat, und das haben wir im Film auch anhand von Beispielen aus den Akten noch mal gezeigt, aus relativ unverständlichen Gründen Ermittlungen nicht weiter geführt, und Zeugen nicht weiter vorgeladen und ist Indizien nicht weiter nachgegangen. Und ich stelle mir persönlich die Frage, ist es tatsächlich einfach aus so einem Effizienzgedanken? Ist es nicht wichtig genug gewesen? Stellt man das einfach ein, weil es irgendwie zu weit weg, zu klein, irgendwie zu nichtig ist? Oder gab es da irgendwie auch eine Art von politischer Ignoranz?

TD

Die Reporter Nina Böckmann und Thomas Datt wollen in ihrem Film ihre umfangreichen Recherchen zum Thema Colditz verständlich erzählen. Deshalb haben sie zusammen mit dem Kameramann Moana Nitzscke Unter der Regie von David Schöley Bilder und Ermittlungsakten über die Familie N. aus Colditz in Szene gesetzt.
Die Reporter Nina Böckmann und Thomas Datt Bildrechte: MDR

Also die Frage stellt sich natürlich immer wieder, warum hat die Polizei sich oft so komisch verhalten? Es gibt natürlich für bestimmte Sachen keine belegbare Erklärung. Aber man muss bedenken, es gab gerade in den Anfang der 2000er-Jahren eine Strukturreform bei der Polizei. Es ging dann konkret um Einsparungen. Und es ist bis heute so, dass der Polizeiposten in Colditz reduziert ist auf eine zweimal zwei Stunden Termin pro Woche. Da ist also nicht viel Polizei vor Ort, das ist sicher ein Problem. Dann, das erzählt ja Nina auch anhand von Zitaten aus Antworten der Landesregierung an Abgeordnete. Es wurden ja auch Polizisten eingeschüchtert, gerade auch vom alten Ralf N. Also so, wie er das bei anderen Leuten auch gemacht hat, hat er das eben auch bei bei Polizisten gemacht. Und das ist ja erst jetzt offiziell bekannt geworden. Da  fragt man sich dann natürlich, wie konnte das ein Staat tolerieren? Man muss allerdings auch sagen, es gab einen Polizisten, einen hohen ranghohen Polizisten, der hat da schon was unternommen. Das ist der ehemalige Leipziger Polizeipräsident, zwischendurch auch mal Landespolizeipräsident, Bernd Merbitz, der auch die SOKO Rex geleitet hat. Der wurde 2012 eingeladen zu einer Stadtratssitzung. Da wollten die Bürger wissen, was der denn da unternimmt. Und da haben Ralf N. und der damalige Wirt vom Gasthof Zollwitz, der bis dato auch reger Treffpunkt der Neonazi-Szene war, die hatten dort versucht, sozusagen die Stimmung so ein bisschen an sich zu reißen. Und da hat sich dann Merbitz zu Wort gemeldet und hat dann sozusagen angekündigt, dass er sich das nicht bieten lassen wird. Weil er hat dann noch einmal sozusagen vor Ort gemerkt, wie die versuchen, die Lufthoheit sich zu nehmen oder sie haben. Und er hat dann junge Kommissarsanwärter dahingeschickt. Und die haben sich denn regelrecht Verfolgungsjagten mit Uwe N., dem jüngsten Sohn der Familie, geliefert, der gern ohne Fahrerlaubnis mit schnellen Autos unterwegs war. Da da ist dann auch mal ein Auto irgendwo in einem Feld stehengeblieben und er ist zu Fuß weggerannt, das hat mir in einer der Beamten damals erzählt, am Rande eines Prozesses. Und die waren aber heiß, diese Polizisten, die haben sich nicht abschütteln lassen, die hatten den von da an auf dem Kieker. Und dann kam es auch zu dieser Kontrolle, bei der sie ihn dann mit  1,8 Kilo Crystal gefasst haben. Aber diese Kommissarsanwärter haben dann quasi ihren Laufbahnabschnitt dort beendet, sind wieder weg versetzt worden. Damit war natürlich a) weniger Präsenz vor Ort da und galube ich auch weniger zielgerichtete Energie.

SK

Ich habe mich auch gefragt, ob nicht auch die Lokalpolitiker vor Ort über Jahre  allein gelassen worden sind. Es gibt ja das Beispiel des früheren Bürgermeisters, der angeblich sogar verprügelt worden sein soll. Es gab aber nie eine Anzeige. Ihr habt mit dem jetzigen Bürgermeister gesprochen, mit Robert Zillmann, und der behauptet ja zumindest im Gespräch mit Euch, das Neonazi-Problem in Colditz sei nicht anders als anderswo in Sachsen oder Deutschland.

Ich lehne mich mal weit raus und sagen wir haben es zu einem großen Teil überwunden. Wir haben durchaus Probleme, die sind aber ich, glaube ich, nicht schlechter oder weniger wie sie in ganz Sachsen oder Deutschland sind. Aber ich glaube, wir sind nicht mehr so ein Hotspot wie vor 15 ... 20 Jahren vielleicht noch.

Robert Zillmann (parteilos), Bürgermeister Colditz MDR exactly

Siehst Du das auch so, Nina?

NB

Tja, das ist schwer zu sagen. Also wir haben uns jetzt diesen Fall sehr konkret angeguckt. Das kann man jetzt nicht generalisieren. Was man, glaube ich schon sagen kann, ist und das finde ich auch sehr interessant, wenn man sich die Kommentare anguckt, unter diesem Beitrag von uns bei YouTube, da schreiben auch einige Leute, sie wohnen nicht in Colditz, aber irgendwo anders in Ostdeutschland oder sozusagen in einem ähnlichen Setting in Ostdeutschland, Kleinstadt oder Land, teilweise auch größere Städte. Und sie kennen diese Schilderung. Sie kennen diese Vorfälle aus eigener Erfahrung, und ich glaube, das ist schon was, was man vor allem bei der Debatte über die sogenannten Baseballschlägerjahre, die es ja vor einiger Zeit mal gab, auf einer Art aufgerollt hat. Dass viele Menschen damals in den 1990er-Jahren/ Ende der 90er-Jahre diese Erfahrungen gemacht haben. Dass es eine Art Vakuum gab im ländlichen Raum, in den Kleinstädten in den ostdeutschen Bundesländern, die eine krasse Gewalt ermöglicht haben. Und ich glaube, die Frage ist vielmehr: Ist das eigentlich eine abgeschlossene Periode, oder ist es keine abgeschlossene Periode? Sind diese Baseballschlägerjahre vorbei? Ja oder Nein? Und ich muss sagen, aus dem, was ich an Schilderungen kenne, nicht nur aus Colditz, sondern auch aus anderen Orten und aus anderen Regionen,würde ich sagen, Nein, die sind nicht vorbei. Die haben vielleicht ein bisschen an Intensität abgenommen. Aber diese Erfahrung machen Leute immer noch. Wenn sie nicht Teil einer rechten Szene sind oder auf eine Art alternativ wirken, dann gibt es diese Gewalt noch gegen diese Menschen.

SK

Naja, und wozu das dann führt, da sind ja vielleicht auch die beiden Protagonisten, die wir am Anfang gehört haben die 2014 noch gesprochen haben gute Beispiele. Der Pensionswirt Ralph Gorny

O-TON

Über die letzten zehn bis 15 Jahre hat er Gäste von meiner Pension belästigt. Er hat gesagt ihr seid Ausländer, und wir brauchen euer Geld nicht.

SK

Nachdem Ralf Gorny das öffentlich im MDR gesagt hat, 2014, gab es einen Anschlag mit einer Kugelbombe, er wurde weiter bedroht. Und der zweite, der auch 2014 im MDR gesprochen hat, du hattest den Fall schon mal kurz angesprochen, Thomas, ist ein Nachbar der Familie.

O-TON Michael L.

Dauerhaftes, permanentes Stalking, Nachstellereien, Attacken, tagtäglich, mehrmals von früh bis spät bis in die Nacht hinein. Ja, wir mussten uns also hier rings um unser Grundstück herum regelrecht verbarrikadieren.

SK

Das, was der Michael L. schildert, dieses Stalking und so weiter. Was, was ist denn da noch passiert? Als er sagt, der taucht am Zaun auf ... aber da ist ja noch noch mehr gewesen...

NB

Ja, es gab auf der einen Seite des Grundstücks der Familie L. ein kleineres Grundstück, das die Familie N. erworben und bespielt hat. Und bespielt auf eine ganz besonders perfide Art. Da wurde nämlich ein sogenannter Schikaneferch eingerichtet. Das muss man sich so vorstellen wie so eine Art größeres Gehege, in dem dann Tiere gehalten wurden, die man eigentlich nicht zusammenhalten sollte. Teilweise viel zu viel Federvieh, was man irgendwie nicht richtig gefüttert hat, was dann natürlich Lärm macht und irgendwann gegenseitig sozusagen an den Kadavern nagte. Also ein wahnsinniger Gestank. Es wurde berichtet, dass dann irgendwie ab und zu mal reingegangen wurde und die toten Tiere rausgefeuert wurden, aber dann auch eher auf dem Grundstück rumlagen, als dass man sie weggeräumt hätte. Und dann gibt es - auch davon liegen uns Fotos vor - eine Haltung, die irgendwann auch das Veterinäramt auf den Plan gerufen hat, von Tieren, die man eben nicht zusammenhalten soll. Also da gab es eine Haltung von Hühnern und Wildschweinen, die dann natürlich auch irgendwann den Effekt hat, wenn man die Schweine und die Vögel nicht richtig füttert, dass die Schweine anfangen, sich auch an den Hühnern zu laben. Also auch ein Effekt, der natürlich viel Lärm mit sich brachte, weil, man kennt es vielleicht, wenn man mal durch so einen Hühnerstall durchgelaufen ist, die sind dann aufgeregt und fangen an zu schnattern. Und das eben in einer Permanenz an dieser Grundstücksgrenze zur Familie L., die wirklich an eine Art von, ich würde sagen Alltagsterror grenzte, weil eben auch der Vater der Familie im Schichtbetrieb gearbeitet hat. Und wenn man sich vorstellt, permanent mit diesem Gestank und diesem Lärm konfrontiert zu sein, das ist schon sehr herausfordernd und letztlich ja tatsächlich auch einer der Gründe gewesen, weshalb diese Familie dann nicht weiter wohnen geblieben ist.

SK

Der ist weggezogen aus Colditz. Der ist dort nicht mehr der Nachbar. Und beide Männer haben gesagt, dass sie nicht noch mal vor die Kamera gehen wollen

Aber der Nachbarn hat euch ja eine E-Mail geschickt und hat das ja auch begründet.

Thomas aus dem Film liest vor:

Herr L. hat uns seine Absage in einer langen Mail begründet. Ich lese mal ein Stück daraus. Wir haben elf Jahre Psychohölle durchlitten. Sind glücklich, dass wir wieder ein einigermaßen normales Leben führen können. Auch wenn N. einsitzt, hat er dennoch ein riesiges kriminelles Netzwerk aufgebaut und genügend Lakeien, die in seinem Auftrag sofort wieder Krieg gegen uns anzetteln können.

MDR exactly

SK

Solche Berichte und solche Äußerungen wie von Hartmut Lehmann, von Ralph Gorny, von dem Nachbarn Michael L. .. werden ja manchmal auch gerade in solchen Kleinstädten als eine Art Nestbeschmutzung wahrgenommen. Habt ihr rausfinden können vor Ort, wie die Colditzer allgemein, auf diese Äußerungen, die Berichterstattung reagiert haben?

TD

Man muss da einen Schritt zurück treten. Es geht da, glaube ich, nicht bloß um Äußerungen in den Medien, sondern wie man sich generell positioniert hat., gibt es so eine so ein, so ein typischer Kleinstadt-Muff. So ein  stillschweigendes Boykottieren. Da redet niemand offen drüber. Und es ist doch die große Angst von Leuten, die heute in Colditz leben und irgendwie ein Geschäft haben oder sich irgendwie anderweitig engagieren, dass sie dann sozusagen der "stille Bann" trifft. Da gibt es schon echt viel Furcht. Man kann jetzt natürlich sagen, das wird jetzt sicher auch übertrieben, weil wir wissen ja auch, in Dörfern und Kleinstädten ist auch eine unwahrscheinliche Gerüchtedichte da, da stimmt nicht immer alles. Aber man muss sagen, das ist ja auch gut begründet. Das fing ja nicht mit einer Kugelbombe an bei dem bei dem Herrn Gorny, dem Pensionsbesitzer, sondern in der Nacht nach der Ausstrahlung des Beitrags im MDR hat man ihm einen Farbeimer mit einem Sprengsatz vor die Pension gestellt. Damals dachten alle, er einschließlich, das wäre eine Attrappe. Dann hat das LKA das untersucht, und dann stellte sich heraus, das war ein professionell gebauter Sprengsatz. Da gab es einen minimalen Fehler in der Zündvorrichtung. Es war also Glück, das hätte auch hochgehen können. Und dann hätte auch mehr passieren können, als das nur ein paar Scheiben kaputtgehen.

SK

Für den Film – das fand ich auch sehr eindrücklich -  habt ihr mehrere Opfer eingeladen. Hattet Anonymität zugesichert, außerhalb der Stadt. Aber so wirklich viele sind nicht gekommen. Nina, oder?

NB

Gekommen ist genau eine Person. Das hat uns auch ein bisschen überrascht, muss ich sagen. Es waren zwölf Leute eingeladen. Dass es wirklich nur eine einzige Person gab, die die Bereitschaft mitbrachte, sich dazu nochmal mit uns zu unterhalten, vor allem vor dem Hintergrund, dass wir natürlich vorher diese Anonymisierung zugesagt hatten, weil uns sehr bewusst ist, was für ein heikles Thema das ist und was das für die Leute vor Ort bedeutet, sich dazu zu äußern.

TD

Das klingt jetzt vielleicht pathetisch. Aber ich glaube, man darf nicht unterschätzen, diese Ereignisse, die sich ja häufig über Jahre zogen, haben bei Leuten auch sehr tiefe Verletzungen hinterlassen. Und gerade bei jüngeren Leuten habe ich das mehrfach erlebt, dass die froh sind, aus dieser Stadt weg zu sein. Also, ich habe 2017 einen längeren Artikel über Colditz geschrieben. Und ich wurde dann von Leuten angesprochen, hier in Leipzig, die ich kannte, aber von denen ich nicht wusste, dass die aus Colditz stammen. Die mir erzählt haben – und das war nicht bloß eine Person - dass sie das wirklich alles verdrängt hatten, weil es in ihrer Jugendzeit, also gerade um die  2010 rum so krass war. Du konntest jederzeit am falschen Ort sein .. an einer Tankstelle und wenn dort eben die, ich sage es jetzt mal etwas platt, die Faschos waren, dann hast du kassiert. Und du warst dort auch in der Minderheit. Und bei den, ich sage jetzt mal Älteren, die nun wirklich weder Punks geschweige denn irgendwie linksradikal sind. Da ist halt nachhaltig dieses Vertrauen in den Staat erschüttert worden. Es ist schlichtweg verloren gegangen, und das ist das, was ich zum Beispiel auch wirklich für einen Riesenproblem halte. Also die Landespolitik hat ja groß rumgetönt nach diesem großen Crystal-Fund. Aber tatsächlich hat man das schnell wieder abgeschrieben. Und ich habe den Eindruck, dass sich zum Beispiel der Innenminister, der sich ja nun sozusagen hier als erfahrener Politiker geriert und der, obwohl er noch nicht lange in Sachsen ist, ja eigentlich zu allem was zu sagen hat, komischerweise bei dem Thema still ist. Er hat sich ja auch ganz klar vor einem Interview bei uns gedrückt, obwohl es zugesagt war, und Nina auch mehrfach nachgefragt hat. Und ich finde es schon, es gibt in dieser Stadt, über die unmittelbar Gewalt-Betroffenen oder die Leute die Gewalt erfahren haben hinaus eine größere Gruppe von Menschen, die das Vertrauen in den Staat vor allen Dingen, die Polizei und Justiz verloren haben. Und ich finde es schon, dass das  eine Frage der politischen Verantwortung ist. Ich finde schon, dafür muss jemand die politische Verantwortung übernehmen und muss sich auch den Leuten stellen und ihnen auch erklären, wie man dieses Problem lösen will. Das wird nicht schnell gehen, aber man muss es machen.

SK

Als ich den Film angeguckt habe, ich muss ehrlich sagen, ich habe echt schlechte Laune gekriegt. Da sind Leute, die sind super aggressiv gegen Leute, die ihnen nicht passen. Die  werden eingeschüchtert, da wurde ein Lokalpolitiker verprügelt. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verlaufen im Sande. Die standen ja mal vor Gericht, aber da ist ja jetzt nicht so viel passiert. Leute müssen wegziehen, wie dieser Nachbar, und das quasi im Hier und Jetzt, also in diesem Land. Ich war wirklich empört, und ich habe richtig schlechte Laune gekriegt. Wie ist es euch denn gegangen mit der Beschäftigung mit diesem Thema?

NB

Ich glaube, ich tue mich immer schwer, meine eigenen Gefühle in den Recherchen zu platzieren. Weil ich glaube, die spielen da eigentlich weniger eine Rolle. Es geht für mich eigentlich primär darum, was macht das eigentlich mit den Leuten vor Ort? Was schafft das eigentlich für ein Klima da in Colditz? Aber natürlich habe ich da auch eigene Eindrücke gesammelt. Es gab da einen kleinen Tiefpunkt für mich persönlich. Das war bei einem der Drehtage in Colditz auf dem Marktplatz, als wir mit aufgebauter Kamera auf dem Marktplatz standen. Also man eigentlich davon ausgehen konnte, okay, da läuft jetzt eine Kamera.  Das hat aber trotzdem einen Autofahrer nicht davon abgehalten, mit sehr laut aufgedrehtem Rechtsrockmusik an uns vorbei zu heizen. Und dieser Rechtsrock war halt nicht nur tendenziös, sondern der war sehr eindeutig. Mit "Sieg Heil" und "Heil-Hitler-Rufen" eingebaut in diesen Text. Und da war ich, um ehrlich zu sein, schon nochmal ein bisschen baff. Das haben wir schon an anderen Drehtagen erlebt, dass beispielsweise rechte Kleidungsmarken oder rechte Symboliken auf T-Shirts was sehr Alltägliches sind, auch teilweise Partei- beziehungsweise Partei-Nachwuchs-Organisationen, die da halt irgendwie rechtsextremer Art auf den T-Shirts abgedruckt sind. Und für mich ist tatsächlich diese "rechte Alltagskultur", die sich da entwickeln konnte und die man so mit dem bloßen Auge sehen kann, wenn man ein bisschen darauf achtet. Die hat mich schon auf einer Art nochmal, ich will jetzt nicht sagen betroffen gemacht. Aber das war schon eine krasse Erfahrung. In dieser Kleinstadt, die malerischer kaum sein könnte. Wunderschön gelegen mit diesem Schloss. Wo aber eine Politik dominiert auf der Straße, die eben das zutage gefördert hat, was wir in diesem Film hoffentlich abbilden konnten. Und zwar Angst und Furcht und eine Gesellschaft, die irgendwie auch so ein bisschen die Hoffnung verloren hat in eine Zukunft, die anders aussehen könnte und die eben nicht geprägt ist von von Einschüchterungen und von permanentem Misstrauen.

SK

Thomas, wie bist du raus gegangen aus der Recherche und aus dem Film?

TD

Naja, ich war  glaube ich, seit 2014 bestimmt 50-mal in Colditz. Es gibt zwei Extreme: Zum einen ist mein Respekt, den ich natürlich von Anfang an hatte, aber noch einmal deutlich gestiegen, für die Leute, die dort dagegen halten, die sich positionieren, die auch Sachen organisieren. Es gibt zum Beispiel jetzt so ein Netzwerk von etwas jüngeren Leuten, wozu auch zum Beispiel der Hartmut Lehmann gehört. Das sind Leute, die schon länger dort wohnen oder gar dort geboren sind. Aber auch Leute, die neu dazu hingezogen sind, die über einen Kulturmarkt, Konzerte und sowas versuchen, dort so ein bisschen eine andere Kultur zu schaffen. Das ist natürlich relativ zäh, aber die sind da ausdauernd und machen das mit viel guter Laune. Also mit einer Positivität, die ansteckend ist es ist. Das finde ich ja immer beeindruckend. Weil die Voraussetzungen sind halt nicht so toll, wie zum Beispiel in einer Großstadt. Aber die Leute machen das, und das finde ich bewundernswert. Das andere ist, und das ist eine Geschichte. die lässt sich tatsächlich, selbst wenn man wollte, nicht kurzfristig lösen, wahrscheinlich nicht mal mittelfristig. Wir haben es offenbar mit einer größeren Gruppe zu tun von jungen Leuten, und wir sagen es ja auch im Film, die 3. Generation/ Nachwendegeneration Neonazis, die krass nationalsozialistisch eingestellt ist, die das tief verinnerlicht hat.

Ich frag mich ja bis heute, wann wir uns nicht nur in Sachsen, das ist ja ein Problem was wir in ganz Ostdeutschland haben im ländlichen Raum. Das es eine größere Minderheit gibt, die diesem nationalsozialistischen Weltbild folgt. Zum Teil sehr offen. Und ich finde, diese Auseinandersetzungen müssen wie als Gesellschaft in Ostdeutschland führen. Man braucht sich nichts vormachen, auch wenn die AfD jetzt nicht die NPD ist. Aber diese Leute, zusammen mit anderen, die unzufrieden sind, aber nicht unbedingt rechtsextrem, versammeln sich alle hinterv der AfD. Wir haben das auch in Colditz gehört. Es gab auch AfD-Rufe nach dem Stadtfest. Es gibt einschlägige Wahlergebnisse dort um die 30 Prozent, obwohl es dort zum Beispiel gar keine AfD-Fraktion im Stadtrat gibt. Also das heißt, die versammeln sich alle hinter der AfD, weil sie da halt eine Machtoption sehen. Und ja, ich denke, das ist ein Problem, dem man nicht länger ausweichen kann. Sonst verschieben sich sozusagen die Kräfteverhältnisse. Und das gefährdet die Zukunftssicherheit dieser Landstriche. Und ich bin ja auch der Meinung, auch die AfD muss sich diesem Problem stellen, denn wenn sie tatsächlich regieren will, dann muss sie was gegen den Nazismus in ihren Reihen tun. Da drücken wir uns alle ein bisschen davor. Der drückt sich natürlich auch die Politik davor, weil es natürlich unbequem ist im Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf, sich mit potenziellen Wählern auseinanderzusetzen.

SK

Stand jetzt hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben gegen Ralf, Uwe und Andreas N.. Da wird es also einen Prozess geben, und wir werden sehen, wie es dann weitergeht. Euch beiden erst mal vielen Dank. Nina Böckmann und Thomas Datt

Allen, die zugehört haben, herzlichen Dank.

Und auch gleich noch ein Hinweis. Wir bekommen regelmäßig den Hinweis, wir sollten auch mal nach "links" schauen, und nicht nur über Neonazis und/oder Rechtsextremisten berichten. Das tun wir. Zum Beispiel haben Thomas  und Nina einen Film über den Prozess über die Linksextremisten rund um die Leipziger Studentin Lina E gemacht - und dazu gab es auch eine Podcast-Folge. Auch kurz nach der Festnahme der verdächtigen Linksextremisten haben wir hier im Podcast berichtet.

MDR Investigativ –Hinter der recherche erscheint alle 2 Wochen freitags in der ARd Audiothek – und überall da, wo Sie uns gerade hören.

MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche

Weitere Podcasts von MDR AKTUELL