Golfstrom bei den Lofoten
Länder wie Norwegen (hier die Lofoten) profitieren bisher noch sehr stark vom Golfstrom. Bildrechte: imago/Panthermedia

Klima-Kipppunkt Kollabiert Mitte des Jahrhunderts das Golfstrom-System?

26. Juli 2023, 07:36 Uhr

Die Atlantische Umwälzzirkulation könnte bereits Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie aus Dänemark. Da auch der Golfstrom Teil dieses Strömungssystems - auch Golfstrom-System genannt - ist, hätte das schwerwiegende Konsequenzen für Europa und das Weltklima. Doch Forschende haben Zweifel: Sie kritisieren die Schlussfolgerungen der Studie und sehen keinen Grund zur Panik. Das System schwäche sich zwar ab, kollabiere aber nicht so bald.

Die Atlantische Umwälzzirkulation (engl. Atlantic Meridional Overturning Circulation - AMOC) durchzieht den Atlantischen Ozean: An der Wasseroberfläche wird warmes, salzhaltiges Wasser nach Norden transportiert und in mehreren Kilometern Tiefe strömt kaltes, salzärmeres Wasser in die entgegengesetzte Richtung. Diese Strömungen werden sowohl durch Winde als auch durch unterschiedliche Wassertemperaturen und -salzgehalte angetrieben.

Die Atlantische Umwälzzirkulation dürfe man nicht mit dem Golfstrom verwechseln, erläutert Ozeanographin Levke Caesar vom MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen. "Der Golfstrom ist eine windgetriebene Strömung, welche an der Ostküste der USA entlangfließt, sich bei etwa 40 Grad nördlicher Breite von dieser löst und Richtung Atlantikmitte fließt", sagt sie. Ab da spreche man dann vom Nordatlantikstrom. Das sogenannte Golfstrom-System - in der Bedeutung von AMOC – bezeichne dagegen den nordwärts gerichteten Transport von warmen, salzhaltigem Oberflächenströmungen und die südwärts gerichtete Rückströmung in der Tiefe über den gesamten Atlantik. "Golfstrom und Golfstrom-System überschneiden sich zwar, sind aber nicht identisch."

Beobachtete Temperaturänderungen im Golfstrom seit 1870.
Schon seit 1870 zeigen die Daten, dass sich die Temperatur im Golfstrom-System ändert. Bildrechte: PIK

Die eigentliche Golfstromzirkulation gilt als eines der großen Kippelemente des Klimasystems. Sie transportiert nämlich große Mengen Energie in Richtung der nordischen Meere, was wiederum für ein mildes Klima in Europa sorge. Würde sie kollabieren oder sich stark abschwächen, hätte das wohl schwerwiegende Folgen. "So wissen wir zum Beispiel, dass ein Zusammenbruch der AMOC den Meeresspiegelanstieg an der Ostküste der USA um bis zu mehrere Dezimeter verstärken könnte und die Temperaturen in und um den Nordatlantik um mehrere Grad fallen könnten", sagt Caesar. Außerdem würde sich die Zirkulation in der Atmosphäre ändern, was Hitzewellen in Europa begünstige, so die Forscherin. "Aber die AMOC beeinflusst nicht nur Europa und die USA, sondern auch die Äquatorregion und scheint insbesondere Einfluss auf die Niederschlagswahrscheinlichkeit und -menge in Teilen Afrikas und Asiens zu haben."

AMOC-Kollaps zur Mitte des Jahrtausends?

Wie sich das Golfstrom-System künftig entwickeln wird, lässt sich noch nicht sicher vorhersagen. Das Strömungssystem ist sehr komplex und die Datenlage dünn. Erst seit Anfang der 2000er-Jahre gebe es Messdaten von verschiedenen Stellen im Atlantik, erläutert Forscherin Caesar. "Die daraus resultierenden Zeitreihen sind aber zu kurz, um Aussagen über die Stabilität der AMOC treffen zu können." Mehrere Forschende haben seit Beginn der Messungen bereits eine Abschwächung des Systems beobachtet.

Der aktuelle Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC prognostiziert eine sehr wahrscheinliche Abschwächung des Strömungssystems im 21. Jahrhundert, befürchtet aber keinen abrupten Zusammenbruch in dieser Zeit. Das sieht ein dänisches Forschungsteam jetzt anders. Das Team hat eine neue Studie im Fachmagazin Nature Communications publiziert, die einen früheren Kollaps für wahrscheinlich hält. Konkret schreiben die Forschenden: "Wir gehen davon aus, dass es unter dem aktuellen Szenario zukünftiger Emissionen um die Mitte des Jahrhunderts zu einem Zusammenbruch der AMOC kommen wird."

Wir gehen davon aus, dass es unter dem aktuellen Szenario zukünftiger Emissionen um die Mitte des Jahrhunderts zu einem Zusammenbruch der AMOC kommen wird.

Peter Ditlevsen & Susanne Ditlevsen, Universität Kopenhagen

Für ihre Analyse nutzen die dänischen Forschenden Beobachtungsdaten - konkret die Oberflächentemperatur des Wassers in Teilen des Golfstromsystems zwischen 1870 und 2020. Diese Daten untersuchten sie auf mögliche Frühwarnsignale und berechneten daraus dann den möglichen Zeitpunkt, an dem das System kollabiert. Allerdings macht das Forschungsteam eine Einschränkung: Es könne auch sein, dass sich dieser Kollaps auf Teile des Strömungssystems beschränke.

Kritik: Daten lassen Schlussfolgerung nicht zu

Doch an dieser dramatischen Prognose gibt es bereits Kritik. Andere Expertinnen und Experten auf dem Gebiet halten die Schlussfolgerungen des Forschungsteams für nicht haltbar. Die Bremer Forscherin Caesar etwa bemängelt, dass die Daten "nicht ausreichend perfektioniert und getestet" seien, um zuverlässige Aussagen über die Zukunft der Atlantischen Umwälzzirkulation machen zu können. Der Experte für Erdsystemmodellierung und Komplexitätsforschung, Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und der TU München meint, dass die dänische Studie zu unterkomplex sei. "Im Detail ist die statistische Analyse selbst korrekt, allerdings werden sehr stark vereinfachende Annahmen bezüglich der mechanistischen Beschreibung der meridionalen Umwälzzirkulation im Atlantik selbst getroffen", bilanziert er.

Der Forscher Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
Klimaforscher Niklas Boers Bildrechte: PIK/Karkow

Boers forscht selbst auch an der Abschwächung des Strömungssystems. Er sagt, dass bereits bekannt sei, dass die AMOC langsamer geworden ist. "Die Ergebnisse einer meiner eigenen Studien zeigen, dass diese Verlangsamung mit einem Stabilitätsverlust einhergeht", erläutert der Forscher. Das bedeute zwar, dass das Strömungssystem sich seinem Kipppunkt angenähert habe, lasse aber keine quantitative Aussage zu. "Eine quantitative Aussage – etwa 'wie nah?' oder 'Wann ist der Kipppunkt erreicht?' – habe ich in meinem Paper bewusst nicht gemacht, da die Unsicherheiten in den mechanistischen Annahmen und in den zu Grunde liegenden Daten für eine solche Extrapolation viel zu groß sind." Auf Grundlage der Analyse historischer Daten könne keine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens getroffen werden.

Die Autoren haben sich hiermit zu weit aus dem Fenster gelehnt und die relevanten Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt.

Niklas Boers, PIK & TU München

Auch der Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem am Max-Planck-Institut für Meteorologie, Jochem Marotzke, sieht das ganz ähnlich. Er habe erhebliche Zweifel daran, ob die Messungen der Oberflächentemperatur überhaupt als "AMOC-Stellvertreterdaten" zulässig seien. Die aktuelle Arbeit liefere jedenfalls keinen Grund, an der Bewertung des IPCC etwas zu ändern. "Die in der nun erscheinenden Studie so zuversichtlich vorgetragene Aussage, es werde im 21. Jahrhundert zum Kollaps der AMOC kommen, steht auf tönernen Füßen", meint Marotzke.

Prof. Jochem Marotzke
Klimaforscher Jochem Marotzke: Es gibt keinen Grund an der IPCC-Bewertung etwas zu ändern Bildrechte: MPI-M / D. Ausserhofer

"Die aktuelle Studie kann ein fachlicher Beitrag zur Diskussion über mathematische Modelle von Klimavariationen sein", lautet die Bilanz von Johanna Baehr, Forscherin am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) an der Universität Hamburg. Doch auch sie bemängelt, dass die rein statistische Untersuchung, die die physikalische Perspektive ausblendet, der Komplexität des Klimasystems in vielerlei Hinsicht nicht gerecht werde. "Hinsichtlich der Bezugnahme auf aktuelle Modellsimulationen und umfangreiche Messungen hält die Studie außerdem nicht, was sie verspricht." Ein abrupter Zusammenbruch des Strömungssystems sei aus ihrer Sicht in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Gute Noten für die statistische Methodik

Lob gibt es allerdings für die statistische Methodik des Forschungsteams: Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) etwa sagt: "Die aktuelle Studie ist super interessant. Ich finde, dass man eine neue methodische Sichtweise bekommt." Die Methodik sei sehr ausgereift, nachvollziehbar und auch sehr interessant, betont Lohmann. Doch auch er kritisiert: "Die AMOC allerdings allein aus der Oberflächentemperatur in einer Region zu rekonstruieren, ist in meinen Augen etwas problematisch."

Sendungsbild
Der Golfstrom hält die Küsten Norwegens auch im Winter eisfrei. Bildrechte: MDR/SWR/Rolf Lambert/AMP

Lohmann befürchtet, dass die aktuelle Studie "an manchen Stellen nicht sorgfältig genug ist". Allerdings sorge die inhaltliche Kontroverse jetzt für bessere Forschung. Generell wird in der Wissenschaft über die Atlantische Umwälzzirkulation durchaus kontrovers diskutiert. Das bestätigt auch PIK- und TU München-Forscher Boers. Er verweist etwa auf eine Arbeit, in der gezeigt werde, "dass die beobachtete Verlangsamung wahrscheinlich noch mit der natürlichen Variabilität der AMOC vereinbar ist, also statistisch ein anthropogener Fingerabdruck nicht bewiesen ist."

Auch die Bremer Forscherin Levke Caeser erklärt, dass die Frage "ob und – wenn ja – wann die AMOC ihren Kipppunkt erreichen könnte" schon seit Jahrzehnten diskutiert werde. So deuteten etwa Paläodaten aus Eisbohrkernen und Ozeansedimentkernen darauf hin, dass das Strömungssystem zu früheren Zeitpunkten in der Erdgeschichte deutlich schwächer gewesen sei als heutzutage. Klimamodelle zeigten aber auch, dass das System grundsätzlich kollabieren könnte. Außerdem werde diskutiert, ob das Strömungssystem womöglich mehrere Kipppunkte hat. "Das heißt, es könnte sein, dass ein Überschreiten des ersten Kipppunktes nicht zu einem kompletten Zusammenbruch der AMOC führt, sondern dass sich das System auf einem – im Vergleich zu heute – schwächeren Niveau stabilisiert."

Die Autoren der aktuellen Studie haben eine Methode entwickelt, mit welcher der Kipppunkt der AMOC bestimmt werden kann, sobald wir ausreichend gute Messdaten auch auf kürzeren Zeitskalen haben.

Levke Caesar, MARUM Universität Bremen

"Zusammengefasst ist es wichtig zu verstehen, dass die Studie nicht zeigt, dass die AMOC im Jahr 2050 zusammenbricht", bilanziert Caesar. Sie deute aber erneut darauf hin, dass die Atlantische Umwälzzirkulation bereits einen Teil ihrer Stabilität verloren haben könnte. Und das sei eine ernstzunehmende Botschaft, "unsere Treibhausgasemissionen zu reduzieren, welche die Hauptursache für den anthropogenen Klimawandel sind."

Link zur Studie

Ditlevsen P et al. (2023): Warning of a forthcoming collapse of the Atlantic meridional overturning circulation. Nature Commuications. DOI: 10.1038/s41467-023-39810-w.

(kie/SMC)

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