Das Altpapier am 11. Dezember 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 11. Dezember 2023 Große Empörung, kleine Substanz

11. Dezember 2023, 10:47 Uhr

Eine Kita fühlt sich bedroht. Doch ein Mann, der auf ihrem Rücken Marketingspielchen treibt, wird von "Bild" wie ein Wohltäter behandelt. Und: Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem Warnstreik bei der "Frankfurter Rundschau" – und der angekündigten Kündigung dreier Nachwuchsredakteure in der Probezeit? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Ein Herz für [Typen, die] Kinder [für Marketingspielchen benutzen]

Weihnachten ist eine Zeit der Rituale. Auch der medialen Rituale. Ein bisschen wie Sommerloch ohne Viecher. Die "Bild"-Spendengala "Ein Herz für Kinder" gehört zu diesen Ritualen. Am Samstagabend wurde sie wieder im ZDF übertragen. Und was kurz vor den Feiertagen medial mittlerweile auch fast schon zwingend dazu gehört, ist die "alljährliche Empörungswelle gegen die 'Woken'", wie Christian Bangel am Freitagabend in einem Kommentar bei Zeit Online schrieb: "Sich über vermeintliche linksgrüne Ideologen zu ereifern, die angeblich Weihnachtsmärkte in Wintermärkte umbenennen wollen – das gehört inzwischen zum politischen Kalender wie die Böllerdebatte vor Silvester und die Integrationsdebatte danach."

Dieses Jahr steht eine Kita im Hamburger Stadtteil Lokstedt im Auge eines Sturms, weil sie zwar anderen Adventsschmuck nutzen, aber keinen Weihnachtsbaum aufstellen wollte und das mit dem – "zugegeben nicht sehr stichhaltigen – Argument der Religionsfreiheit" (Bangel) begründet hat. In den Vorjahren habe es mal einen Baum gegeben und mal nicht, wie die Kita-Leitung mittlerweile mitgeteilt hat. Je genauer man hinschaut, desto irrelevanter für die breite Öffentlichkeit wird es. Aber "(e)tliche Medien sprangen sofort auf das Thema auf", schreibt Bangel, der von einem "Wut-Meme" spricht. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dessen Social-Media-Kommunikationsverhalten am Wochenende gleich auf zwei Medienseiten glossiert ("Tagesspiegel") bis auseinandergenommen wurde (Printausgabe der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung"), sprang hinterher.

Christian Stöcker hat sich für seine Kolumne auf spiegel.de das Thema anlässlich des Zusammenspiels von großer Empörung und kleiner Substanz ebenfalls vorgenommen und verweist auf die längere Geschichte der erfundenen Behauptung, irgendjemand wolle Weihnachten abschaffen. Zum Tathergang im aktuellen Fall schreibt er:

"Dann aber kamen zuerst das 'Hamburger Abendblatt', dann die 'Bild'-Zeitung und schließlich 'Focus online' und erklärten, auf Basis der Beschwerden einiger Eltern, die Abwesenheit eines Christbaums in einer Kindertagesstätte zum Kulturkampfthema: 'Cancel Culture'! 'Eltern empört!' Markus Söder, der ungern eine Vorlage für ungebremsten Populismus auslässt, reichte die abgeschriebene 'Focus'-Meldung dann an seine 420.000 Follower auf X, ehemals Twitter, weiter."

Christian Bangel:

"Diese Erzählung gehört zu der immer wieder aufs Neue verbreiteten Dystopie, nach der eine globale Wokeness-Ideologie selbstbestimmtes Verhalten zunehmend unmöglich mache. Und immer wieder werden dafür irgendwelche Indizien gefunden. Das angebliche Muttertagsgeschenk-Verbot in einer hessischen Kita, das angebliche Schweinefleischverbot in einer Leipziger Kita: Wer suchet, der findet, und wenn es eine Kinderbetreuungseinrichtung ist."

Das Problem sei halt nur, dass es Menschen gibt, die all das "sehr ernst" nähmen.

"Was ein solches Klima bewirkt, lässt sich auch daran ablesen, dass die Kindertagesstätte kurz nach Veröffentlichung der Vorwürfe nach eigener Aussage Ziel jeder Menge rassistischer Drohungen und Beleidigungen wurde. Man will sich gar nicht vorstellen, wie es den Erzieherinnen, Erziehern, den Kindern und Eltern dort gerade geht."

Das "Hamburger Abendblatt", das zuerst berichtet hatte, ergänzte am Freitag deshalb seine Berichterstattung um den Hinweis, dass sie den Namen der Kita mittlerweile online aus dem Artikel entfernt habe,

"da die Einrichtung laut anwaltlichem Schreiben nun 'massiv bedroht' werde und es deshalb zu einer 'Gefährdung von Kindern und Mitarbeitern' komme. Eine Abendblatt-Anfrage bei der Hamburger Polizei hat am Freitagnachmittag ergeben, dass der Behörde in dieser Angelegenheit bislang ein Vorfall bekannt ist: Demnach hat die Einrichtung eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs gegen einen Mann erstattet, der einen Weihnachtsbaum und Geschenke auf das Gelände gebracht hatte."

Was aber machte "Bild", nachdem dieser Mann sich eigenmächtig über die Entscheidung der Kita hinweggesetzt, Baum und "Geschenke" für Kinder dort hinterlassen und in einem Twitter-/X-Video auch noch eine Werbeaktion für sein Unternehmen daraus gemacht hat? Sie nannte ihn und seine Firma namentlich und wohlwollend, sprach mit ihm wie mit einem edlen Wohltäter, dessen Verhalten nichts Hinterfragenswertes hat, und mutmaßte:

"Diese Überraschung freut sicher ganz, ganz viele Kinder – und sorgt eventuell für ein Umdenken bei der Kindergarten-Leitung …"

Nein, das tat es nicht. Und als "Bild" am Wochenende gleich noch einmal wohlwollend über den, wie "Bild" ihn nennt, "Spender" berichtete, hatte sich daran auch nichts geändert.

Also: Ein Mann bringt in einer durch mediales Getröte und Social-Media-Instrumentalisierungen aufgeheizten Atmosphäre, aus Gründen, die politisch sein könnten, Päckchen auf ein Kita-Gelände. Und "Bild" aus dem Haus Axel Springer (wo man, damit niemand einfach so ins Haus kommt, vor vielen Jahren eine Sicherheitsschleuse im Foyer errichtet hat), behandelt den Mann, der auf dem Rücken der böswillig in die überregionale Öffentlichkeit gezerrten Kita seine Marketingspielchen treibt, als hätte der einfach nur: ein Herz für Kinder.

[Für die Transparenz: Ich arbeite frei für Zeit Online.]

Ippen: Verleger "nach Gutsherrenart"?

Sie erinnern sich an die Meldung, bei der "Frankfurter Rundschau" habe es Warnstreiks gegeben, die bei der Ippen-Geschäftsführung auf Unverständnis stoßen würden? Wir hatten damit vor einer Woche hier die "taz"-Berichterstattung zusammengefasst. 50 von 85 Beschäftigte hätten daran teilgenommen. Es ging um einen Tarifvertrag und offenbar erfolglose Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Geschäftsführung. Mittlerweile ist die Auseinandersetzung in der Fortsetzung, und die hat es in sich. Man kann, worum es geht, auch in der "Frankfurter Rundschau" selbst nachlesen ("Kündigungen und Digital-Entscheidungen der Geschäftsführung der Frankfurter Rundschau empören Redaktion und Gewerkschaften").

Drei jungen Redakteurinnen und Redakteuren wurde, so wird berichtet, in der Woche nach dem Streik gekündigt. Die drei hätten "sich nach eigenen Angaben gar nicht am Streik beteiligt", so Andrej Reisin bei "Übermedien": Aber sie "waren noch in der Probezeit und konnten deshalb ohne Rücksicht auf den Kündigungsschutz rausgeworfen werden". Bauernopfer, schreibt Reisin. Union Busting, kritisieren Gewerkschafter.

Dem Verlag zufolge wurden die Kündigungen bislang zwar nicht ausgesprochen, angekündigt aber schon. Der "Evangelische Pressedienst" (siehe etwa faz.net) und die "taz" zitieren den Geschäftsführer mit den Worten, die angekündigten Kündigungen stünden nicht im Zusammenhang mit dem Streik, sondern hingen mit der Einstellung der redaktionellen Betreuung unrentabler Produkte zusammen. Der "FR"-Leitung wird allerdings auch vorgeworfen, sie habe schon im Zug der zurückliegenden Tarifauseinandersetzungen Drohszenarien für den Fall eines Streiks aufgebaut.

Worum geht es wirklich? "Nur" um Gehälter? Warum wirft man junge Leute raus, auf die die Redaktion ganz offenkundig gesetzt hatte? Andrej Reisin, der der Ippen-Familie ein Agieren "nach Gutsherrenart" vorwirft, vermutet noch eine andere Motivation:

"Das dürfte, neben der grundsätzlichen Ablehnung einer angemessenen Bezahlung, wie sie in Tarifverträgen vereinbart wird, ein zentraler Punkt des Konfliktes sein: Das 'digitale Medienhaus' Ippen mit seinen zahlreichen Regionaltiteln hat sich darauf spezialisiert, möglichst automatisiert und standardisiert viel journalismusähnlichen Content mit möglichst wenig Journalisten zu produzieren. Im Idealfall werden die Inhalte KI-generiert. Dieses Haus hat offenbar weder eine Idee noch eine Verwendung für eine traditionsreiche überregionale Tageszeitung mit linksliberaler Ausrichtung."


Altpapierkorb (CDU-Papier zur ÖRR-Reform, Kritik von ARD und ZDF, Kai Gniffke, Patricia Schlesinger, Bergkarabach-Berichterstattung, "ZDF Magazin Royale", Samir Shah / BBC, "Daily Telegraph")

+++ In der Montags-"FAZ" steht ein Text von Helmut Hartung über ein CDU-Papier zur Reform der Öffentlich-Rechtlichen, entwickelt von einer Kommission unter Leitung von Reiner Haseloff, dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt: "Die CDU lehnt eine Beitragserhöhung nicht grundsätzlich ab und bekennt sich zur Rolle der Gebührenkommission KEF. Eine Anhebung der Beiträge komme jedoch nur in Betracht, 'wenn und soweit es nach den Feststellungen der KEF und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Austauschentwicklung zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags wirklich erforderlich ist'", zitiert Hartung aus dem Papier. Die "Welt am Sonntag" berichtete als erstes und stellt den Aspekt "'Pflicht zur Zusammenarbeit’ für ARD und ZDF" besonders heraus. Die "dpa" schreibt, es gehe um "weitreichende Reformen".

+++ "Anfang des kommenden Jahres wird die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) ihren neuesten Bericht vorlegen und darin auch erläutern, ob es aus ihrer Sicht eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags ab 2025 braucht, damit die Öffentlich-Rechtlichen ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen können. Sieben Bundesländer erklärten aber bereits, einer Erhöhung nicht zustimmen zu wollen." So Timo Niemeier bei dwdl.de. Sachsen-Anhalt gehört zu den sieben, die bislang nicht abwarten wollten, was die KEF überhaupt vorlegt. Dass das festgelegte Rundfunkbeitragsverfahren zuletzt gehäuft in Zweifel gezogen wurde, sorgt wiederum für Kritik aus ARD und ZDF, vor allem aus dem BR, so dwdl.de. Nicht zu Wort gemeldet habe sich bislang allerdings der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke.

+++ Kai Gniffke ist als SWR-Intendant wiedergewählt worden. Dass es keine Gegenkandidatin und keinen Gegenkandidaten gab, sorgt für Skepsis und Kritik. Michael Hanfeld beklagt in der "FAZ" fehlende Transparenz im Vorfeld: "Dass es für Gniffke leicht würde, war abzusehen. Schließlich stand nur er zur Wahl. Die von Rundfunk- und Verwaltungsrat gebildete Findungskommission hatte nur ihn empfohlen. Zwar gab es mindestens eine weitere ernsthafte Kandidatin – eine leitende Mitarbeiterin des Mitteldeutschen Rundfunks –, doch zog die Findungsgruppe diese nicht für einen Wahlvorschlag in Betracht. Dass dem so war, wurde bis zum Wahltag unter der Decke gehalten." Kritik an der Gehaltserhöhung eines ARD-Intendanten gibt es diesmal allerdings nicht. Denn es gibt dem Vernehmen nach keine; Gniffkes Gehalt soll reduziert werden, wie auch die "Deutsche Presseagentur" in ihrem Bericht schreibt.

+++ Die im Rahmen der RBB-Krise fristlos entlassene ehemalige Intendantin Patricia Schlesinger ist im Untersuchungsausschuss im brandenburgischen Landtag aufgetreten. Und sagte laut "FAZ" zum einen, dass sie zu manchem derzeit aus Verfahrensgründen noch nichts sagen könne. Aber sie wird, auch von der "Welt", zitiert: "Mir tun die Geschehnisse im RBB tiefgreifend und umfassend leid. Sehr leid." Auch die "taz" berichtet und schreibt etwa über die Aussage von Schlesingers Ehemann Gerhard Spörl: "In einer kurzen Erklärung bestritt Spörl, dass es zwischen dem RBB und seiner Beratungsfirma Verträge gegeben habe. Auch Gelder seien nicht geflossen. Es sei eine Menge Fakenews in dieser Angelegenheit verbreitet worden, beklagte Spörl. Zum Bauprojekt 'Digitales Medienhaus', das Gegenstand der Befragung war, könne er keine Angaben machen, weil er daran nicht beteiligt gewesen sei."

+++ "Es hätte mehr, kontinuierlicher und hintergründiger über die Lage in Bergkarabach berichtet werden müssen. Diesen Vorwurf müssen wir Journalist:innen uns gefallen lassen", schreibt die deutsch-armenische Journalistin Marianna Deinyan aus Köln im "Journalist". Und berichtet über ihre Erfahrungen als "freie Journalistin, die über Wochen Redaktionsklinken geputzt, Kolleg:innen unhonoriert inhaltlich beraten oder schlecht honoriert mit Übersetzungen unterstützt hat – nur damit die prekäre Lage der Menschen in Bergkarabach in der deutschen Berichterstattung aufgegriffen wird".

+++ "Ein außergewöhnlich harter Schritt", schreibt spiegel.de nach der Ankündigung des ZDF,  die Ausgabe des "ZDF Magazin Royale" zu sogenannter ritueller Gewalt aus der Mediathek zu nehmen. Der "Tagesspiegel" hatte das in Erfahrung gebracht. Vorangegangen war eine Beschwerde der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Der habe auch der mit Vertretern von Politik und Kirche besetzte Fernsehrat zugestimmt – allerdings knapp. Der Ausschuss Programmdirektion des Fernsehrats habe dagegen ausdrücklich eine Zurückweisung der Beschwerde empfohlen.

+++ An die Spitze der britischen BBC soll der Medienunternehmer Samir Shah rücken; die britischen Tories wollen es so. Harald Staun ordnet die Personalie in der gedruckten "FAS" knapp ein: "Er gilt als erfahrener Fernsehmanager und hat sich den Ruf erarbeitet, eine 'anti-woke'-Haltung zu vertreten. Die BBC selbst bezeichnete die Wahl Shahs in einem Artikel über den designierten Chef aber aus einem anderen Grund als 'sea change'– also gewissermaßen als Zeitenwende: Endlich werde nun ein Journalist an der Spitze des Senders stehen."

+++ Um die BBC ging es auch in der Samstags-"FAZ" (Abo): "Ihre Berichte über den Krieg zwischen Israel und der Hamas sehen Kritiker (…) als voreingenommen an" (siehe dazu auch dieses Altpapier)…

+++ … während sich die "Süddeutsche Zeitung" (Abo) mit einem anderen britischen Medium befasst, dem "Daily Telegraph", dem ein Verkauf an den Scheich aus Abu Dhabi bevorstehen könne, der auch schon den Fußballklub Manchester City besitzt.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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