Das Altpapier am 4. Dezember 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 4. Dezember 2023 Vertiefung als Ziel

04. Dezember 2023, 11:04 Uhr

Talkerin der Merkel-Ära, der letzte Rest an demokratischem Anstand, Moderationen wie beim Schulhofstreit: Anne Will verlässt den Sonntagstalk. Und: "Bild" distanziert sich von einem langjährigen Reporter.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Anne Will, eine prägende Figur des Fernsehens

Eine Woche nach Thomas Gottschalk hat sich an diesem Sonntagabend die nächste Fernsehkoryphäe von ihrer Mustersendung verabschiedet: Anne Will. Wobei es natürlich unfair ist, die beiden zu vergleichen. Sie haben sehr unterschiedliche Karrieren gemacht, hatten sehr unterschiedliche Formate und Aufgaben, und Anne Will verließ ihre Bühne mit einer gewissen Größe und angemessenen Dankesworten. Aber beide sind eben doch gleichermaßen: prägende Figuren des linearen Fernsehens. Weshalb "Anne Will" zu ihrem Abschied nicht viel weniger Abschiedstext gewidmet wurde als Gottschalk und "Wetten, dass..?".

Der große Unterschied in der Anlage der Abschiedstexte ist: Wetten, dass..?" wurde als Solitär behandelt, als die eine große Samstagabendshow, die ein Maßstab für alle anderen Samstagabendshows war. "Anne Will" wurde behandelt als eine von mehreren Talkshows, deren Charakteristika sich am besten im Vergleich fassen lassen. Anton Rainer macht es auf spiegel.de (€) vor:

"Anders als bei Frank Plasbergs 'Hart, aber fair', wo sich Kontrahenten am Bartresen angifteten, oder bei 'Markus Lanz‘, wo das Ego des Gastgebers auch mal den größten Redeanteil einnimmt, herrschte bei 'Anne Will' das seriöse, bürgerliche Deutschland. Und ein Format, in dem moderiert wurde wie beim Schulhofstreit: 'Zuerst reden Sie, dann er. Und am Ende kommt Clemens Fuest, der hat noch gar nichts gesagt.’ An guten Abenden rettete die von 'Anne Will' verordnete Ruhe den letzten Rest an demokratischem Anstand. An schlechten konstruierte sie eine Welt, in der die Klimakrise durch die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs gelöst wird."

Harry Nutt legt auf den Seiten der "Berliner Zeitung" allerdings den Fokus auf etwas anderes – Will als die Talkerin der Merkel-Ära: Will habe "dieses Format nicht zuletzt durch exklusive Gespräche mit der ewigen Bundeskanzlerin Angela Merkel derart nachhaltig geprägt, dass man ihm zwischenzeitlich quasi-staatlichen Verlautbarungscharakter unterstellte". Wobei eine häufig gemachte Unterstellung ja noch nicht zwangsläufig wahr wird davon, dass sie oft geäußert wird. Gut ist deshalb der Versuch von Christian Meier von der "Welt am Sonntag", Anne Will im Interview zu genau dieser Kritik zu befragen. Er zitiert dazu den "Focus":

"Im 'Focus' war nach einem Merkel-Interview zu lesen, Ihre Sympathie sei größer als Ihre Neugier gewesen", sagt er, worauf Will allerdings, statt wirklich zu antworten, tut, was sie gut kann: Sie stellt eine Rückfrage ("Das ging mir nicht so. Wie haben Sie das denn gesehen?"), die nun wiederum Christian Meier beantworten muss. Das tut er dann ziemlich überlegt, wie ich finde:

"Dem Urteil würde ich mich nicht anschließen. Sympathie und Neugier schließen sich ja nicht aus. Ich denke, Sie haben dem Impuls widerstanden, kritische Fragen um der kritischen Fragen willen zu stellen, das machen Journalisten ja häufiger."

Das ist eine schöne Passage, die im Grunde zusammenfasst, was die Talkshow im besten Fall leisten kann: Man kommt mit einer Meinung in sie hinein und geht mit einem präziseren Bild heraus. Man muss also nicht vom Gegenteil dessen überzeugt worden sein, was man vorher dachte, aber im Idealfall kann man die eigene Meinung besser begründen. Oder ahnt, was zu einer guten Begründung eigentlich fehlt und welche Leerstellen die eigenen Überlegungen haben.

Was eine gelungene Talkshow ausmache, sagt Anne Will im ebenso ausführlichen Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", sei ihrer Meinung nach "Vertiefung". Dazu gehört, wenn ich sie richtig verstehe, die angesprochene Präzisierung. Sie sagt:

"Ich bin besonders zufrieden, wenn ich den Eindruck habe, dass uns eine wirklich wahrhaftige, leidenschaftliche Auseinandersetzung gelungen ist. Meiner Beobachtung nach ist das immer dann der Fall, wenn sich große Fragen ganz neu stellen. Dann kann man dann auch den geübtesten Gästen und gestandenen Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern beim Verfertigen der Gedanken zuhören und zusehen. Das ist toll! Ich habe es immer als echtes Glück empfunden, dabei zu sein und das zu befördern, nachzufragen, die Gedanken mitzugehen, während der Sendung richtig was zu lernen. Gute Argumente aufzugreifen, in die nächste Frage mitzunehmen und immer weiter in die Vertiefung zu schrauben. Ich finde, dass eine Talkshow das in besonders guter Weise kann."

Vielleicht ist es okay, das zum Abschied mal so stehen zu lassen. Wenn Caren Miosga demnächst den Sonntagstalkplatz übernimmt, können wir ja weiter verhandeln, ob die politische Talkshow auch wirklich gut genug ist im Schrauben.

Was deutlich wird in den Abschiedstexten: dass man die gängigste Kritik gegen Talks präzisieren muss. Gebrauchte Schlagworte wie "Ersatzparlament", "Krawallbude" u.ä. sind heute auch nur noch Floskeln, mit denen man es sich sicher zu einfach macht. Und Floskeln will ja in Talks auch niemand mehr hören. Meine Hauptkritik am Talk bezieht sich derzeit eher auf die mangelnde Bandbreite von Themen. Nehmen wir nur mal Bildungspolitik – wann wurde dazu zum Beispiel mal ernsthaft getalkt in den vergangenen Jahren? Ist ja nicht so, dass sie irrelevant wäre. Ländersache? Deshalb schwierig? Ja, vielleicht. Dann hätte das Format Talkshow allerdings womöglich ein Ländersachendefizit.

Des Putin-Schleimers Ko-Autor von "Bild"

Es ist immer ungut für eine Zeitung, wenn sie ein Verhalten besonders harsch kritisiert hat, von dem sich dann herausstellt, dass es im eigenen Haus ebenfalls vergleichbar praktiziert wurde. In diesem Fall ungut für "Bild":

"Als kürzlich rauskam, dass der Journalist Hubert Seipel viel Geld aus Russland für Bücher über Wladimir Putin erhalten hat, schoss die 'Bild'-Zeitung scharf gegen den 'Putin-Schleimer'. Dabei hat das Blatt selbst einen Mann in den eigenen Reihen, der nah an Russland dran ist – und Co-Autor eines Propagandabuchs über das Land und seinen Präsidenten."

Das schreibt "Übermedien" über eine Recherche, die Doreen Reinhard für das Medienportal angestellt hat. (Und um "Bild" ganz korrekt zu zitieren: Es hieß dort, Seipel sei der "Putin-Schleimer von der ARD" – siehe dazu etwa dieses oder jenes Altpapier.) Der besagte Mann in den eigenen Reihen von "Bild" ist der Dresdner Chefreporter Jürgen Helfricht. Regelmäßige "Bildblog"-Leserinnen und -Leser mit gutem Gedächtnis werden sich unter Umständen an eine seiner Geschichten erinnern: 2005 hat Helfricht zum Beispiel exklusiv berichtet, es gebe einen Erfinder, der "aus Katzen Benzin machen" könne. Der Erfinder sagte laut bildblog.de damals, der "Bild"-Bericht habe "nichts mit der Wahrheit zu tun" und sei "zudem grenzenlos dumm"… Aber lassen wir den Kram von 2005. Nun geht es um das 2018 erschienene Buch "Russland lieben lernen", dessen Autor Hans-Joachim Frey ist, der ehemalige Chef des Semper-Opernballs in Dresden. Helfricht war den Berichten zufolge Ko-Autor. (Frey wurde seinerzeit unter anderem vom MDR dazu interviewt, wie Reinhard festhält.)

"Bild" berichtete mittlerweile "in eigener Sache" und prüfe arbeitsrechtliche Konsequenzen, wie es etwa bei tagesspiegel.de via epd heißt. Dass er an dem Buch mitgeschrieben habe, sei "Bild" bis zu einer "Übermedien"-Anfrage nicht bekannt gewesen. Eine deutliche Distanzierung steht am Textende: "(I)m Buch selbst findet sich an mehreren Stellen eine verherrlichende Sichtweise auf den Kreml. Ein solches Weltbild hat in einem Haus wie BILD, das schon seit rund zehn Jahren mit eigenen Reportern über die russische Aggression in der Ukraine intensiv berichtet, keinen Platz."

Die "Süddeutsche Zeitung" (Abo) schreibt dazu: "Ungeklärt bleibt (…), wie es geschehen konnte, dass ausgerechnet bei der Bild-Zeitung ein solches Buch über so lange Zeit unentdeckt blieb."

Musks jüngste Rückwärtsrakete

Der in Brandenburg tätige Autofabrikunternehmer Elon Musk, der sich mit der Plattform formerly known as Twitter (zuletzt im Altpapier vom Dienstag) ein Social-Media-Unternehmen ans Bein gebunden hat, ist dieser Tage wieder einmal vielerorts Gesprächsthema. "Wir wollten den Typ doch ignorieren", schreiben die Kollegen vom Socialmedia-Watchblog in ihrem jüngsten Briefing etwas genervt – es klappt aber einfach nicht. Wer über Social Media schreibt, kann Musk schwerlich ignorieren. Was konkret passiert ist: Musk hat vergangene Woche die neueste Rückwärtsrakete gezündet und mit ihr nun einen noch tieferen Tiefpunkt erreicht: Er hat abwandernde oder bereits abgewanderte Werbekunden, namentlich den Disney-CEO, hart beleidigt. Das in den USA eigentlich sehr sparsam öffentlich benutzte F-Wort, auf gut Deutsch "fuck", fiel dabei mehrfach.

X werde von jenen zugrunde gerichtet, die nicht mehr dort werben wollten, sagte Musk sinngemäß in einem Bühnengespräch, das im Rahmen einer "New York Times"-Konferenz stattfand. "Und die ganze Welt wird wissen, dass die Werbekunden das Unternehmen getötet haben", zitiert ihn manager-magazin.de. Ach ja? Kleiner Exkurs: Warum treibt ein Unternehmen Werbung? Geht es ihm darum, karitativ tätig zu werden und andere Unternehmen, zum Beispiel X, zu unterstützen? Wohl kaum. Es will erst einmal das eigene Image verbessern und seine eigenen Produkte verkaufen. Es schaltet Werbung in der Regel nicht, wenn die Werbeabteilung annehmen muss, dass es dem Unternehmen nicht nutzt oder vielleicht sogar eher schadet – wie zum Beispiel auf X, wo man nicht weiß, ob ein hübsch aufgerüschtes Bild von einem leckeren Joghurt womöglich neben antisemitischen Widerlichkeiten ausgespielt wird. "Mehrere namhafte Konzerne und teilweise ganze US-Branchen hatten sich von X/Twitter zurückgezogen, nachdem Musk antisemitische Beiträge beworben hat", fasste heise.de zusammen. Aber Musk so?

"Wie ein kleiner Junge saß er irgendwie stolz auf seine Sturheit da und sagte: Dann gibt es halt kein X mehr. Dann haben die das kaputt gemacht. Und das Publikum wird den Werbekunden die Schuld geben und nicht mir",

schreibt Stefan Niggemeier im "Übermedien"-Newsletter (Abo). Er schreibt aber vor allem über Ulf Poschardt, den "Welt"-Chefredakteur, der über den Musk-Auftritt Eigenwilliges schrieb. "Je erfolgreicher Elon Musk ist, desto mehr verunglimpft ihn die linke Lauchbourgeoisie als Helfershelfer von Nazis", beginnt online (€) Poschardts Text. Und weiter geht er, kurz zusammengefasst, mit den Kernaussagen: Musk ist unabhängig, vorbildlich radikal und idealistisch. Leider ist Eigenwilligkeit kein Kriterium für Richtigkeit, Analyseschärfe oder Klugheit eines Beitrags; da wird bisweilen ein Häuchlein zu mutwillig etwas durcheinander gebracht. Dass man Beiträge, die um ihrer bloßen Eigenwilligkeit willen eigenwillig sind, als echten Gewinn für die Debatte zu begreifen hat: Diese Regel gilt jedenfalls nur in Sandkästen.


Altpapierkorb (MDR, "Frankfurter Rundschau", MSNBC, Produzentenallianz, ARD, VIVA)

+++ Dass der MDR, unter dessen Dach diese Kolumne erscheint, ab 2025 einen Stellenabbau und Einsparungen in Höhe von "mindestens 40 Millionen Euro pro Jahr" plane, greift die "FAZ" auf. Es "stünden auch Einschnitte beim Programm bevor. Insbesondere im Bereich Unterhaltung könnten die Angebote nicht im bisherigen Umfang aufrechterhalten werden."

+++ Warnstreiks gibt es bei der "Frankfurter Rundschau"; die "taz" berichtet. "Es sei untragbar, dass aktuell einige Kol­le­g*in­nen mit alten Verträgen Flächentarif bekommen, während andere bis zu 1.500 Euro unter dem Tarif bezahlt werden, so ein Redaktionsmitglied. Die Folge: Viele, vor allem junge Redakteur*innen, können sich das Leben im Rhein-Main-Gebiet nicht leisten und verlassen die Zeitung." Bei der Geschäftsführung trifft der Streik laut "taz" auf Unverständnis.

+++ Die News Media in den USA würden "seit 2011" darin versagen, Donald Trump beizukommen, sagt Lawrence O’Donnell vom US-Fernsehsender MSNBC in einem mehr als 18-minütigen Beitrag in seiner Fernsehrubrik "The Last Word". Das Entscheidende in diesem Satz ist das Wörtchen "seit". Denn darin steckt, dass dieser Vorgang nicht abgeschlossen ist. 2011 behauptete Trump, er habe Leute in Hawaii, die "nicht glauben können, was sie gefunden" hätten: Sei Barack Obama womöglich kein US-amerikanischer Staatsbürger? Trump habe sich, so O’Donnells These, gewiss gewundert darüber, wie leicht er mit einer solchen Andeutung und Behauptung durchgekommen sei. "Er lernte schnell, wie schlecht die Fernsehnachrichten darin waren, in Echtzeit Fakten zu checken."

+++ Die Produzentenallianz klagt über eine schlechte Auftragslage nach Jahren des Fiktions-Booms. Die "SZ" (Abo) interviewt dazu den Chef der Allianz, Björn Böhning.

+++ Die ARD, die mit digitalen Formaten ein jüngeres Publikum erreichen wolle, spare deshalb vor allem "am Programm für Ältere", schreibt Christian Meier in der "Welt".

+++ 30 Jahre Videoverwertungsanstalt VIVA – darauf blicken in unterschiedlichen Aspekten dwdl.de, zeit.de, tagesspiegel.de und sueddeutsche.de (Abo) zurück.

Am Dienstag schreibt das Altpapier René Martens.

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