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Der Wandel in Ostdeutschland: Beispiel Görlitz Die "schönste Stadt Deutschlands"

02. Februar 2011, 11:51 Uhr

Zu DDR-Zeiten war Görlitz' großartige historische Bausubstanz dem Verfall preisgegeben. In den letzten 20 Jahren wurde die Stadt aufwändig saniert und gilt heute als städtebauliches Gesamtkunstwerk.

Wie es heute in Görlitz aussehen würde, wenn es die DDR noch gäbe, mag sich Peter Mitsching, Leiter der Denkmalschutzbehörde, gar nicht vorstellen. "Wir hatten Ende der Achtzigerjahre die ersten Flächenabrisse in der Altstadt. Und das wäre weitergegangen. Es gab bereits Listen von Häusern, die abgerissen werden sollten. Danach hätten wir 300 bis 400 Häuser auf einen Schlag verloren. Und damit wäre auch das Stadtbild unwiederbringlich zerstört gewesen."

Von Verheerungen verschont geblieben

Buchpräsentation "Das Wunder der Görlitzer Altstadtmillion"
Bildrechte: MDR/Viola Simank

Görlitz, die "Perle der Oberlausitz", war in seiner Geschichte von großen Verheerungen weitestgehend verschont geblieben. Allerdings wurde die Stadt, durch die die Neiße fließt, 1945 zweigeteilt. Der östliche, kleinere Teil fiel an Polen und heißt seither Zgorzelec. Vierzig Jahre nach Kriegsende war die Altstadt von Görlitz ein graues, verfallendes Areal, in dem kaum noch Leute lebten – 60 Prozent Leerstand "Ruinen schaffen ohne Waffen", dieser sarkastische Ausspruch der Bürgerbewegung galt auch für Görlitz.

Am historischen Baubestand war zu DDR-Zeiten zwar kaum etwas verändert worden, doch die Häuser verkamen in einem so bedrohlichen Ausmaß, dass die Abrissbrachen stetig wuchsen. Denn auch in Görlitz setzte die Wohnungsbaupolitik der SED auf Neubausiedlungen am Rand der Stadt. Für eine Sanierung des überkommenen historischen Stadtkerns gab es hingegen kaum Geld. Er war dem Verfall preisgegeben und sollte in nicht ferner Zeit einfach verschwinden.

Geldregen nach 1990

Das Ende der DDR ersparte Görlitz nicht nur den Abriss großer Teile der Altstadt, sondern es begann jetzt so etwas wie eine "zweite Gründerzeit". Die "Deutsche Stiftung Denkmalschutz" nebst anderen einflussreichen Gremien entdeckten die hindämmernde Schöne am äußersten Rand Ostdeutschlands und von da an ergoss sich ein wahrer Geldregen über die Stadt mit ihren 4.000 Baudenkmälern aus Romanik, Barock, Renaissance und Gründerzeit. Doch auch etliche Privatleute kamen aus den alten Bundesländern und staunten, dass es so etwas in Deutschland überhaupt noch gibt: eine trotz allen Verfalls intakte und überdies geradezu italienisch anmutende Stadt. Und die Immobilien kosteten fast nichts: 1990 konnte man ein spätgotisches Haus noch für ein paar Tausend Mark erwerben. Die denkmalgerechte Sanierung verschlang dann allerdings ein Vielfaches des Kaufpreises ...

"Alles musste saniert werden"

Geschätzte 360 Millionen Euro sind bislang für die Sanierung der Görlitzer Baudenkmäler ausgegeben worden, so viel wie in kaum einer anderen Stadt im Osten Deutschlands. "Im Prinzip musste alles saniert werden: das Straßenpflaster, die Gehsteige, Wasser- und Abwasserleitungen und die Gebäude komplett vom Keller bis zum Dachfirst", erinnert sich Denkmalschützer Mitsching. Doch die Mühen haben sich gelohnt: Görlitz gilt heute als ein städtebauliches Gesamtkunstwerk und vielen gar als die schönste Stadt Deutschlands.

Wenn man die Stadt 1989 gesehen hat und mit der heutigen vergleicht, da fällt es schwer zu glauben, dass es sich um ein und denselben Ort handelt.

Denkmalschützer Peter Mitsching

Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsschwund

Die Stadt ist herausgeputzt und strahlt wieder wie in der "guten alten Zeit". Doch Görlitz steht trotz allem vor gewaltigen Herausforderungen: Mit dem Ende der DDR war es auch um die hier ansässige Industrie geschehen: Von einst 17.500 betrieblichen Arbeitsplätzen blieben lediglich 2.300 übrig. Die Arbeitslosenquote liegt seither konstant bei rund 20 Prozent, Beschäftigungs- und Umschulungsmaßnahmen sowie Vorruhestandsregelungen hinzugerechnet, kommt man auf etwa 30 Prozent. Wegen mangelnder Perspektiven verließen seit Mitte der 1990er-Jahre vor allem gut ausgebildete und junge Görlitzer in Scharen ihre Heimatstadt. Hatte Görlitz 1989 noch 85.000 Einwohner, so sind es heute nicht einmal mehr 60.000. Für 2015 gehen seriöse Prognosen von einer Einwohnerzahl von nur noch 52.000 aus.

"Kostenloses Probewohnen" in der Altstadt

Die Menschen verlassen die Stadt, die Gebäude aber bleiben. 27 Prozent Leerstand verzeichnet Görlitz inklusive der Neubaugebiete. In der teuer sanierten Altstadt ist der Anteil noch bedeutend höher, weil die Mieten in den denkmalgerecht sanierten Wohnungen vergleichsweise hoch sind und besser verdienende Familien lieber in Eigenheimsiedlungen ziehen. Mit diesen Leerstandszahlen liegt Görlitz jedenfalls auf einem der vordersten Plätze der insgesamt von Bevölkerungsschwund geplagten ostdeutschen Kommunen. Die Stadt versucht verzweifelt, dieses Kardinalproblem mit Hilfe diverser Initiativen zu lösen. Eines der bekanntesten war das 2008 begründete Modell des "kostenlosen Probewohnens", das potenziellen Zuwanderern das Leben in der Görlitzer Altstadt schmackhaft machen sollte. Der Erfolg war überschaubar.

Rückansicht d. Poliklinik auf dem Konsulplatz in Görlitz
Bildrechte: Ratsarchiv Görlitz

Was soll aus Görlitz werden?

"Die Frage, was aus den Städten des vergangenen Industriezeitalters werden soll, stellt sich gerade hier, im tiefen Osten, mit dramatischer Schärfe", schrieb der Architekt und Publizist Wolfgang Kil 2002 im "Deutschen Architektenblatt". Und daran hat sich seither nichts geändert. Was soll mit einer Stadt passieren, der ihre Bewohner abhanden gekommen sind? Wer soll künftig für den Unterhalt der vielen leer stehenden Baudenkmäler aufkommen? Die Stadt wird damit überfordert sein, ebenso Privatleute und Stiftungen. "Sollte dieses Dilemma am Ende auf die 'Variante Disney' hinauslaufen – also die komplette Musealisierung der Altstadt einschließlich per Honorarvertrag (oder ABM) engagierter ‚Bewohner?", fragte Kil. Derzeit ein noch schwer vorstellbares Szenario. Doch schlüge "die Suche nach neuem Sinn" für die sich entleerende Stadt fehl", so Kil, "werden wir womöglich auch in unserer reichen Gesellschaft ähnliche Verfallsszenarien erleben, wie sie im Endstadium der DDR die Gemüter erregten".

Bekannte Filme, die in Görlitz gedreht wurden (Auswahl):

* Inglourious Basterds Studio Babelsberg für USA-Produktion 2008; Regie: Quentin Tarantino, mit Brad Pitt, Daniel Brühl, Til Schweiger. Christoph Waltz wurde für seine Rolle mit dem Oscar als bester Nebendarsteller geehrt.

* Der Vorleser Romanverfilmung nach Bernhard Schlink, Weinstein Company USA und Studio Babelsberg 2008, Regie: Stephen Daldry; mit Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross u.a.

* In 80 Tagen um die Welt Neuverfilmung des Romans "In 80 Tagen
um die Welt" von Jules Verne, Walten Media Hollywood/USA, 2003, Regie: Frank Coraci, mit Steve Coogan, Jackie Chan, Jim Broadbent, Robert Fyfe, Cecila de France, Arnold Schwarzenegger, Ewen Bremner u.a.

* Die Frau des Architekten Verfilmung des Romans "Die Architekten" von Stefan Heym; Neue Film Produktion (NFP) Berlin im Auftrag der ARD, 2002, Regie: Diethard Klante, mit Jeanette Hain, Robert Atzorn, Hans-Michael Rehberg, Matthias Matschke, Thomas Thieme, Ramona Kunze Libnow, Paul Peter u.a.

* Sachsens Glanz und Preußens Gloria Fernsehfilm in vier Teilen, Fernsehen der DDR 1983, Regie: Hans-Joachim Kasprzik, mit Rolf Hoppe, Arno Wyzniewski, Ezard Haussmann, Gunter Schoß, Irma Münch, Monika Woytowicz u.a.