Entführung aus Liebe Wie eine DDR-Flucht zum innerdeutschen Politikum wird

15. Februar 2022, 16:13 Uhr

Als sich am 30. August 1978 die polnische Tupolew 134 nach einer sechsstündiger Zwangspause von dem Weg des West-Berliner Flughafens Tempelhof nach Schönefeld aufmacht, ist eine einfache Liebesgeschichte zu einer handfesten politischen Krise geworden. Eine ostdeutsche Frau ist mit ihrem Kind in amerikanischem Polizeigewahrsam. Ein westdeutscher Mann ist im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Was ist passiert?

Es ist das Jahr 1977. Ingrid Ruske arbeitet in Berlin im Café Moskau. Wer hier einkehrt, den empfängt das gehobene Niveau sozialistischer Gastlichkeit. Daher kommen gerade westdeutsche Monteure dort hin. So auch Horst Fischer aus Hamburg. Er ist Bauleiter für ein Bauprojekt in Eberswalde. Hier soll das größte Fleischkombinat Europas entstehen. Seine Mitarbeiter fahren regelmäßig ins Café Moskau. Doch Fischer muss die Baustelle engmaschig betreuen und hat kaum Zeit. "Als dann der Druck aus der Baustelle raus war, bin ich auch mit hin und habe die Ingrid kennen gelernt", so Fischer.

Eine besondere Liebe auf Zeit

Doch Ingrid Ruske war am Anfang eisern. Mit Gästen etwas anzufangen, das war ein No Go. Doch "steter Tropfen höhlt den Stein", wie die Kellnerin aus Ostberlin später berichtet. Und so kamen sie sich näher. Doch die Liebesgeschichte zwischen Ruske und Fischer war von Anfang an zeitlich begrenzt. Als die Baustelle in Eberswalde fertig war, war auch Fischers Aufenthalt in Berlin beendet. Der nächste Stopp: Saudi-Arabien. Und Ingrid sollte mit.

Fischer, durch und durch Stratege, entwirft einen Fluchtplan. Ihm ist klar: Das geht nur mit gefälschten Papieren und nur über Polen, wo die Kontrollen weniger streng sind. Er besorgt alles. Doch in dem Moment, in dem er und Ruske im Zug nach Danzig sitzen, bricht sie die Flucht ab. Das Ganze ist ihr zu heiß. Monate später starten sie einen zweiten Versuch. Diesmal wollen sie getrennt nach Polen einreisen, sich in Danzig treffen und mit der Fähre nach Travemünde fahren. Doch der Plan soll vorher getestet werden. Denn Ruske hat ihre 12-jährige Tochter mit dabei und will das Risiko, erwischt zu werden, minimieren. Und so kommt Hans Detlef Alexander Tiede, ein alter Arbeitskollege von Ruske, mit ins Spiel. Er testet die Strecke alleine. Tiede macht das nicht uneigennützig. Er hat bereits sieben Ausreiseanträge gestellt. Er wollte raus aus der DDR. Egal um welchen Preis. Das ist seine Chance.

Letztes Lebenszeichen: "Ich fahre jetzt hier los!"

Am 26. August telefoniert Horst Fischer vom Bahnhof Zoo aus mit seiner Freundin Ingrid, die bereits in Danzig ist. Fischer ist sich sicher: Da kann nichts schief gehen. Er fährt Transit - was soll passieren? Er nimmt den Paris-Leningrad-Express Richtung Danzig. Doch dort kommt er nie an. Bereits in Frankfurt (Oder) endet seine Reise. "Die haben mich gezielt rausgefischt", so der Hamburger. "Den Pass hatte ich in der Unterhose und als es dann an die Leibesvisitation ging und der Pass raus fiel, da wusste ich: Jetzt isses aus."

In Danzig warteten Ingrid Ruske und ihr Helfer Tiede ganze vier Tage. Täglich gehen sie zum Bahnhof. Zum Hafen. Und wieder zurück. Doch als Horst Fischer nicht kommt, ist klar: Da ist was schief gegangen. Und so war es. Als Fischer nicht kommt, will Ingrid Ruske umgehend wieder zurück. Doch wie? Auf dem Flohmarkt in Danzig verkaufen sie ihre Sachen, bis das Geld für einen Rückflug nach Ostberlin reicht. Für Tochter Sabine kaufen sie eine Spielzeugpistole.

Geiselnahme mit Spielzeugpistole

Am 30. August steigen neben Ingrid Ruske, ihrer Tochter und Tiede noch 62 weitere Passagiere mit ins Flugzeug. Darunter 50 aus der DDR. Die ersten 45 Minuten des Fluges verlaufen normal und die Maschine begibt sich in Landeanflug. Doch das aufleuchtende Anschnallzeichen ist automatisch Signal für Hans Tiede, dass er handeln muss. Mit der Spielzeugpistole unter der Jacke geht er Richtung Cockpit und nimmt eine Stewardess als Geisel. Auf die Frage, was er wolle, brüllt er: "Ich will, dass Ihr in Tempelhof landet. Wenn ich Schönefeld sehe, schieße ich." Der Pilot geht runter.

Ich will, dass Ihr in Tempelhof landet. Wenn ich Schönefeld sehe, schieße ich.

Hans Tiede Entführer der LOT-Maschine

Auf dem Rollfeld angekommen, nimmt die amerikanische Armee den Hijacker in Gewahrsam. Und auch Ingrid Ruske und ihre Tochter. Noch während die Maschine auf dem Rollfeld steht, ergreifen sieben Passagiere die Gelegenheit zur Republikflucht und verlassen das Flugzeug. Die restlichen Passagiere, die später zurück in den Osten fliegen werden nach ihrer Rückkehr von der Stasi stundenlang verhört. Auch die Presse bekommt von der Entführung Wind und füllt die Zeitungsspalten. Die polnische Fluggesellschaft LOT wird im Volksmund schnell zu "Landet Ooch in Tempelhof".

Eine Woche nach der Entführung startet die Staatssicherheit die "Aktion Rückführung". Verwandte der im Westen gebliebenen Passagiere werden aufgeforderter, die Abtrünnigen zurück zu holen. Parallel dazu wird der Hamburger Horst Fischer im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen täglich mehrmals zum Verhör geholt. Er wird mit den gefälschten Stempeln konfrontiert, die er in seinen Absätzen versteckt hatte. Sie wollen wissen, woher die Stempel stammen, die gefälschten Papiere.

Die polnische Fluggesellschaft LOT wird im Volksmund schnell zu "Landet Ooch in Tempelhof".

Sabine Ruske und ihre Tochter sind parallel dazu in "Schutzhaft vor der Stasi" in einem amerikanischen Quartier untergebracht. Doch davon weiß Fischer nichts. Monatelang quält ihn die Ungewissheit. Bis er einen neuen Mithäftling bekommt, der ihm von der spektakulären Flugzeugentführung erzählte. Ab da ist Fischer alles klar.

Der Auftritt der Ex-Frau ändert alles

Während Ingrid und Tocher im amerikanischen Gewahrsam sind, muss Hans Tiede nach Moabit ins Gefängnis, wo er auf seine Anklage wartet. Die Beweise sind klar. Doch gegen Ruske liegt nichts vor: Sie hatte sich nicht an der Entführung aktiv beteiligt. Die Amerikaner hätten sie laufen lassen müssen.

Doch dann passiert etwas, was eine ganz neue Dynamik in die Sache bringt: Die Ex-Frau von Horst Fischer meldet sich und sagt, Ingrid Ruske hätte ihren Mann verraten und er müsse ihretwegen "drüben sitzen". Um das gerade zu rücken, schreibt Ruske die Geschichte der Entführung auf. Am 06. Dezember bekommt sie ihre Anklageschrift - die Amerikaner hatten ihre Geschichte als Geständnis verwendet.

Spektakuläre Gerichtsverhandlung nach amerikanischem Recht

Die Monate später folgende Verhandlung von Ruske und Tiede ist noch spektakulärer als die Entführung mit der Spielzeugpistole. Das amerikanische Casino in Tempelhof wird zu einem Gerichtssaal umgebaut, was 100.000 Mark kostet, bezahlt aus deutschen Geldern. Da die Verhandlung im US-Sektor stattfindet, gilt auch deren Recht. Es wird die erste und letzte amerikanische Verhandlung auf deutschem Boden sein.

Tiede und Ruske bekommen beide eigene Anwälte. Alle sind sich einig: Der Prozess wird eine Formsache und schnell gehen. Doch Irrtum. Der Anwalt Richard Shapiro erinnert sich: "Es sollte eine einfache Lösung geben, die so aussehen sollte: Die Beschuldigten werden verurteilt, gehen ins Gefängnis und die Alliierten können sagen: 'Wir haben gemacht, was die Welt von uns erwartet.'" Doch der Richter, Richard Stern, sieht das anders. Er will sich nicht politisch aufoktroyieren lassen, wie er entscheidet. Seine erste Handlung: Aus den Bewohnern Berlins sollte eine Jury erkoren werden. Am 14. Mai 1979 werden aus 500 Bewerbern per Los und Befragung zwölf Geschworene ausgesucht durch den Richter.

Jury entscheidet: Keine Entführung, kein Gefängnis

Als weiteren Schritt wertet der Richter das angebliche Geständnis als ungültig. Ingrid Ruske ist frei. Schwieriger wird es bei Tiede. Er hat die Schuld von Anfang an auf sich genommen. Doch die Jury entscheidet: Es gab keine Flugzeugentführung, keiner geht hinter Gitter. Doch Tiede hatte Geiseln genommen und dass, so befindet die Jury, dürfe nicht ungesühnt bleiben. Auf Geiselnahme steht drei bis zwölf Jahre Haft. Doch Richter Stern gibt neun Monate: Tiede hätte sich in Polen in einer Notsituation befunden.

Zwei Tage später beginnt auch der Prozess gegen Horst Fischer. Seine Anklage wird kurz vorher geändert: von Fluchthilfe zu Menschenhandel. Damit ist der Strafrahmen höher. Er bekommt die Höchststrafe und muss acht Jahre hinter Gitter. Im Oktober 1980 kauft die Bundesregierung Horst Fischer frei. Er hat 30 Kilo abgenommen und zwei Schlaganfälle erlitten.

Fünf Jahre nach der Freilassung heiraten Ruske und Fischer in Berlin. Sie sind bis heute ein Paar.  

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Porträt Mario Röllig 7 min
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