Interview "Moskau versucht, rote Linien zu verschieben"

15. Dezember 2017, 13:31 Uhr

Russland hat Dokumente der beiden selbsternannten ostukrainischen "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk per Dekret von Präsident Putin anerkannt. Dies wertet der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge als scharfe Provokation Richtung Ukraine. Und Jilge weist darauf hin, dass Putins Erlass nicht das "erste Spiel mit Dokumenten" in Konfliktregionen an der russischen Grenze ist.

Welches Signal sendet Wladimir Putin mit seinem Erlass?

Das ist eine hochsymbolische und politisch brisante Angelegenheit. Denn Putin hat hier einen Erlass zu hoheitlichen Angelegenheiten von Gebieten herausgegeben, die zur souveränen Ukraine gehören. Der Erlass über die Anerkennung von Dokumenten der nicht anerkannten "Volksrepubliken" "DNR" und "LNR" verstößt damit gegen das Minsker Abkommen, dessen Ziel ja die volle territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine ist. Das Vertrauen zwischen der Ukraine und Russland ist sowieso bereits zerstört und das minimale Vertrauen, das man benötigt, um die nächsten Schritte bei der Umsetzung des Abkommens anzugehen, wird damit nicht gefördert.

Haben die selbsternannten "Volksrepubliken" mit dem Dekret Putins nun offizielle Pässe?

Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker und Ukraine-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
Ukraine-Experte Wilfried Jilge. Bildrechte: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Bei dem Dekret handelt es sich um eine Anerkennung von Dokumenten, die persönliche Angaben oder die persönliche Identität betreffen. Pässe werden nicht explizit genannt, können aber offensichtlich auch gemeint sein. In jedem Fall geht es um Dokumente, die von der Ukraine nicht anerkannt werden. Ein Teil dessen, was in dem Erlass beschrieben ist, ist schon Praxis. Die internationalen Beobachter der OSZE haben in der Vergangenheit zum Beispiel gesehen, dass Autos aus den selbsternannten "Volksrepubliken" des Donbass mit Kennzeichen dieser "Republiken" fahren und damit auch über die russische Grenze gelassen wurden. Teilweise wird also formalisiert, was wahrscheinlich schon Praxis war.

Welches praktische Interesse könnte hinter diesem Schritt stehen?

Russland möchte zum Beispiel Arbeitsmigration aus diesen umstrittenen Gebieten attraktiv machen. Es ist an qualifizierten Kräften aus der Ukraine sehr interessiert. Wenn Menschen, die jetzt schon in Russland arbeiten, also auslaufende Dokumente haben, müssten sie die eigentlich rechtlich korrekt von den ukrainisch kontrollierten Behörden verlängern lassen. Wenn diese Leute das aber nicht wollen oder können, müssen sie nun also nicht mehr in die ukrainisch kontrollierten Gebiete fahren, sondern können in Russland Dokumente von den sogenannten "Volksrepubliken" verwenden. Dahinter steht natürlich auch immer der Gedanke, dass man die Köpfe und Herzen für die russische Sichtweise gewinnen will und zur weiteren Entfremdung der Menschen in diesen Gebieten von der Ukraine beiträgt.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat den Erlass als humanitären Akt verkauft. Wie schätzen Sie das ein?

Es geht hier sicher nicht nur um humanitäre Hilfe. Russland hat schon in der Vergangenheit Aktionen als humanitären Akt verkauft, die gegen geltendes Recht verstießen. Zum Beispiel die humanitären "Hilfskonvois". Sie gingen über die von der Ukraine nicht mehr kontrollierte russisch-ukrainische Grenze oder passierten sie, ohne dass man hier mit ukrainischen Behörden ausreichend zusammengearbeitet hätte. Ob die Konvois wirklich nur humanitäre Hilfe in die so genannten "Volksrepubliken" transportierten, konnte von der Ukraine gar nicht oder nur unzureichend geprüft werden. Die Konvois waren auch eine politische Demonstration Russlands, um der Ukraine zu zeigen: "In unserem Vorgarten haben wir notfalls das Sagen." Das ist die Botschaft.

Das heißt, der Erlass Putins ist eine reine Provokation?

Der "Ukas" von Putin wurde am Sonnabend, dem 18. Februar, herausgegeben. Genau zu dem Zeitpunkt, als sich anlässlich der Münchener Sicherkonferenz die Außenminister im Normandie-Format getroffen haben, einschließlich des russischen und ukrainischen Außenministers. Sie haben über die Umsetzung der Minsker Vereinbarung gesprochen. Das war also ein nicht sehr freundlicher Akt gegenüber dem Normandie-Format. Ein anderes Motiv könnte sein, dass man die amerikanische Administration unter Trump mal testet, wie sensibel sie sind in diesem Konflikt, wie die auf so etwas reagieren. Oder man versucht, rote Linien zu verschieben, um die eigene Position zu verbessern, solange die EU mit sich selbst beschäftigt ist und die USA ihre administrativen Posten für Osteuropa noch nicht besetzt haben.

Welche Folgen könnte die Anerkennung der Papiere haben?

Wir wissen nicht, was daraus jetzt genau folgt. Das ist ja ein eigenmächtiger Schritt einer Seite. In der Vergangenheit haben ähnliche Schritte aber dazu gedient, Konflikte weiter eskalieren zu lassen. Schauen wir uns die von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Süd-Ossetien an. Dort hat Russland dieses Spiel mit den Dokumenten ebenfalls betrieben, kurz darauf ist daraus ein bewaffneter Konflikt zwischen der russischen und georgischen Armee geworden. Deswegen muss man jetzt sehr aufpassen und genau hinschauen, was weiter in den ostukrainischen Gebieten passiert.

Zur Person Der Osteuropa-Historiker und Ukraine-Experte Wilfried Jilge ist Mitarbeiter im Programm Russland, Osteuropa und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).