Ein Mann in weißem Hemd mit Brille und schwarzen Haaren blickt in die Kamera.
Nach seinem Debütroman "Freudenberg" hat der Leipziger Autor Carl Christian Elze wieder Lyrik veröffentlicht. Bildrechte: Sascha Kokot

"panik/paradies" Leipziger Autor Carl-Christian Elze: einer der kühnsten Dichter der Gegenwart

29. Juni 2023, 14:34 Uhr

Ursprünglich schwebte dem Leipziger Autor Carl-Christian Elze eine Laufbahn als Arzt vor – doch das Medizinstudium entsprach nicht seinen Erwartungen. Deshalb wechselte er ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig, wo er diplomierte. Den Durchbruch erzielte er schließlich 2013 mit der Vers-Sammlung "ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist". Seither gehört er zu den Shootingstars der modernen deutschen Poesie. Nun ist ein neuer Lyrikband von ihm mit dem Titel "panik / paradies" erschienen.

Die Neuerscheinung trägt den Titel "panik/paradies". Darin überwiegen apokalyptische Stimmungen. Doch der Autor, der momentan als Stadtschreiber in Dresden amtiert, will kein Unheilsprophet sein. Vielmehr warnt er davor, die Resultate der Evolution leichtfertig zu verspielen.

Als Sohn eines Tierarztes, der sich leidenschaftlich für den Erhalt der Biosphäre auf unserem Planeten engagierte, rückt er vor allem die Gefährdungen des ökologischen Gleichgewichts durch die moderne Zivilisation in sein Blickfeld. Ähnlich wie seine bereits verstorbenen Kollegen Günter Kunert und Sarah Kirsch hadert er mit dem Fortschritt:

Auszug aus "panik/paradies" von Carl-Christian Elze nicht länger menschen –
der letzte mensch aufgelöst
jedes futter verweigernd
im letzten zoo dieser welt 
dehydriert und verhungert
verstaubt.

weckt ihn nie wieder auf
aus haarspitzen oder 
schuppen von haut 
brennt alle käfige ab
bevor nostalgie euch packt.

Gedichte über eine Jugend am Ende der DDR

Die Strophen Carl-Christian Elzes erschöpfen sich indes keineswegs in solchen metaphorischen Brandreden. In einem Zyklus von Gedichten erinnert sich der Künstler zurück an seine Jugend nach dem Zerfall der DDR. Bei manchen Schriftstellern seiner Generation wirken solche Reminiszenzen abgegriffen, aber Elze schafft es, eine authentische Stimmung heraufzubeschwören. Diese Glaubwürdigkeit resultiert daraus, dass er sich extrem in Details vertieft:

"in der großen hofpause drei haltestellen mit dem bus / zur pommesbude erste blüte des westens / zur dönerbude zweite blüte des westens / zur burgerbude dritte blüte des westens / für jahre abgetaucht im konsum / stereoanlagen klamotten die autos der eltern / jedes wochenende suchtrupps / im videopalast zehn filme auf einmal / komödien und action / der ausgeliehene videorecorder der feuer fängt / das erste konzert für 18 westmark / vorm stadion: tina turner und simple minds." 

Carl-Christian Elze 7 min
Bildrechte: Sascha Kokot
7 min

Der Leipziger Autor Carl-Christian Elze ist der neue Stadtschreiber von Dresden. Heute hält er die Antrittsvorlesung. Sein neuer Lyrikband "panik/paradies" ist gerade erschienen.

MDR KULTUR - Das Radio Do 29.06.2023 12:00Uhr 07:28 min

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Leipziger Autor in der Tradition von Rilke und Trakl

Freie Metren sind die erklärte Spezialität von Carl-Christian Elze, doch er greift gern auf klassische Formen zurück. Ungemein versiert bewegt er sich auf dem Gebiet des Sonetts, dessen Ursprünge im Italien des 13. Jahrhunderts wurzeln. Allerdings orientiert er sich dabei nicht an vergessenen Vertretern des Genres, sondern an dessen modernen Repräsentanten wie Georg Trakl oder Rainer Maria Rilke. Besonders sticht dabei die ausgefeilte Qualität seiner Melodik ins Auge.

Lyrik zwischen Dönerspießen und Dealerwiesen

Die genuine Poesie Carl-Christian Elzes zehrt von verstecktem Fingerzeigen und verborgenem Winken. Man entdeckt im Dickicht dieser Geheimnisse einen Kosmos, der einen unentwegt in andere Dimensionen katapultiert. Etwa dann, wenn der Verfasser auf höchst eigenwillige Art eines der grandiosesten Gedichte des Symbolisten Stefan George variiert, das mit der genialen Zeile "komm in den totgesagten park und schau" anhebt:

"komm in den angstverstopften kiez und schau: die längsten messer an den dönerspießen / die längsten waffen auf den dealerwiesen / super soaker floodinator, grünorange und blau. / dort nimm den fetten beat / im dunklen benz das goldene licht, / das aus den ketten hängt wegblitzt / aus dubais laden in die street / springt in die augenschächte und verschmiert."

Durch solch' drastische Formulierungen erdet Carl-Christian Elze seine Leser radikal. Zugleich zementiert er das Fundament für ein neues Periodensystem der Ästhetik. Frei von narzisstischen Ambitionen konstruiert er in seinen Texten ein Geflecht wild wogender Rhythmen, das bizarr und absolut verwegen anmutet. Zweifellos gehört er zu den kühnsten Vers-Schöpfern der Gegenwart. Mit seinen forschen Arbeiten trotzt er der These von einer dauerhaften Krise der Lyrik.

Buchcover: panik/paradies von Carl Christian Elze
Lyrik in der Krise? Carl-Christian Elze zeigt, warum sich Gedichte lesen lohnt. Bildrechte: Verlagshaus Berlin

Angaben zum Buch Carl-Christian Elze: "panik/paradies"
Verlagshaus Berlin
200 Seiten
22,90 Euro
ISBN: 978-3-910320-01-7

Redaktionelle Bearbeitung: Anneke Selle

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 29. Juni 2023 | 07:10 Uhr