Eine Frau schaut durch ein Busfenster
Nicht ideal: Wer in Belgrad auf den ÖPNV angewiesen ist, fährt meistens Bus. Bildrechte: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Darko Vojinovic

Serbien Belgrad: Tickets für "Geister-Metro"

04. Oktober 2023, 16:08 Uhr

Die serbische Hauptstadt Belgrad ist die größte europäische Stadt ohne ein Schnellbahnnetz. Ein aus China finanziertes Projekt soll Abhilfe schaffen, kommt aber nicht so recht voran und ist zudem hochumstritten. Kritiker behaupten: Die Stadt betreibe eine Verkehrspolitik für Investoren, aber nicht für ihre Bewohner.

Wenn Zoran Bukvić über seine Heimatstadt spricht, wird er wütend. Es geht um den Verkehr, überall ein hitziges Thema, aber bei ihm hat sich einiges aufgestaut. Seit mehr als 40 Jahren lebt er in Belgrad, er hat den Wandel und das Wachstum der Stadt persönlich miterlebt. Nur eines hat sich immer noch nicht geändert: Belgrad hat weder eine U-Bahn noch überhaupt ein nennenswertes Schnellbahnnetz – für eine Metropole, in deren Großraum rund 1,7 Millionen Menschen leben, wenig praktikabel.

Bis auf ein paar Züge pro Tag stehen die wenigen Bahnhöfe der Belgrader Zuggesellschaft verwaist da. Bleiben also nur noch Busse und ein paar Tramlinien. "Die sind aber andauernd überfüllt", sagt Bukvić, der im Vorort Borča lebt. Von hier sind es zehn Kilometer bis in die Altstadt Belgrads. Für eine Großstadt ist das keine außergewöhnlich große Distanz. Ohne Auto braucht man trotzdem gerne mal eine Stunde. "Es gibt ja nicht mal eine Direktverbindung", beklagt Bukvić, der inzwischen immer Fahrrad fährt, damit sei er in Belgrad noch "am mobilsten".

Verkehr auf einer Autobahn in Belgrad
Volle Straßen, volle Busse: Belgrad braucht dringend ein U-Bahnnetz. Bildrechte: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Darko Vojinovic

Seit 100 Jahren geplant und nie verwirklicht

Dass die Stadt dringend  leistungsstarke öffentliche Verkehrsmittel benötigt, ist Stadtplanern und Architekten schon sehr lange klar. Genau vor 100 Jahren wurde der erste Entwurf zu einem Metronetz vorgelegt. Getan hat sich, abgesehen von neun unterschiedlichen Studien und 30 verschiedenen Plänen für das Streckennetz, die jedes Mal aufs Neue verworfen oder angepasst wurden, nicht wirklich etwas. Als Grund wurden finanzielle Engpässe während der jugoslawischen Zeit oder nach den Kriegen in den 1990ern genannt. Die missliche Verkehrslage sei allerdings kein unglückliches Fremdverschulden, wie die Stadtverwaltung vermitteln will, sondern vor allem eigenes Versagen, meint Bukvić: "Alle, die sich mit Stadtinfrastruktur beschäftigen, müssen das, was hier passiert, für schwachsinnig halten."

Alle, die sich mit Stadtinfrastruktur beschäftigen, müssen das, was hier passiert, für schwachsinnig halten.

Zoran Bukvić, Aktivist für eine Verkehrswende

Mit dieser Meinung ist er nicht alleine. Die Zustände auf den Straßen der serbischen Hauptstadt, auf denen unzählige Staus und überfüllte Busse zum Alltag gehören, ist Gegenstand einer zynischen und teils resignierten Debatte geworden. Selbst Belgrads Bürgermeister Aleksandar Šapić sagt, dass "eine Zunahme des Verkehrs und der Zahl der Autos nicht zu verkraften ist". Dennoch: Wer vom miserablen ÖPNV frustriert sei und es sich leisten könne, fahre mit seinem privaten Auto, sagt Bukvić. "Viele erkennen nicht, dass besserer ÖPNV Teil der Lösung und nicht des Problems wäre".

Ein ambitioniertes Projekt

Ende des Jahres 2021 wähnten sich die zuständigen Kommunalpolitiker und allen voran der serbische Präsident Aleksandar Vučić schon in den Geschichtsbüchern der Stadt: Da hatte der Metrobau unter der Leitung der chinesischen Power Construction Corporation offiziell begonnen. Auch die Deutsche Bahn ist an dem Projekt beteiligt, bei dem die U-Bahn-Züge ohne Fahrer unterwegs sein sollen. Bis 2028 soll die erste Linie fertig sein, zwei Jahre später dann auch die zweite Linie. Angesichts der erwartbaren archäologischen Funde, die auch beim Metro-Bau in Thessaloniki oder Istanbul zu Verzögerungen geführt haben, ein sehr ambitionierter Zeitplan.

Tatsächlich lassen auch gut zwei Jahre nach Baubeginn echte Fortschritte auf sich warten. Der Vorsitzende des Belgrader Zug- und Metrounternehmens, Andreja Mladenović, gab bekannt, dass zahlreiche Verträge für den Bau noch nicht unterschrieben seien. Selbst Löcher für die Metrotunnel seien bisher noch nicht ausgehoben worden.

Menschen laufen am Ufer der Save am Waterfront.
Soll demnächst einen U-Bahn-Anschluss bekommen: das Investoren-Prestigprojekt "Belgrade Waterfront" (Belgrad am Wasser). Bildrechte: picture alliance/dpa | Silas Stein

Trotz alledem kamen Vučić und seine Fortschrittspartei bereits während des Wahlkampfs 2018 auf die Idee, schon mal Metrotickets in Umlauf zu bringen. Ob diese Exemplare aber jemals Gültigkeit besitzen werden, ist unklar. Wie das künftige Ticketsystem mit dem restlichen ÖPNV verknüpft werden soll, versetzt die Belgrader Behörden bisher nur in große Diskussionslaune.

Umstrittene Pläne

Auch die geplante Streckenführung ist in Belgrad hochumstritten. Umweltschützer und Aktivisten weisen immer wieder darauf hin, dass die aktuelle Streckenplanung zwar entlang der großen ausländischen Investitionsprojekte wie "Belgrad am Wasser" – einem geplanten Stadtviertel voller Luxuswohnungen und Shoppingmalls entlang der Save – verläuft, aber wichtige Orte des öffentlichen Lebens ausspart. "Der Hauptbahnhof ist nicht angebunden, das Klinikzentrum nicht, die Universität nicht und auch der Busbahnhof nicht", ärgert sich Bukvić.

Protest am 15. Februar 2017 in Belgrad gegen Bauprojekt Waterfront 1 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein weiterer Streitpunkt ist die Planung der einzelnen Stationen: So soll in der Belgrader Altstadt direkt unter dem traditionellen und beliebten Bajloni-Markt eine Metrostation gebaut werden. Es wurden bereits erste Befürchtungen laut, dass dem Markt ein ähnliches Schicksal blühe wie dem unweit entfernten "Palilula-Markt", der von einem klassischen Bauernmarkt in einen geschlossenen Glaskasten verwandelt wurde, der stark an eine Mall erinnert. Nun soll im Zuge des Metrobaus auch am Bajloni-Markt alles abgerissen und neu gebaut werden und der Markt selbst als eine Art Bazar über mehrere Stockwerke entstehen – inklusive einer neuen Tiefgarage mit 400 Plätzen. Von einer Verkehrswende ist hier nichts zu spüren. "Die Stadt traut sich nicht, in Konfrontation mit den Autofahrern zu gehen und Parkplätze auf Straßen der Innenstadt zu entfernen", schimpft Bukvić. Kritiker sagen, dass der Bau der Metro hier nur ein Vorwand sei, den Bajloni-Markt besser zu kommerzialisieren.

Wann es überhaupt zu solch tiefgreifenden Veränderungen und Modernisierungen im Belgrader Stadtbild kommen wird, lässt sich ohnehin nicht prognostizieren. Für den Bau der Station am Bajloni-Markt müsste der Markt selbst zwischenzeitlich verlegt werden. Entwarnung kommt vom Metro- und Zugrepräsentanten Mladenović. Der Markt werde "sicher nicht vor Ende nächsten Jahres" umziehen. Bis dahin bleibt in Belgrad alles beim Alten. Oder wie Bukvić sagt: "Die Stadt wird in Autos untergehen."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 07. Oktober 2023 | 07:17 Uhr

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