Protest Belarus
Kreativer Protest: Selbst Wäsche wird politisch. Bildrechte: Twitter

100 Tage Protest Belarus: Mit Unterhosen gegen Lukaschenko

23. November 2020, 13:05 Uhr

Seit Mitte August protestieren die Menschen in Belarus gegen Staatspräsident Lukaschenko. Sonntag für Sonntag gehen zehntausende Menschen in Minsk und anderen Städten auf die Straße. Doch auch unter der Woche lebt der Widerstand - und zeigt sich ausgesprochen kreativ, auf der Straße und bei Twitter. Der Tod eines Mannes erschüttert indes das Land.

Weiß-rot-weiß, die Farben des Protests, taucht an verschiedensten Orten in Minsk auf: Menschen streichen Bäume, Bänke, Treppen und sogar den Asphalt. Einwohner von Plattenbausiedlungen hängen weiß-rot-weiße Fahnen an Fenster, Balkone und zwischen Gebäude. Die Sicherheitskräfte reagieren streng: Für eine gemalte Flagge auf der Straße wurde eine Frau bereits zu zwei Monaten Haft verurteilt. Andere "Fahnenhänger" haben Geldstrafen von über 1.500 Euro bekommen.

Rot-Weiß bemalte Treppenstufen im Stadtpark
Treppenstufen in den Farben des Protests. Jeder Schritt ein Zeichen. Bildrechte: MDR/Reznikava

Unterhosen-Protest in Minsk

Doch die Minsker lassen sich davon nicht abhalten: Als die aktivsten und kreativsten "Fahnenaktivisten" gelten die Einwohner der Minsker Siedlung "Kaskad". Weil die Feuerwehr und Polizei wegen angeblicher "Brandschutzregelmissachtung" normale Fahnen abhingen, versuchten die Einwohner es auf andere Weise: Sie hingen drei Meter große Unterhosen zwischen zwei Hochhäusern auf. Lange war das Statement nicht zu bewundern. Sicherheitskräfte rissen die Unterhosen herunter und bei mindestens fünf Bewohnern gab es Hausdurchsuchungen.

Weiß-Rot-Weiße Unterhosen auf einer Lewine zwischen zwei Häusern
Protest in der Luft: riesige Unterhosen in den Protestfarben weiß-rot-weiß in der Minsker Siedlung "Kaskad". Bildrechte: MDR/Reznikava

Der Protest hat sich inzwischen fast komplett in die Plattenbaubezirke der belarusischen Hauptstadt verlagert. Die Belarusen veranstalten Konzerte in ihren Höfen, singen Lieder und organisieren gemeinsame Essen. Ab und zu hört man Sprechchöre wie "Es lebe Belarus" oder "Wir glauben, wir können, wir gewinnen". Die Regierung fühlt sich auch von von diesen Hofprotesten bedroht, weshalb Polizeikräfte omnipräsent sind. Es werden täglich Bewohner verhaftet, darunter auch Musiker. Vergangene Woche wurde die Rock-Band "Recha" eingesperrt und alle Mitglieder zu 15 Tagen Haft verurteilt. Die Band spielte ihre Songs in einem solcher Höfe.

Platz des Wandels: von Freude zur Trauer

Doch trotz der Repressalien seitens Lukaschenko, lassen sich die Minsker in ihrem Protest nicht unterkriegen und das verdeutlicht folgendes Beispiel: Es gibt einen Ort in Minsk, der wegen seiner Graffitis und seiner sturen Einheimischen bereits als Sehenswürdigkeit gilt. Der Ort ist als "Ploschcha Peremen", Platz des Wandels, bekannt. Hier wurden seit Beginn der Proteste im August regelmäßig Konzerte, Workshops und Theaterfeste veranstaltet.

Und genau dort, an einem Trafohäuschen neben einem Kinderspielplatz, wurde im August ein Graffiti gemalt. Es zeigte zwei berühmte DJs, die ihre Hände zu einem Victory-Zeichen und einer Faust hochhalten. Viele Male pro Woche kamen Mitarbeiter der Kommunalbehörde und entfernten das Bild. Am nächsten Tag aber war es jedes Mal wieder da. Die beiden DJs, die auf dem Graffiti zu sehen waren, legten im August das Lied "Peremen" ("Wandel") auf. Der Song war schon zu Perestrojka-Zeiten in der Sowjetunion Kult und inzwischen ist er in Belarus zur Hymne der Proteste geworden. Die DJs wurden in den Social Media als Stars gefeiert. Doch wegen ihres "Wandel"-Auftrittes wurden sie verhaftet, verbrachten 15 Tage in Haft und flohen dann nach Litauen.

Graffiti wird von Behörden abgewaschen

Der Anwohner Stiapan Latypau meldete sich in Videos auf Social Media zu "seinem" Viertel und dem berühmten Graffiti am Trafohäuschen zu Wort. "Jedes Mal, als ich die fröhlichen Gesichter sah oder unbekannte Touristen, die das Bild fotografierten, war ich so glücklich und war so stolz, dass ich einer von dieser unglaublicher Community hier bin." Doch sein öffentlicher Auftritt im Internet wird auch ihm zum Verhängnis. Er wird verhaftet und seine Wohnung durchsucht. Das Staatsfernsehen berichtet, Stiapan Latypau habe Polizisten vergiften wollen. Der Mann ist jetzt einer von 121 politischen Gefangenen und befindet sich seit zwei Monaten in Untersuchungshaft.

Anwohner stirbt: Mord durch Sicherheitsbehörden?

Doch es geht noch schlimmer. Bis Sonntag glich der "Platz des Wandels" einem Ort der Trauer: Hunderte Kerzen und tausende Blumen schmückten den Platz vor dem Trafohäuschen. Ein Zaun war mit roten und weißen Bändern behängt. Die Trauer galt dem einstigen Einwohner der Siedlung, Raman Bandarenka. Er hatte versucht, mit vermummten Sicherheitskräften zu sprechen, die nachts kamen, um den Platz zu räumen. Bandarenka wurde auf eine Polizeiwache und von dort ins Krankenhaus gebracht. Er starb am nächsten Tag.

Protest Belarus
Das Trafohäuschen glich bis zur Räumung am Sonntag einem Ort der Trauer. Bildrechte: MDR/Reznikava

Den Tod von Bandarenka betrauerten nicht nur die Einwohner des Viertels. Das ganze Land nahm Anteil. Drei Tage und Nächte wurde dort nicht wie früher gesungen und getanzt, sondern getrauert. "Ich wohne nicht hier, aber ich bleibe die ganze Nacht, das ist das Einzige, was ich machen kann", erzählte eine Frau mit verweinten Augen. Der Präsident Lukaschenko dagegen äußerte sich zynisch: "Der Mann war betrunken." Doch der medizinische Bericht beweist dies nicht, im Gegenteil: Laut Arztbericht hatte Bandarenka keinen Alkohol im Blut.

Platz des Wandels wurde geräumt

Am vergangenen Sonntag, dem Tag, an dem seit 15 Wochen protestiert wird - wurden alle, die die "Gedenkstätte" verteidigten, festgenommen. Die Bewohner von drei Plattenbauten, die um den Platz standen, versteckten die Menschen zwar in ihren Häusern, doch die Sicherheitskräfte gingen von Wohnung zur Wohnung und führten alle ab, die dort nicht gemeldet waren. Es gab über 1.000 Festnahmen an diesem Tag. Der Platz des Wandels wurde von der Polizei zerstört und danach "aufgeräumt".

Der Tod von Raman Bandarenka hat den Protest allerdings wieder angefacht. Das erste Mal seit einem Monat sind Belarusen außerhalb von Minsk auch wieder auf die Straßen gegangen. Viele Protestierende können nicht sagen, wie es weiter geht und ob sie glauben, dass Lukaschenko von sich aus zurücktritt. Aber sie haben die Hoffnung, dass sich die politische Elite spaltet. Der Druck der Zivilgesellschaft zumindest hält an.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 16. November 2020 | 00:30 Uhr

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