Eine Person hält eine Lupe über belarussische Rubelscheine.
Die Wirtschaft von Belarus befindet sich auf Talfart. Das Bruttoinlandsprodukt sank 2022 um 4,7 Prozent. Gleichzeitig stieg die Inflation – in Verbindung mit Lohnkürzüngen in einigen Staatsbetrieben macht das die Lage für die Bürger besonders schwierig. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Sanktions- und Kriegsfolgen Belarus: Bricht die Wirtschaft bald zusammen?

25. April 2023, 17:25 Uhr

Belarus erlebt gerade den schwersten wirtschaftlichen Einbruch seit der Gründung des Staates 1991. Es sind die Folgen des Ukraine-Krieges und der westlichen Sanktionen. Branchen wie die IT-Industrie sind wohl irreversibel geschädigt. Die IT-Spezialisten verlassen das Land in Scharen. Wer im Lande bleibt, muss mit der Inflation sowie sinkenden Einkommen klarkommen. Belarus' Wirtschaft siecht dahin.

Am nördlichen Rande von Minsk, dort wo mit der "Arena" der modernste Veranstaltungskomplex des Landes steht, schlägt auch das Herz des belarussischen Gebrauchtwagenhandels. Schlug, muss man mittlerweile fast sagen. Denn Autos, zumindest japanische und westliche Fabrikate, sind in den vergangenen Monaten Mangelware geworden. Am "Avtochaus Megapolis" standen bis zum Sommer 2022 gebrauchte Automobile in Kolonnen. Mittlerweile sind immer öfter größere Lücken zu sehen und auch die Preise haben sich sichtbar Richtung oben verändert.

Westwagen rar und unerschwinglich

Sergej Belanowitsch (Name von der Redaktion geändert) besitzt eine kleine Tourismusfirma und fährt auf seinem Arbeitsweg täglich am "Avtochaus Megapolis" vorbei. "Seit ein paar Monaten kaufen die Russen hier alles auf, was irgendwie aus Europa, den USA, Japan oder Südkorea kommt", sagt er. In der Folge bekämen Belarussen kaum noch einen preiswerten Volkswagen, Ford oder Kia.

In Russland selbst, so der 48-Jährige, hätten sich die Preise für diese Wagen, auch die gebrauchten, mittlerweile fast verdoppelt, nachdem westliche Hersteller sich aus dem Land zurückgezogen hatten. Deshalb sei mit etwas Verzögerung nun auch der Gebrauchtwagenmarkt in Belarus unter Druck geraten.

Weiße Geely Atlas-Wagen stehen in einer Reihe.
Autos aus einer chinesisch-belarussischen Joint-Venture-Fabrik – westliche Fabrikate sind inzwischen teuer und rar. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Der Automarkt ist einer der Wirtschaftsbereiche, die momentan am sichtbarsten von den Wirtschaftssanktionen der USA und der EU betroffen sind. Zwar werden in Belarus selbst keine West-Autos produziert, doch das Land wird indirekt beeinflusst, weil es eine Wirtschafts- und Zollunion mit Russland hat.

Schlimmste Wirtschaftskrise seit 1991

Allerdings wurden in den vergangenen zwei Jahren von der EU auch sechs Sanktionspakete nur für Belarus erlassen, die nun ihre Wirkung entfalten. Die Wirtschaftsleistung sank 2022 um 4,7 Prozent, auch weil der Außenhandel mit der EU um 75 Prozent zurückging, der mit der Ukraine schwer beschädigt wurde und der wichtigste Handelspartner Russland selbst unter den Sanktionen ächzt. Der Einbruch ist der schwerste seit der Gründung des Staates 1991.

Das Lebensniveau der Menschen in Belarus sinkt stetig, aber nur so langsam, dass es bislang keine nennenswerten Proteste zur Folge hat. In den Wochen unmittelbar nach Ausbruch des Ukraine-Krieges hatte der rasante Kursverfall des belarussischen Rubels die Preise, insbesondere die von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs, rasant in die Höhe schnellen lassen. Der belarussische Rubel legte dann rasch wieder zu, aber die Preise fielen nicht wirklich.

Inflation rauf, Löhne runter

Die hohe Inflation zwang die Regierung, die Preise zu regulieren. Das betraf vor allem sogenannte "Sozialwaren", wozu in erster Linie Lebensmittel gehören, die in Belarus in ausreichender Menge und hoher Qualität produziert werden. Alle anderen Waren, die importiert werden müssen, sind hingegen deutlich teurer geworden. Nicht selten haben sich die Preise verdoppelt.

Sergej Belanowitsch fasst die Situation gut zusammen, wenn er sagt: "Es gibt nur wenige Waren, auch westliche, die aus den Regalen verschwunden sind. Es ist eher so, dass manche Dinge unfassbar teuer geworden sind."

Ein Indiz dafür, dass die Menschen in Belarus immer schlechter über die Runden kommen, ist die Schwemme der Mikrokredite. In der hochfrequentierten Minsker Metro sieht man jetzt immer öfter Werbung für Sofortkredite bis 500 Euro, die unkompliziert vergeben werden, allerdings zu horrenden Zinsen. In Belarus sind vier Fünftel des Bankensektors nach wie vor in Staatsbesitz und auch ein Großteil dieser Kreditfirmen. Sie sind eine Art Ventil, das in der gegenwärtigen Situation für sozialen "Frieden" sorgt, von dem die politische Stabilität im Reich von Machthaber Lukaschenko stark abhängt.

Warum solche Kredite immer beliebter sind wird klar, wenn man die Entwicklung der Reallöhne betrachtet. Während die Inflation 20222 bei fast 13 Prozent lag, sind die Gehälter in einigen staatlichen Unternehmen seit Kriegsbeginn stark, teilweise sogar um bis zu ein Drittel zurückgegangen.

Mitarbeiter bei der Arbeit im belarussischen Hi-Tech Park-Büro.
IT-Fachleute, die bislang einen enormen Beitrag zum belarussischen Bruttoinlandsprodukt leisten, verlassen reihenweise das Land – im Bild der Hi-Tech-Park in Minsk. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

IT-Fachlute flüchten aus Belarus

In der Folge sinkt der Konsum. Da hilft es auch nicht, dass die Arbeitslosigkeit 2022 mit 4,5 Prozent niedrig blieb und wegen der Emigrationswelle nach Kriegsbeginn sogar zurückgeht. Diejenigen, die das Land verlassen, sind nämlich genau jene, die bis vor Kurzem die wirtschaftliche und gesellschaftliche Avantgarde darstellten: IT-Fachleute.

Die belarussische IT-Branche mit ihren zahllosen Start-Ups hatte Minsk zum sogenannten "Silicon Valley des Ostens" werden lassen. Firmen wie Wargaming ("World of Tanks") hatten Milliarden ins Land gespült und Tausende von hochbezahlten Arbeitsplätzen geschaffen. Viele IT-Lösungen und Apps, die mittlerweile von global Playern wie Facebook oder Pinterest aufgekauft wurden, stammen aus Minsk.

Der Exodus der IT-Worker ist schmerzhaft für die Wirtschaft. Sie galten als eine eigene, finanzstarke soziale Gruppe, wie die Journalistin Anna Wolynez in einer Analyse für dekoder.org schrieb: "Reiche, schicke, moderne junge Leute. Man ging davon aus, dass sie ihr Geld im Inland ausgeben und dadurch die Unterhaltungs- und Freizeitbranche, den Bau neuer Wohnungen und das Gesundheitssystem finanzieren würden."

Auch aufgrund der vom Regime bereitgestellten Ressourcen und Steuervergünstigungen im "High-Tech-Park" wuchs die Branche rasant. 2019 lag ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt bei 6,5 Prozent, Prognosen des Wirtschaftsministeriums sahen ihn für das Jahr 2023 schon bei 10 Prozent, Tendenz weiter steigend.

Besucher auf einer Computerspielemesse.
Das Computerspiel "World of Tanks" ist das Vorzeigeprodukt der belarussischen IT-Branche – hier der Auftritt auf einer Messe in Köln 2019. Bildrechte: IMAGO / Manngold

Doch die Massenproteste in Belarus und die nachfolgenden Repressionen gegen fast alle fortschrittlichen Kräfte des Landes versetzten der Branche einen ersten schweren Schlag. Zwischen Februar 2021 und Februar 2022 hatten bereits rund 40 Prozent der IT-Firmen und deren Mitarbeiter Belarus Richtung Polen, Litauen und Ukraine verlassen. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges setzte sich der Exodus fort. Bei einer Umfrage des Fachportals dev.by im Sommer 2022 gaben weitere 25 Prozent an, eine Emigration zu planen. Wie Anna Wolynez feststellt, sähen viele heimische IT-Spezialisten die Zukunft der belarussischen IT-Wirtschaft als zerstört an, und zwar unwiederbringlich.

Schulterschluss mit Russland

Für Machthaber Lukaschenko ist es allerdings längst wichtiger, die Auswirkungen der Sanktionen auf die heimische Wirtschaft mit russischer Unterstützung abzumildern, als sich über Zukunftsperspektiven einer störrischen "Creative Class" den Kopf zu zerbrechen.

In den staatlichen Medien prahlt man mit einem historischen Handelsüberschuss von fast fünf Milliarden Euro für das abgelaufene Jahr. Ohne die üblichen Preiskämpfe erhält Belarus bis 2025 günstiges russisches Gas für 128,52 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter. Dafür liefert das Land jetzt zum Beispiel Mikrochips nach Russland und erklärte sich sogar bereit, Teile der militärischen Flugzeugproduktion zu übernehmen.

Belarus Präsident Alexander Lukaschenko
Präsident Alexander Lukaschenko versucht, die Wirtschaft von Belarus mit russischer Hilfe zu stabilisieren – hier bei seiner jährlichen Ansprache an die Nation Ende März 2023 zu sehen. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Belarus' Wirtschaft siecht dahin

Einen wirtschaftlichen Kollaps muss Alexander Lukaschenko momentan nicht befürchten. Zutreffender lässt sich die Lage, darin ist sich ein Großteil der Politanalysten einig, als langsames Dahinsiechen beschreiben. Es fehlen Wachstumstreiber und die sich abzeichnenden Probleme durch die im Vorjahr von den USA und der EU eingeführten Ölsanktionen werden sich indirekt auch auf die Ökonomie in Belarus auswirken.

Für Sergej Belanowitsch sind das allerdings wie für viele andere seiner Landsleute die Probleme von morgen. "Es ist zwar offensichtlich immer weniger Geld da, aber die Bars, Cafés und Restaurants in Minsk sind momentan voll." Offenbar, so der Tourismusexperte, versuche man die aus der Ukraine herüberwehende Düsternis mit Lebensfreude zu verdrängen. Und noch einen positiven Effekt haben die Sanktionen für ihn persönlich: "Seit es immer schwieriger wird ein Schengen-Visum zu bekommen, entdecken die Belarussen wieder das eigene Land für den Tourismus – und damit auch mich und meine Firma."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Osteuropa-Podcast | 22. April 2023 | 07:17 Uhr

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