Serbien Serbien: Drahtseilakt vor den Wahlen

02. April 2022, 05:00 Uhr

In Serbien ist am Sonntag Superwahltag. Die Serbische Fortschrittspartei mit Präsident Aleksandar Vučić erwartet ihre Bestätigung auf ganzer Linie. Doch nicht überall ist der Präsidentenpartei der Sieg sicher.

Kaum waren in Serbien vorgezogene Parlaments-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen für den 3. April ausgeschrieben, da begann Russland am 24. Februar die Offensive gegen die Ukraine. Ein neuer Krieg in Europa stellte plötzlich den Wahlkampf in Serbien auf den Kopf. Die üblichen Wahlthemen erschienen auf einmal beinahe belanglos. Zumal im Zentrum der weltpolitischen Ereignisse der von vielen in Serbien bewunderte Wladimir Putin und die slawisch-orthodoxe Schutzmacht Russland standen. Die Wähler schauten nicht mehr auf die Wahlplakate, sondern auf die Kriegsschauplätze.

Serbiens Drahtseilakt

Angesichts des Krieges schloss sich der Westen gegen Russland zusammen und Serbiens allesbestimmender Staatspräsident Aleksandar Vučić (Serbische Fortschrittspartei – SNS) geriet nur einen Monat vor dem Wahltermin in einen Zwiespalt. Schon seit Jahrzehnten übte sich Serbien, das sich zwar als neutral ansieht, EU-Beitrittskandidat, aber eben auch ein Land der Putin-Versteher ist, im Drahtseilakt zwischen Ost und West. Mit dem Herzen war man in Moskau, doch das Geld kam aus Brüssel. Der Westen tolerierte das lange zähneknirschend, doch nun bekam Belgrad den Druck aus Washington und Brüssel zu spüren: man solle angesichts des Kriegs Partei ergreifen.

Obwohl das nicht recht geschah, gaben sich die EU und die USA zunächst trotzdem zufrieden: Serbien schloss sich zwar der Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine in der UN-Generalversammlung an, weigerte sich jedoch, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Serbien begründete das mit der Tatsache, dass es völlig abhängig von russischem Öl und Gas sei.

Zugleich blickte man entschuldigend nach Moskau. Auch Putin gab sich zufrieden und Vučić entkam der Falle: Serbien landete nicht auf der russischen Liste feindlicher Staaten und so konnte der Wahlkampf endlich richtig beginnen.

Hybride Demokratie

Seit einem Jahrzehnt steht Vučić an der Spitze Serbiens. Die amerikanische NGO Freedom House stufte das Land schon vor längerer Zeit als "hybride Demokratie" ein. Die NGO Reporter ohne Grenzen warnte wiederholt, dass in Serbien zusehends die Medienfreiheit abgebaut werde. Das hiesige politische Machtsystem verglich man vielerorts mit Putins Russland, Erdoğans Türkei oder Orbáns Ungarn.

Wahlen in Serbien
Staatstreue Tabloide in Serbien feierten Wladimir Putin als "Garant für den Frieden in Serbien" (Archivbild). Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Seit Vučić regiert, wurden die Medien systematisch auf Linie gebracht und staatliche Institutionen in Exekutivausschüsse seiner Serbischen Fortschrittspartei verwandelt. Die Partei führt er mit eiserner Hand, staatliche Ressourcen werden zu Parteizwecken missbraucht. Und das nicht nur im finanziellen Sinne, sondern es wurden auch Geheimdienste, die Polizei und große Teile des Justizsystems dem Staatspräsidenten direkt untergeordnet.

Deshalb boykottiere ein Großteil der Opposition die Parlamentswahlen im Juni 2020. Vučić und seine SNS gewannen mit einer Dreiviertelmehrheit. Obwohl die Fünf-Prozent-Hürde auf drei Prozent abgesenkt wurde, schaffte es keine einzige Oppositionspartei ins Parlament. Beobachter werteten die Ausschreibung der auf den 3. April vorgezogenen Parlamentswahlen als ein Eingeständnis Vučićs, dass die parlamentarischen Verhältnisse in Serbien einer Demokratie unwürdig seien.

serbisches Parlament
Im serbischen Parlament waren seit Juni 2020 keine Oppositionsparteien vertreten. Bildrechte: IMAGO/PantherMedia / Vladimir Slavkovic

Angst vor Wahlfälschung

Diese "undemokratischen Zustände" will die Opposition nun ändern. Sie tritt in drei Bündnissen an: Im politischen Spektrum rechts befindet sich der "Patriotische Block", in der Mitte die Koalition "Gemeinsam für den Sieg Serbiens" und links die grüne Koalition "Wir müssen". Neben ihren ideologischen Unterschieden, verbindet alle diese Parteien jedoch eines: Sie werfen dem "autokratischen Regime Vučić" zügellose, systematische Korruption und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vor.

Vučić ist dennoch haushoher Favorit bei den Präsidentschaftswahlen, ebenso wie seine SNS bei den Parlamentswahlen. Eine reale Chance zum Wahlsieg hat die Opposition allerdings bei den Kommunalwahlen in der Haupstadt Belgrad. Allerdings warnt sie bei diesem Urnengang vor Wahlfälschung.

"Die SNS ist dermaßen in Korruption versunken, sie hat so viel zu verlieren und die Angst vor Konsequenzen ist bei ihr so tief vergewurzelt, dass, ehrlich gesagt, das Zugeständnis einer eventuellen Wahlniederlage kaum vorstellbar ist", sagt Vladeta Janković (82), Bürgermeisterkandidat der Koalition "Gemeinsam für Serbien" in Belgrad. Der angesehene Philologieprofessor im Ruhestand sah es trotz seines hohen Alters als seine Pflicht, sich gegen "dieses katastrophale Regime" zu stemmen.

EU-Mitgliedschaft ist kein Thema

Abgesehen vom rechten Block vermeidet es die prowestliche Opposition, sich zum Ukraine-Krieg zu positionieren, um ihre Russland-begeisterten Wähler nicht zu brüskieren: Denn laut dem Meinungsforschungsinstitut Demostat würden rund 50 Prozent der Serben lieber Sanktionen des Westens in Kauf nehmen als sich gegen Russland aufzulehnen. Eine EU-Mitgliedschaft scheint in Serbien niemanden zu interessieren – sie ist überhaupt kein Thema im Wahlkampf.

"Frieden. Stabilität. Vučić."

Auf der anderen Seite des Wahlspektrums steht gefühlt nur ein einziger Mann – Aleksandar Vučić. Seine Wahltaktik ist einfach: Der Populist, der in den Medien omnipräsent ist, schürt bei der Bevölkerung zusätzliche Angst vor den Folgen des Krieges in der Ukraine, um sich selbst als den einzigen Retter anbieten zu können. Seinen Wahlslogan "Gemeinsam schaffen wir alles" vom Beginn der Wahlkampagne änderte er in "Frieden. Stabilität. Vučić."

Obwohl ihn Meinungsumfragen optimistisch stimmen könnten, kann sich der Staatspräsident offenbar nicht wirklich entspannen. In einem geschlossenen Machtsystem, das auf dem Personenkult um den "serbischen Erlöser Vučić" beruht, würde alles andere als sein überwältigender Sieg und ein auf allen staatlichen Ebenen errungener Erfolg seiner Partei das System erschüttern. Deshalb sind für Vučić alle Wahlen "Schicksalswahlen". Eine eventuelle Stichwahl um die Präsidentschaft gegen Ex-General Zdravko Ponoš von der Koalition "Gemeinsam für den Sieg Serbiens" gliche für Vučić einer Katastrophe. Dass er bei den Lokalwahlen in Belgrad eine solche Katastrophe erleben könnte, ist aktuellen Wahlprognosen zufolge nicht ausgeschlossen.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. März 2022 | 07:18 Uhr

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