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MDR INVESTIGATIV - HINTER DER RECHERCHE (FOLGE 80)Linksextremismus: Lina E. - ein Urteil mit FolgenAudiotranskription

16. Juni 2023, 10:45 Uhr

Moderation:

"Free Lina", so hörte man es in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder bei Solidaritätskundgebungen für die Leipziger Studentin Lina E. Am 31. Mai wurden sie und drei weitere Angeklagte wegen tätlicher Übergriffe und Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung vom Oberlandesgericht Dresden schuldig gesprochen und mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Mittlerweile haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung von Lina E. Revision eingelegt. Für den Fall einer Verurteilung hatte die linksradikale Szene schon längst zu einem sogenannten Tag X aufgerufen. Für jedes Jahr Haft wolle man 1 Million Sachschaden anrichten, so die Drohung. Die Stadt Leipzig verbot für das auf das Urteil folgende Wochenende alle Demonstrationen zum Thema - aus Sorge vor Ausschreitungen. Doch es gelang Extremisten, eine legale Demonstration zu unterwandern. Am Ende flogen Steine, Böller und brannten Barrikaden. Und die Polizei kesselte rund 1000 Personen, darunter auch Unbeteiligte und Minderjährige, für bis zu elf Stunden ein.

 

Was bedeutet das Urteil gegen Lina E.? Wieso wurde sie zur Ikone in der linken Szene? Und warum gibt es so viele Diskussionen um das Gerichtsurteil? Darum soll es in dieser Folge von MDR Investigativ - Hinter der Recherche gehen. Ich bin Secilia Kloppmann und arbeite für die Politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks.

 

In diesem Podcast erzählen Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion von ihren Recherchen und persönlichen Eindrücken während der Arbeit am Thema. Bei mir sind diesmal Nina Böckmann und Thomas Datt zu Gast. Thomas hat, unterstützt von Nina, einen Film zum Fall Lina E. und den Ereignissen in Leipzig gemacht.

 Moderation Secilia Kloppmann (SK)

Das Urteil gegen Lina E plus die drei Mitstreiter, das ist am 31. Mai gefallen. Ursprünglich sollte das viel früher fallen. Dann sind noch mal Prozesstage angesetzt worden, sogar bis Ende Juni. Warum eigentlich dieses Hin und Her?

 

Thomas Datt (TD)

Die Linksextremistin Lina E. ist in Dresden zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Bildrechte: MDR/Uwe Nitschke

Ursprünglich war der Prozess für ein halbes Jahr ausgelegt und hat dann über anderthalb Jahre gedauert. Was vor allem damit zusammenhängt, dass es ein Prozess war, in dem um viele kleinteilige, teilweise auch minimale Indizien gerungen wurde. Die Verteidigung hat viele Anträge gestellt, Gutachten, zusätzliche Zeugen wurden benannt. Das Gericht ist dem in vielen Fällen nachgekommen, hatte selber ein extrem detailliertes Interesse jeder noch so kleinen Spur, die um die Beweismittel Konvolut der Anklage enthalten war, nachzugehen. Das war eigentliche, der wesentliche Grund. Und dann - das darf man natürlich nicht unterschätzen - kam noch ein sogenannter Kronzeuge ins Spiel, der an insgesamt zwölf Verhandlungstagen ausgesagt hat. Das kam auch alles nochmal dazu. Dann darf man auch nicht vergessen, dass es doch hin und wieder bei so einem langen Verfahren mit vielen Beteiligten auch Ausfälle, Verschiebungen gibt, wegen Krankheiten - so hat sich das dann über die Zeit gezogen.

 

SK

Kronzeuge - interessantes Stichwort - kommen wir später noch mal drauf. Vielleicht erst noch einmal zu Beginn, Nina, kannst du für uns nochmal zusammenfassen, wofür die vier Leute, also Lina E plus die drei Mitangeklagten, verurteilt worden sind und in welcher Höhe?

 

Nina Böckmann (NB)

Die Verurteilung gegen die vier Angeklagten in diesem Prozess sah folgendermaßen aus, dass Lina E. und der Mitangeklagte Lennard A. beide wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurden. Lina E. zu fünf Jahren und drei Monaten und Lennard A. auch um die drei Jahre. Die beiden anderen Mitangeklagten wurden dann auch wegen der Unterstützung dieser kriminellen Vereinigung verurteilt. Da auch zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren. Man muss sagen, dass die Verurteilung von Lena E schon deutlich abweicht von dem, was die Bundesanwaltschaft gefordert hat, nämlich acht Jahre Haft.

 

SK

Thomas, warum ist es am Ende geringer geworden als diese geforderten acht Jahre?

 

TD

Die Bundesanwaltschaft bei ja der Meinung, dass Lina E. Bei mehr Taten beteiligt war. Das sah das Gericht anders. Es sah sie ja nur bei vier von sechs Taten als schuldig an. Hinzu kommen dann andere Sachen. Sie war ja doch einem sehr massiven Medieninteresse ausgesetzt, was sich auch sehr darauf kaprizierte - zumindest was rechtsextreme und Boulevardmedien anging – dass sie eine junge, attraktive Frau ist, die dort mit einem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen wurde und in einem Minirock dort von vermummten schwer bewaffneten Polizisten zum Ermittlungsrichter geführt wurde. Und das ist ja sehr stark reproduziert wurden. Diese Vorverurteilung durch bestimmte Teile der Medien wurde als strafmildernd ausgelegt, und man darf nicht vergessen sie ist an Rheuma erkrankt, und das ist im Gefängnis zu spät erkannt worden. Beziehungsweise sie ist zu spät behandelt worden, sodass sie doch nochmal ein gewisser Strafmilderungsgrund war. Und man darf nicht vergessen, es gibt doch relativ strenge Regeln, wann Leute in Untersuchungshaft bleiben müssen und wann nicht, beziehungsweise wie ihre Strafe ausfällt. Sie ist nicht vorbestraft.

 

SK

Sie war die einzige von den insgesamt vier Angeklagten, die in Untersuchungshaft gesessen hat. Richtig?

 

TD

Genau. Sie war die einzige. Sie wird nicht als Kopf der Gruppe gesehen. Sie wurde ja auch nicht wegen Rädelsführerschaft verurteilt. Das hätte die Bundesanwaltschaft gern gehabt... Die Begründung des Gerichtes ist, dass sie diese Gruppe nicht als hierarchisch betrachten, sondern eher als arbeitsteilig agierend. Aber sie hatte da eine herausgehobene Funktion. Das sagt das Gericht. Sie hat ja bei Überfällen, bei denen sie dabei gewesen sein soll, oft die Rolle in der sogenannten Übersicht Personen gehabt, die kontrollierte, läuft der Angriff nach Plan? Oder müssen wir abbrechen? Und hatte zur Abwehr beziehungsweise zum Angriff auch Pfefferspray dabei.

 

SK

Obwohl das Urteil ja jetzt geringer ausgefallen ist, mit diesen fünf Jahren und drei Monaten, als die geforderten acht Jahre, hat die Verteidigung gerade aktuell Revision eingelegt. Könnt Ihr uns sagen, mit welcher Begründung?

 

NB

Das wissen wir noch nicht. Die Begründung liegt uns auf jeden Fall noch nicht vor. Das ist, glaube ich, erst mal ein formaler Akt, dass man Revision einlegt. Da war zumindest gestern die Informationen aus dem Gericht, das auch die schriftliche Begründung noch nicht vorliegt. Aber was trotzdem zu diesem Punkt noch ergänzen könnte ist, dass sich die Verteidigung zuletzt auch die Verteidigung von Lina E. auch nach dem Verfahrensende noch einmal geäußert hat und eben stark gemacht hat, dass sie dieses Verfahren und dieses Urteil für politisch halten und auch das Vorgehen der Bundesanwaltschaft an der Stelle für politisch halten. Da ist natürlich vorstellbar, dass die Revision dann auch vielleicht Teile dieser Vermutung aufgreifen wird. Aber das wissen wir noch nicht.

 

SK

Im Film sieht man dich, Thomas, das ist, glaube ich, noch an dem Tag der Urteilsverkündung. Da sprichst du davon, dass eine überraschende Nachricht gekommen ist, nämlich das, Lina E. auf freiem Fuß ist. Ich habe dann so gedacht, naja, das Urteil ist gefallen, die Untersuchungshaft kann ja jetzt nicht mehr stattfinden. Was war da jetzt so überraschend?

 

TD

Es war schon überraschend. Die Ermittler und die Bundesanwaltschaft sahen und sehen bei Lina E. bis heute Fluchtgefahr. Das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass ihr Verlobter, ihr Partner, seit 2020 untergetaucht ist und zuletzt bei einem Angriff auf Neonazis in Budapest identifiziert wurde, also offenbar weitermacht, mit anderen oder zum Teil auch neu rekrutierten Personen, die die Gruppe versuchen, fortzusetzen. Das Gericht sieht das anders...

 

SK

Und weiß man denn, wo sich Lina E. im Moment aufhält?

 

TD

Das Gericht hat Auflagen erteilt. Sie muss an der Adresse wohnen, an der sie gemeldet ist. Also in Leipzig. Sie muss ich zweimal die Woche bei der Polizei melden. Das ist natürlich alles nur vorläufig. Sobald das Urteil rechtskräftig werden sollte, muss sie ihre Reststrafe antreten. Sie ist nicht vorbestraft. Sie ist in der Untersuchungshaft nicht negativ in Erscheinung getreten, sodass sie also gute Chancen hätte, vorausgesetzt, das Urteil wird rechtskräftig und bleibt in der Höhe, dass sie nach zwei Dritteln ihrer Strafe entlassen wird. Und wenn ich es so richtig überschlagen habe, würde das bedeuten, dass sie in dem Fall noch etwa zehn Monate von ihrer Strafe im Gefängnis absitzen müsste.

 

SK

Thomas, Du hast es vorhin schon mal kurz angesprochen, dass es da einen Kronzeugen gab in dem Prozess .. Wer ist das? Wo kommt der her? Warum hat der jetzt ausgesagt gegen die Angeklagten?

 

TD

Es ist ein Mann, der ist jetzt 30, ein ziemlicher Hühne. Erzieher, hat zuletzt in einem deutschsprachigen Kindergarten in Warschau gearbeitet und hat sich entschlossen, mit den Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, nachdem er von der, sagen wir mal linksradikalen Szene auf entsprechenden Portalen geoutet wurde, als angeblicher Vergewaltiger. Das hatte zur Folge, dass er von Deutschland nach Polen umgezogen ist, diesen genannten Job im Kindergarten angenommen hat und dann in Kontakt kam, mit Leute von den Sicherheitsbehörden. Und sich dann nach einigen Tagen Überlegung entschlossen hat, mit ihnen zusammen zuarbeiten. Warum er das gemacht hat, ist natürlich eine bis heute nicht ganz geklärte Frage. Es gibt natürlich Vermutungen, dass das Rache an seinen ehemaligen GenossInnen war, die ihn öffentlich ausgeschlossen haben aus ihren Kreisen. Es kann natürlich auch einfacher sein, dass er einfach alle Brücken hinter sich abbrechen wollte, nachdem er aus diesem Kreis, der persönlich und privat sehr wichtig war, ausgeschlossen wurde und er neu und unbelastet in seinen neuen Lebensabschnitt starten wollte. Er hat für dieses Verfahren insofern eine Rolle gespielt. Er selber war ja - was anderes kann man nicht beweisen - als Scout, als Späher an einem Überfall der Gruppe in Eisenach beteiligt. Dafür ist er verurteilt worden in einem separaten Verfahren. Da wurde ihm seine Informantentätigkeit im Nachhinein zugunsten ausgelegt, dass er bisher dort auch mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Und er hat dort auch ausführlich ausgesagt über seine Tatbeteiligung. Er hat also über die Sachen, die er zu dieser Tat wusste, gesprochen. Zu den anderen Taten konnte er wenig Detailliertes liefern, weil er da nicht dabei war. Zumindest weiß man nichts anderes, und dieser Kronzeuge ..  es war jetzt nicht so, dass er vor Gericht … er hat, wie gesagt, zwölfmal ausgesagt am Oberlandesgericht als Zeuge ..., dass er jetzt einen riesigen Belastungseifer erkennen ließ. Er hat oft gesagt, wenn er Sachen nicht weiß. Es zog sich sehr in die Länge. Er ist jemand, der sich sehr gern reden hört und Sachen, die man vielleicht schon in einem Satz sagen könnte, in langen Girlanden von mehreren Sätzen bindet. Das war auch ein bisschen anstrengend, wenn man bei seinen Auftritten dabei war. Er wurde ja schwer bewacht, hatte  mindestens acht vermummte LKA-Beamte dabei, die ihn beschützt haben. Wir konnten ihn nie im Oberlandesgericht filmen. Weil der wurde ins Auto was vor der Tür stand, gebracht und auch immer erst spät in den Verhandlungssaal gebracht. Es hätte nie eine Chance gegeben, den zu filmen. Vielleicht noch mal zu dem, was er für dieses Verfahren belastend beigetragen hat für die Angeklagten: Er hat sehr ausführliche und detaillierte Angaben über das Innenleben der Gruppe gemacht. Das es eine kleine Kerngruppe gab, in der Lina E. und ihr Verlobter, Johann G. eine Rolle gespielt haben. Johann G. als der, der immer Action, neue Ziele hatte und mit vielen Leuten vernetzt war und motivieren konnte. So wurde er von einem Kronzeugen beschrieben. Und Lina E. als die, die mitgeplant hat. Und er hat über Trainings berichtet. Er war der erste, der überhaupt darüber berichtet hat, wie unser Kollege Edgar Lopez, der für den MDR bis auf einen alle Prozesstage beobachtet hat, von den 98. Es ging an mehreren Tagen um diese sogenannten Szenario-Trainings, die an verschiedenen Orten in Leipzig stattgefunden haben, wo Leute trainiert haben, wie man Neonazis überfällt und was man je nachdem wie die Geschichten ausgeht, ob jemand ein Messer dabei hat, wie man damit umgeht und so weiter. Und es ging auch darum diese blitzschnellen Überfälle zu trainieren. Das Muster dieser Angriffe war ja 30 Sekunden sollten diese Angriffe dauern. Es gab immer eine Person, die darauf geachtet hat, dass dort niemand dazwischen kommt. Und dann wurde der Angriff entweder abgebrochen oder beendet, und man verschwand wieder.

 

SK

Nina, weißt du, wie diese Aussagen des sogenannten Kronzeugen in dem Prozess gegen Lina E. in der Szene in Leipzig wahrgenommen worden sind?

 

NB

Ich glaube, das kann man ganz grundsätzlich sagen, dass sie eben nicht nur in der Leipziger Szene wahrgenommen werden, sondern dass das bundesweit ganz schön für Furore gesorgt hat. Denn man muss sagen das ist extrem untypisch, dass Teile der Szene beziehungsweise jemand, der sozusagen selber mal in so einer Gruppierung aktiv war, sich da äußern, vor allem gegenüber der Polizei und wahrscheinlich auch dem Verfassungsschutz. Da ist der Soko Linx, und das wissen sie, glaube ich auch, ein ziemlicher Glücksgriff gelungen. So eine Quelle gab es sehr lange Zeit nicht, wenn wir über radikale Linke sprechen, in so einem Verfahren. Das heißt aber auch, dass das natürlich eine enorme Aufmerksamkeit innerhalb der Szene bekommen hat, dass es jemanden gibt, der selber Teil war und sich jetzt der Polizei gegenüber äußert über Straftaten, die andere Linke begangen haben. Da gibt es mittlerweile auch häufiger mal vor allem im Internet Verweise, dass man 31er nicht vergisst. 31er ist eine subkulturelle Bezeichnung für Verräter, bezieht sich auf den Paragrafen 31, wo es darum geht, dass man für die Kooperation bei Straftaten eine Strafmilderung bekommt.

 

SK

Weil wir einmal bei Zahlen sind. In eurem Film an dem Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal in Dresden, gab es Rufe

 

Atmo

 

Was rufen die da? Und warum?

 

TD

Die rufen "Wir sind alle 129er" Das bezieht sich auf den Paragraf 129 des Strafgesetzbuches über kriminelle Vereinigung. Das gab es einen Grundsatzstreit, Streit auch um die Deutungshoheit. Die Verteidigung von Lina E. und den anderen ist der Meinung, dass dieser Paragraf benutzt wird, um linke Straftaten stärker zu kriminalisieren, zu bestrafen, als es eigentlich von der Sache her notwendig wäre, indem man diesen Vereinigungs-Paragrafen wählt. Und das spielt natürlich tatsächlich eine wichtige Rolle und ist seit Jahren bekannt und Usus, wenn man diesen Paragrafen einführt bei Ermittlungen, haben die Ermittlungsbehörden weitreichende Befugnisse. Pauschal gesagt, kann man damit Leute von jeder Seite und mit allen Mitteln durchleuchten, abhören, observieren alles Mögliche. Das ist schon ein schwerwiegendes Instrumentarium. Es gibt auch in der Vergangenheit und auch in Sachsen haben wir das mehrfach erlebt, gegen die linke Szene dieses Mittel im Einsatz, ohne dass es im Ansatz gerechtfertigt wäre. Das heißt, es gibt aus Erfahrung ein berechtigtes Misstrauen. In dem Falle war es aber so, dass es ja doch relativ viele Indizien gab und die Gruppe auch weitergemacht hat, nachdem Lina E. und andere nach dem zweiten Überfall auf der Flucht mit ihrem Auto mit gefälschten Kennzeichen, mit Reiz-Spraydosen im Auto und so weiter gefasst wurde und dann trotzdem weitergemacht haben und dabei natürlich zum Teil auch von der Polizei abgehört wurden beziehungsweise observiert wurden.

 

SK

Immer wieder hört man auch Vorwürfe aus der linken Szene, dass die Taten, die von linker Seite begangen werden, schärfer geahndet werden als die von rechts. Woher kommt diese Wahrnehmung? Was glaubt ihr?

 

TD

Es gibt schon einen Ansatzpunkt, gerade in Ostdeutschland und gerade auch in Sachsen. Den hat eine Verteidigerin in ihrem Plädoyer im Prozess thematisiert, dass es doch immer wieder und je mehr man zurückblickt, umso skandalöser wird es, Fälle gab, wo Sachen gar nicht wirklich ermittelt werden oder wo Leute mit unfassbar laschen Strafen davonkommen. Ein Beispiel ist Sturm 34. Die kriminelle Vereinigung von Neonazis, die über einen längeren Zeitraum eine ganze Region terrorisiert hat - nicht nur Andersdenkende angegriffen. Auch Leute auf Dorffesten überfallen hat, also eine üble Schlägertruppe. Und da war es so, die wurden in Sachsen nicht als kriminelle Vereinigung verurteilt. Man sah das nicht. Was war die Folge? Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil aufgehoben und hat dann klar definiert, dass eine kriminelle Vereinigung dann existiert, wenn Leute sich einem übergeordneten Ziel unterordnen, um Straftaten zu begehen. Das hat natürlich zu einer enormen Verfahrensverzögerung geführt, und Verfahrensverzögerungen dürfen natürlich nicht den Angeklagten zum Nachteil ausgelegt werden. Die Folge war also, das von diesen Leuten, die dort angeklagt waren, am Ende niemand ins Gefängnis musste. Es gab mal jemand, der in Untersuchungshaft saß, aber am Ende gab es dort Bewährungsstrafen beziehungsweise Freisprüche für eine wüste Schlägertruppe. Und wir wissen auch, das ist  ja auch ein Problem der Rechtsprechung, das oft gerade an Amtsgerichten, die Motivation, selbst wenn sie offensichtlich ist, gar nicht erhoben wird, beziehungsweise in die Strafzumessungen das Urteil einfließt.

 

SK

Das es nicht als politisch angesehen wird…?

 

TD

Genau. Das ist ja auch ein Punkt, auf den der Vorsitzende Richter bei der Urteilsbegründung verwiesen hat. Das es tatsächlich ein Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung durch Polizei und untere Gerichte gibt, von alltäglicher rechtsextremer Gewalt - sprich alles das, was häufig im ländlichen Raum stattfindet, was vielfach auch nicht angezeigt wird, weil Leute schlichtweg Angst haben. Das sie dann Repressionen erfahren, wenn sie jemand anzeigen und am nächsten Tag wieder allein an ihrem Ort sind.

 

SK

Zurück zu  Lina E. Die ist ja – zumindest in meiner Wahrnehmung - in dieser Zeit des Prozesses zu so einer Art Ikone geworden. „Free Lina“, das wird gerufen, das steht überall. Und die linke Szene, die hat schon vor der Urteilsverkündung angekündigt es wird Demonstrationen geben, den sogenannten Tag X ausgerufen. Also meine Wahrnehmung war schon, dass die linke Szene da extrem sensibel und empfindlich das beobachtet. Und auch darauf reagiert. Und jetzt nicht nur die linksradikale oder links extreme Szene, sondern sehr, sehr viele Menschen, die sich einfach nur als links verorten und eigentlich gemäßigt sind. Nina was glaubst du? Woran liegt das? Es geht da um jemanden, der ja ganz bewusst in Kauf genommen hat, dass andere auch körperlich zu Schaden kommen. Und trotzdem gibt es die hohe Solidarität.?

 

NB

Nun ja, ich würde sagen, an dieser Stelle ist die verbindende Klammer, das bindende Glied, zumindest aus der Perspektive vieler Linker, der Antifaschismus. Und die Wertung und Deutung dieser Taten als explizit antifaschistische Taten. Um sich in Sachsen - so das Narrativ - dieser rechtsextremen Hegemonie entgegenzustellen. Nun ist diese Gemengelage in der linken Szene schon sehr komplex, und auch die Kampagne selbst, die es in der linken Szene rund um dieses Verfahren gab, weißt schon deutliche Widersprüchlichkeiten auf. Zum einen gab es da teilweise die Behauptung, es würden Unschuldige verurteilt werden, auf der anderen Seite dann den Standpunkt, Antifaschismus sei notwendig in Sachsen. Das sind natürlich zwei Deutungen oder zwei Narrative, die sich gegenseitig auch ein bisschen aufheben. Das heißt aber man hat trotzdem versucht, über diese Klammer des Antifaschismus, diese Gewalttaten, diese Straftaten zu rechtfertigen.

 

SK

Thomas, Du lebst sei jetzt schon ein paar Jahre länger in Leipzig als Nina. Das hat einfach was mit Alter zu tun…. Glaubst du,ist das was speziell was für Leipzig steht und für die linke Szene in Leipzig? Diese Ikonisierung und diese Solidarisierung mit jemandem wie Lina E. Wäre das woanders genauso passiert? Oder siehst du da was spezielles, was hier in Leipzig, in Sachsen nur so möglich ist?

 

TD

Ich würde behaupten – wage mich da evtl ein bisschen weit aus dem Fenster -  aber egal, wenn Lina an einem anderen Ort in Ostdeutschland leben würde oder gelebt hätte, wäre das auch so, denke ich. Das hat mit der Prägung zu tun, und es gibt halt eine Solidarität hier vor Ort hinter deren Kulissen es schon ein bisschen knirscht. Da gibt es gerade bei der älteren Generation die das selber erfahren hat in den 90er-Jahren schon so eine Ablehnung auch bei weiten Teilen gegenüber solcher Art von Gewalt, weil man die nicht als legitime Selbstverteidigung, wie man sie damals brauchte, empfindet. Aber es gibt auch andere, die Verständnis haben. Es war ja so - und das galt ja für ganz Ostdeutschland, speziell für den ländlichen Raum - das in den 90er-Jahren viele Leute Erfahrungen gemacht haben mit heftiger Neonazi-Gewalt. Mit einer Ignoranz des Staates, wie man sie eigentlich aus heutiger Sicht gar nicht mehr fassen kann, wie man sie zum Teil aber immer noch erlebt. Und eine Freundin hat mir geschrieben und mir war das vorher gar nicht so bewusst, dass es gerade so bei den Älteren, die sich vielleicht erst links verorten, aber die überhaupt selber nicht gewaltbereit sind oder geschweige denn extrem eingestellt, doch zum Teil gewisses Verständnis gibt. Also ich lese mal vor, was sie mir geschrieben hat. Ich darf das vorlese. „Anfang der Neunziger, meine Freunde haben wöchentlich aufs Maul bekommen, ich nicht. Ich durfte nicht so lange raus, niemand hat was gemacht, niemand, nicht die Lehrer, nicht die Eltern. Die Polizei kam gar nicht erst. Einer Freundin wurde auf dem Hauptbahnhof nach dem Cure-Konzert der Iro angezündet. Zwei Freunde von mir verdroschen, die waren 15 und 17. Die Prager Straße in Dresden war eine No-Go-Ärea. Irgendwie macht das doch was mit einem.“ Und das ist eine Position, die man nicht so selten findet.

 

SK

Im Film, Thomas, sprichst du von einer Propagandaschlacht, die da rings um den Prozess gegen Lina E und die drei Angeklagten stattgefunden hat. Zum einen natürlich von der linken Seite ..die Schlachtrufe "Free Lina", dann natürlich auch die staatliche Seite, dass diese junge Frau, da mit diesem Hubschrauber dort eingeflogen wird und so weiter.. Wie ist eigentlich der Prozess vonseiten der Rechtsextremen wahrgenommen worden? Denn viele der Opfer dieser jetzt Verurteilten waren oder sind mutmaßlich Rechtsextreme?

 

TD

Na für die rechtsextreme Szene war das ein Fest  - da muss man sich nichts vormachen. Die sind über die Nebenkläger auch an viele Informationen über die linke Szene gekommen, die sie vorher nicht gehabt hätten. Es war so, dass die Anwälte der Nebenklage immer nur bei den Fällen Akteneinsicht bekommen haben, wo sie ihre Mandanten vertreten haben. Aber die haben das natürlich zusammengelegt und das fand sich dann in rechtsextremen Presseerzeugnissen wieder, wie "compact" zum Beispiel, oder bei dieser rechtsextremen Kampagnenplattform "ein Prozent". Da konnte man so viele Details, teilweise mit unverpixelten Bildern, vollen Namen, über Leute lesen, die noch nicht verurteilt waren. Also das war vielleicht das Bedauerlichste an diesem ganzen Verfahren, dass es ein Honigtopf für Rechtsextremisten war. Und die haben natürlich ihre These befeuert gesehen, dass die eigentliche Faschisten - man dreht es ja heutzutage gern um, um von sich selber abzulenken und von seinen eigenen Zielen - dass die eigentlichen Faschisten die Linken sein, unterstützt vom Staat, also vom links-grünen Establishment. Und es hat natürlich auch die rechte Szene so ein bisschen zusammengeschweißt.

 

SK

Hier noch mal der Hinweis für alle, die noch mal genau wissen wollen, worum es eigentlich ging, welche Taten den Angeklagten vorgeworfen wurden. Da empfehle ich den Podcast "Nazi-Jagd als Klassenkampf". Den haben wir im November 2021 aufgenommen. Der Film, zu sehen auf YouTube als MDR exactly "Lina E. - ein Urteil mit Folgen" so heißt der Film. Lasst uns jetzt mal über die Folgen reden, und zwar über das vergangene, erste Juni-Wochenende hier in Leipzig. Es war eine Demonstration angekündigt. Es wurden Demonstrationen verboten, es gab trotzdem Demonstrationen, es gab auch teilweise Ausschreitungen. Was war da los in Leipzig? Nina

 

NB

Ich würde sagen, dass Demonstrationsgeschehen, die Reaktion auf dieses Urteil, begannen eigentlich schon am Mittwochabend, also an dem Abend der Urteilsverkündung. Da gab es bundesweit Demonstrationen, von Bremen bis nach Dresden. Auch in Leipzig sollte ein hoher Sachschaden entstehen. Das wollten zumindest die VerfasserInnen eines Schreibens. Da hieß es für jedes Jahr Haftstrafe, was verhängt wird, gibt es 1 Million Euro Sachschaden. Das haben die Sicherheitsbehörden tatsächlich sehr wörtlich genommen, wollten das auf jeden Fall verhindern. An den Mittwochabend gab es eine erste Demonstration im Leipziger Osten, wo sich an die tausend Personen zusammengefunden haben, die hat es gar nicht erst geschafft haben loszulaufen. Die Polizei, beziehungsweise die Stadt, haben diese Demonstration untersagt, mit der Begründung: zu viele Leute und zu viele Vermummte. Kurz darauf ist es dann tatsächlich aber auch unübersichtlich geworden. Teile der Demonstration haben es dann doch geschafft, sich aus diesem Park in Bewegung zu setzen. Es gab dann auch schon den Bau erster Barrikaden. Es sind teilweise Flaschen auf Polizeiautos geflogen. Also das war so ein erster Moment, wo man absehen konnte, das es eine dynamische Lage geben wird am Wochenende. Um das chronologisch zu erzählen: Es gab bereits am Freitagabend eine erste Versammlung, die war nicht angemeldet. Das hat den Hintergrund, dass die Stadt Leipzig alle Demonstrationen und Versammlungen, die irgendwie in Zusammenhang mit Lina E und diesem Verfahren stehen, pauschal untersagt hat. Zwischen Freitag und Sonntagabend. Das ist ein ziemlich krasser Eingriff, muss man sagen. Die Versammlungsfreiheit. Gleichzeitig gab es auch ein Kontrollgebiet, in dem anlasslos Kontrollen von Personen stattfinden konnten. Ebenfalls für 48 Stunden ..

 

TD

Das gab es noch nie! Die halbe Stadt 48 Stunden Kontrollgebiet! Das ist schon ein schwerwiegender Eingriff. Man kann ja gewisse Sachen verstehen, dass man sich vor Ausschreitungen schützen will als Stadt. Aber das ist schon massiver Eingriff in die Grundrechte und ich finde, das wird zu wenig diskutiert. Es wird immer so getan, als sei das unabdingbar und normal. Aber das hat es in der Form noch nie gegeben.

 

NB

Genau. Und dann sind wir beim Freitagabend, wir haben ja gerade gehört. Eigentlich hatte die Stadt alle Versammlungen untersagt. Da gibt es aber natürlich auch ein paar Hintertürchen, und die haben Teile der linken Szene für sich genutzt. Und bereits ein paar Tage vorher, als schon die Vermutung im Raum stand, dass diese Samstags-Demo verboten werden könnte, zu einem sogenannten Massen-Cornern aufgerufen. Das heißt, so viel wie „Abhängen im Park“ in Connewitz. Ich würde sagen, es war ne gelöste Stimmung. Es saßen viele Grüppchen im Park, haben Bier getrunken. Es wurde laut Musik gehört. Mit zunehmender Dunkelheit gab es dann immer mehr Gruppen, die angefangen haben, Vermummung anzulegen. Irgendwann gab es dann auch ein paar Sprechchöre, darunter auch Free Lina. Man muss wirklich sagen, innerhalb von Minuten ist da die Stimmung umgeschlagen. Dieses gelöste Zusammensitzen hat sich dann verwandelt, in einen massiven Angriff, auch auf Polizeikräfte. Es sind dann Baustellenabsperrungen zu Barrikaden zusammengehäuft worden, angezündet worden, das klassische Bild brennender Mülltonnen, aber eben auch sehr viele Steine, Flaschen, Böller auf Polizeikräfte geworfen worden. Die wiederum antwortete dann mit Tränengas.

 

SK

Und dann war ja eigentlich für den Samstag eine Demonstration angekündigt. Die hat die Stadt verboten. Es gab aber trotzdem noch Demonstrationen. Wie hängt das zusammen?

 

NB

Es gab am Samstag eine angemeldete Versammlung. Die wurde zugelassen. Die stand zumindest von ihrem Titel her nicht in direktem Zusammenhang zu Lina E., sondern war angemeldet als eine Versammlung für die Versammlungsfreiheit. Da haben sich dann auch ab 16, 17 Uhr relativ viele Leute im Leipziger Süden zusammengefunden. Da waren Ältere, Jüngere, teilweise Vermummte auch, aber auch viele Leute, die nicht im klassischen „Black Block“- Aussehen entsprechen. Dann war es aber so, dass man eben aufgrund dieser Vermummten, die da anwesend waren, in der Menge. Die wohl so hat uns der Versammlungsleiter erzählt, auch immer wieder darauf angesprochen worden sein, dass sie vermummt sind und diese Vermummung ablegen müssen, weil die Polizei dies zum Anlass genommen hat, der Demonstration zu verbieten, loszulaufen, das war, dann würde ich sagen, auch der Kipppunkt, dass man eben diese geplante Laufdemonstration zu einer Kundgebung, also einer stationären Versammlung erklärt hat. Kurz nach 18 Uhr haben dann trotzdem Teile dieser vermummten Gruppierung versucht, sich in Bewegung zu setzen. Das war dann der Punkt, wo es das erste Mal ein Aufeinandertreffen von DemonstrantInnen und PolizistInnen gab. Da wurden dann - das konnte man von verschiedenen Stellen aus beobachten - Dinge auf die Polizei geworfen, darunter ein Brandsatz. Wegen diesem Brandsatz ermittelt die Staatsanwaltschaft Leipzig mittlerweile wegen versuchten Mordes - ein sehr schwerer Vorwurf. An anderer Stelle, kurz nach dieser Situation, flogen auch Steine auf Polizisten.

 

SK

Thomas, man sieht Dich im Film, da machst du einen Aufsager vor dieser Demonstration. Du hast ein Fahrradhelm auf dem Kopf. Das war nicht so, dass du nur vergessen hast, den abzusetzen. Oder?

 

TD

Nein. Also wir haben die Helme schon am Abend vorher gebraucht. Sogar unser Kameramann, der grundsätzlich der Meinung ist, dass er so etwas nicht braucht, der hat den, als die Steine dort flogen, klaglos aufgesetzt. Und das war der Grund, aus dieser Erfahrung heraus, den am Sonnabend mitzunehmen. Mich haben erst sagt Fotografen darauf hingewiesen. Man spürte, als die Demo nicht laufen durfte, dass es sich aufheizt. Und dann habe ich schnell die Helme aus dem Auto geholt. Und das war auch gut, weil es ging kurz danach los.

 

SK

Für rund tausend Demonstrantinnen und Demonstranten hat dieser Abend ganz schön lange gedauert, denn die sind von der Polizei eingekesselt worden. Und das sorgte und sorgt im Moment gerade auch für ziemliche Schlagzeilen - vor allen Dingen, was das Vorgehen der Polizei betrifft. Was sind das für Vorwürfe? Was war da los? Was weißt du?

 

TD

Vielleicht muss man noch mal kurz erklären, wie dieser Kessel entstanden ist. Das ist gegen 18:06 / 18:07 losgegangen, da flogen die ersten Sachen auf die Polizei. Dann gab es von mehreren Stellen Angriffe auf die Polizei, die sich natürlich versucht hat, zur Wehr zu setzen, die musste sich aber auch teilweise erst mal zurückziehen. Und das war eine sehr chaotische Situation. Dann kam von allen Seiten Polizisten angerannt. Es gab noch Steinwürfe. Man darf man nicht vergessen: Auf diesem Platz dort waren nicht bloß Hardcore linke Vermummte, sondern da waren auch bürgerliche Linke. Da war natürlich auch Schaulustige.

 

SK

Und da ist ja auch gar nicht Connewitz? Sondern Südvorstadt. Also alle, die die Stadt kennen, wissen, dass es eigentlich gar nicht das Zentrum der linken Szene ist. Es ist gar nicht Connewitz ...

 

TD

Genau. Da ist ein Basketballplatz, auf dem viele Kids abhängen und so weiter, dass war auch an diesem Tag so. Es war ja schönes Wetter, die Kids gucken sich das natürlich an. Niemand hört von denen, wenn er sich nicht schon mal mit einer Demo beschäftigt hat, auf die Lautsprecheransagen der Polizei. Und es gab dann aber nur noch schwarz-weiß. Als diese Eskalation begann, hat die Polizei den Schalter umgelegt, und von allen Seiten kamen die Einheiten, die offenbar dieses ganze Areal weiträumig umstellt haben, und haben dann sozusagen wie so ein großer Kamm die Leute zusammengeschoben. Es gab so 7 Minuten – ein Teil der Leute kam noch raus, aber das war dann sehr willkürlich. Also ich habe zum Beispiel Leute getroffen, einen Nachbarn von mir, der stand dann mit dem Fahrrad, hat sich das angeguckt und fand sich dann im Kessel wieder ...

 

SK

… dass heißt, dein Nachbar, den du getroffen hast, das ist ein völlig unverdächtiger Mensch, der da plötzlich eingekesselt worden ist und festgehalten worden ist, für Stunden ..?

 

TD

Ich habe ihn noch nie irgendwie als politisch erlebt. Es ist ein Mann um die 40. Ich glaube, der hat noch nie einen Stein auf die Polizei geworfen, und wüsste gar nicht, warum er das machen sollte. Wir haben uns gestern länger unterhalten, und ich habe auch immer wieder nachgefragt, weil ich das erstmal nicht glauben wollte. Der hat gesagt, am Anfang und die Behandlung scheint jeweils von der zuständigen Einheit aus dem jeweiligen Bundesland abhängig gewesen zu sein.. Bei ihm war es jedenfalls so, so beschreibt er es, dass sie ihre Jacken ausziehen mussten, die wurden auf einen Haufen gelegt. Diese Haufen wurde von der Polizei bewacht, und diese Jacken durftest du dann noch nicht wieder anziehen, sondern erst, wenn du gehen konntest. Dass heißt, er hat bis Mitternacht etwa dort in dem Kessel verbracht. Es wurde dann irgendwann kalt und er hat gesagt, er war auch lange, so wie andere, mit Kabelbindern gefesselt. Und er selber hat Anzeige erstattet.

 

SK

Nina, du hast dich damit noch einmal intensiv beschäftigt, auch für unser MDR Nachrichtenmagazin Exakt. In deinem Beitrag kommt ein Mädchen, ein Kind, vor. Die ist zwölf Jahre, die war auch in diesem Kessel für sehr viele Stunden, zusammen mit ihrer Mutter. Man kann auch in der Presse lesen, es gibt immer wieder Berichte, dass Eltern nicht wussten, wann ihre Kinder nach Hause kommen, wo die sind. Es gibt Berichte über nicht ausreichende Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln und auch sanitäre Möglichkeiten. Was konntest du da in Erfahrung bringen? Was ist da dran an diesen ganzen Geschichten, die momentan durch die Medien geistern?

 

NB

Du hast es schon gesagt, es gibt relativ viele Berichte im Nachhinein von dieser Kesselung. Wir haben natürlich auch die Polizei dazu angefragt, die ja aus diesem Kessel heraus jeder einzelne Personen einer Identitätsfeststellung unterzogen hat. Das heißt, natürlich liegen dann auch Daten über das Alter dieser Personen vor. Es ist allerdings so, dass an diesem Kessel verschiedene Einheiten, also verschiedene Hundertschaften aus verschiedenen Bundesländern beteiligt waren. Dass heißt, wenn jetzt die bayrische Hundertschaft Personen einer Identitätsfeststellung unterzieht, dann werden diese Unterlagen mit nach Bayern genommen, auf die jeweilige Dienststelle, und von da aus dann nach Leipzig geschickt. Dass heißt, wir sind jetzt gerade vor der Situation - so hat es uns die Leipziger Polizei mitgeteilt - dass auch ihnen noch nicht alle Daten vorliegen. Was bedeutet, dass sie auch noch keine Aussage dazu treffen können, wie groß der Anteil der Minderjährigen an diesen tausend Personen im Kessel eigentlich war.

 

SK

Und die anderen Vorwürfe? Da gab es offenbar auch Unterschiede, bei welcher Polizeieinheit die Leute jeweils gelandet sind...?

 

NB

Das scheint so zu sein, ja, gerade bei der Frage, wie die Leute ihre Notdurft verrichten konnten. Die Polizei Leipzig hat uns da auf Nachfrage gesagt, es hätte mobile Toilettenwagen der Polizei gegeben, die auch die Eingekesselten hätten nutzen können. Das geht auseinander mit dem, was uns einige Personen aus dem Kessel berichtet haben. Da gibt es eben Berichte, dass man in einen Busch gehen musste, der notdürftig abgehangen war mit einer Wärmedecke, damit man eben nicht so ganz entblößt vor vielen hundert Menschen auf Toilette gehen musste. Teilweise soll die Polizei, so hat es uns eine Mutter erzählt, von außen auch mit Kameras auf diesen Busch gehalten haben. Dann gab es auch die Erzählung, dass es durchaus die Möglichkeit für die Eingekesselten gegeben haben soll, auf Toilette zu gehen. Uns hat jemand erzählt, dass das allerdings dann nur möglich gewesen wäre in Begleitung der Polizei. Das ist natürlich schwer vorstellbar, wurde uns aber so berichtet. Dann gibt es auch noch weitere Berichte, die wir jetzt, um ehrlich zu sein, noch nicht selber verifiziert haben, dass es Leibesvisitationen gegeben haben soll. Teilweise soll Leuten in die Unterhose geleuchtet oder gefasst worden sein. Das ist natürlich ein sehr schwerer Vorwurf, dem die Polizei auf jeden Fall nach gehen muss - aus meiner Perspektive. Und wo sich für mich auch klar die Frage stellt, in welcher Verhältnismäßigkeit das steht.

 

TD

Was auf alle Fälle gesichert ist, dass es zahlreiche Eltern gab, die in dieser Nacht versucht haben, ihre minderjährigen Kinder zu erreichen, die aber vielfach keine Chance hatten, zu diesen Kindern zu kommen, nicht durchgelassen wurden, von der Polizei oder auch nicht informiert wurden, wenn ihre Kinder mitten in der Nacht freigelassen wurden. Was wir beobachtet haben und auch dokumentiert haben, diese Abarbeitung, dieses Feststellen der Identität, das Fotografieren und so weiter. Das ging sehr, sehr langsam. Also es war sehr offensichtlich. Man hätte das Ganze wahrscheinlich auch deutlich schneller machen können, dass die Polizei ein Interesse hatte, diese gekesselten Leute solange wie möglich zu binden. Offenbar stand dahinter die Überlegung, dann können die Leute in der Zeit keine Straftaten begehen. Es ist natürlich durch die Fakten widerlegt. Es gab ja dann, während der Kessel bestand, massive Ausschreitungen, die nicht lange dauerten, aber die doch massiv ausfielen, in Connewitz und wo Barrikaden gebaut wurden, die Polizeiwache, die interessanterweise unbewacht war, mit Steinen angegriffen wurden. Auch zwei Beamte, wenn ich es so richtig im Kopf habe und wo Polizeifahrzeuge angegriffen wurden. Und es waren zum Teil eben Leute - nach meinen Informationen - die auch vorher schon, bei der nicht stattfindenden Demo randaliert hatten und weggekommen waren. Dass heißt, wenn das die Überlegung war, dann hat man die falschen Leute festgehalten.

 

NB

Ergänzend zu diesem Kessel sollte man schon dagen, dass der Vorwurf oder beziehungsweise der Hintergrund, weshalb die Polizei und auch die Staatsanwaltschaft diesen Kessel aufrecht erhalten haben, ein pauschaler Vorwurf an alle in diesem Kessel war, schweren Landfriedensbruch begangen zu haben. Davon ist die Polizei beziehungsweise die Staatsanwaltschaft mittlerweile abgerückt. Jetzt hat sie es abgeschwächt, sozusagen zu einem einfachen oder zum Landfriedensbruch, das schwer bei Teilen der Leute rausgestrichen. Das ist was, was auch der Experte, den wir dazu gesprochen haben, ein Polizeirechtsexperte, kritisiert, Der sagt das ist eigentlich kaum vorstellbar, dass eine Menschenmenge von tausend Personen sich eben an Straftaten beteiligt haben soll.

 

SK

Wie ist das jetzt eigentlich mit dieser Drohung der linken Szene? Dass es für jedes Jahr, was die Angeklagten in Haft müssen, diesen angedrohten Sachschaden von einer Million Euro geben könnte? Wie sind die Aussichten für Leipzig? Das Urteil ist gefallen. Es ist Revision eingelegt worden. Lina E ist im Moment auf freiem Fuß. Was glaubt ihr? Wird Leipzig zur Ruhe kommen oder drohen weitere Ausschreitungen?

 

TD

Was ich ja lustig finde, an diesen Drohungen, sofern sie sozusagen stimmen .. Und man musssagen, es lässt sich nicht wirklich eruieren, auf die Quelle zurückführen, weil das anonym in irgendwelchen Portalen veröffentlicht wird. Aber wenn das so ist, und das ist ja in der linken Szene durchaus in der Vergangenheit öfter passiert, dann steckte dahinter die Überlegung,wir treiben den Preis für den Staat hoch. Was soll das denn bringen? Also man zerstört irgendwelche Autos oder meinetwegen auch Baumaschinen..? , richtet damit Sachschaden an. Glaubt jemand ernsthaft, dass deshalb ein Gericht bei der nächsten Entscheidung, zu welchem Fall von linker Gewalt auch immer sagt, wir können jetzt kein so scharfes Urteil fällen ..

SK

.. das wäre ja auch Erpressung ..

TD

… ich halte das für einen völlig surrealen Zusammenhang. Kein Gericht, was ich mir vorstellen kann, in Deutschland, würde sich davon beeindrucken lassen. Ich halte das einfach gesagt, für politischen Kitsch, um sich davor zu drücken, dass man sich mit Inhalten auseinandersetzt. Das zeigt doch, dass Teile der Szene überhaupt kein Interesse haben, Politik zu vermitteln oder jemand zu erreichen, sondern sich und teilweise auch einfach nur ihrem gewalttätigen Macker-Fetisch genügen.

 

SK

Nina, was glaubst du? Geht es weiter in Leipzig? Wird es weitere Demonstrationen geben im Zusammenhang mit Lina E.?

 

NB

Ich würde sagen, ein Ergebnis dieses Wochenendes, da würde ich Thomas zustimmen, ist eine Orientierungslosigkeit, eine Ziellosigkeit der linksradikalen Szene in dieser Stadt und vielleicht sogar auch darüber hinaus. Eine Sache bleibt für mich persönlich hängen, und ich vermute mal auch für viele andere. Und zwar, dass dieses Wochenende nicht dazu geführt hat, dass wir über Antifaschismus reden. Das Ergebnis dieses Wochenendes ist, dass wir über Gewalt reden, die in keinem Zusammenhang mit Antifaschismus steht.

 

Vielen Dank für dieses Gespräch. Thomas Datt und Nina Böckmann

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