"Gittersee"-Autorin im Interview Charlotte Gneuß: "Was habt ihr vor 1989 gemacht?"

09. Dezember 2023, 04:00 Uhr

Der Roman "Gittersee" von Charlotte Gneuß wurde im Bücherherbst Anlass für eine Feuilleton-Debatte darüber, wer über die DDR schreiben darf und ob es nur eine Wahrheit gab. Die Schriftstellerin selbst wünscht sich eine vielfältigere Debatte über die DDR-Geschichte. Es sei an der Zeit, auch die Täter des Unterdrückungssystems zu hören.

Die Autorin Charlotte Gneuß wünscht sich, dass bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte auch mehr Täter gehört werden. Im Interview mit MDR KULTUR sprach sie unter anderem darüber, dass die Generation der Nachgeborenen inzwischen andere Fragen stellen sollte.

Die verschiedenen Seiten der DDR

Gneuß erzählt, wie die DDR-Bevölkerung in den 90er-Jahren zunächst damit umgehen musste, sich in einem neuen System zurechtzufinden: "Die hatten in dem Moment keine Zeit, eine Stasi-Aufarbeitung zu machen, indem sie sich lange dahinsetzen konnten, um darüber zu reflektieren."

Inzwischen sei die Erinnerungsarbeit ziemlich simpel geworden, beklagt die Autorin: "Ich habe schon oft festgestellt, dass die institutionelle Erinnerungskultur von Hohenschönhausen, Staatssicherheit und Schießbefehl redet – also ein DDR-Diktatur-Gedächtnis zeichnet, während das private Gespräch dann in die Gegenrichtung geht und sagt: 'Es war ja nicht alles schlecht'."

Blick auf einen schlichten, weißen Bau mit vielen Fenstern
Ein Teil der Erinnerungsarbeit findet in Museen statt wie im Gedenkzentrum Bautzener Straße in Dresden. Bildrechte: MDR/Katrin Claußner

Wie Unterdrückung funktioniert

Dadurch könnten sich Menschen von den dunklen Seiten der DDR abgrenzen, meint Gneuß. Die eigene Familie wäre dann weder Täter noch hätte sie Verbindungen zu Tätern, sondern sei selbst Opfer des Systems gewesen. "Ich würde mich freuen, wenn Menschen über ihr Täter-Sein sprechen", sagt Gneuß und stellt gleichzeitig klar, dass Täter teilweise auch dem Druck des Systems ausgesetzt gewesen seien.

Die Schriftstellerin ist der Meinung, diese Aufarbeitung wäre nicht nur für die Geschichtsbücher wichtig, sondern auch aktuell: "Wir haben auch heute einen Verfassungsschutz und wir haben gesehen, wie der umgegangen ist, zum Beispiel mit Fridays for Future. Wir wissen nicht, was in zwei Legislaturperioden sein wird, wer dann an der Macht sein wird und wie dann unser Verfassungsschutz arbeitet. Deswegen ist es mir wichtig zu fragen: Wie hat denn die Staatssicherheit gearbeitet? Und wie kriegen wir dieses Misstrauen, was zwischen den Menschen entstanden ist, wieder aus der Gesellschaft raus? Das geht nicht, indem wir schweigen", so Gneuß im Interview bei MDR KULTUR.

Tatra Straßenbahn an der Haltestelle Postplatz und Neubaublock mit sozialistischem Slogan in Dresden.
In ihrem Roman "Gittersee" erzählt Charlotte Gneuß vom Leben im Dresden der DDR. Bildrechte: imago/Ulrich Hässler

Das Dresden in den 1970er-Jahren

Charlotte Gneuß ist mit ihrem Buch "Gittersee" selbst schon Anlass für eine Debatte geworden, in der es um die Darstellung des DDR-Alltags ging. Die Autorin wurde in Ludwigsburg geboren, nachdem ihre Eltern aus der DDR ausgereist waren. Vorher hatten sie in Dresden gelebt. Auf Grundlage der elterlichen Erinnerungen sowie weiteren Gesprächen und Recherchen hatte Gneuß ihren Roman über eine Jugendliche in der DDR geschrieben.

Ein Schwarz-Weiß-Foto von einer Frau, die in einem Flur sitzt und ein Kind hält, das vor ihr steht. Darum ein roter Rahmen auf dem "Charlotte Gneuß" und "Gittersee Roman" steht.
"Gittersee" ist der erste Roman der Autorin Charlotte Gneuß. Bildrechte: S. Fischer

Der Roman war unter anderem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert, der jedes Jahr im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Der Jury wurde nach Bekanntgabe der Longlist ein Dokument zugespielt, in dem der Autor Ingo Schulze Details im Roman kritisiert, die seiner Meinung nach historisch unkorrekt seien.

Das habe die Rezeption des Romans überschattet, meint Gneuß heute. Auf Lesungen würden ihr immer wieder Fragen zu diesen Vorwürfen gestellt, andere würden ihr Briefe schreiben, die ihre Darstellungen bestätigen. Die Autorin ihrerseits ist der Meinung, dass in den Feuilletons zu wenig über die Jury-Beeinflussung geschrieben wurde und zu viel über die Frage, ob sie überhaupt über die DDR schreiben dürfe. Denn das, so die Schriftstellerin, würde ihr niemand absprechen: "Ich fand es ein bisschen schade, dass da die Blickrichtung immer auf meinem Text lag. Ich und der Roman müssen sich jedes Mal beweisen. Ich hätte mir eine andere Blickrichtung gewünscht, aber man kann sich das nicht aussuchen" sagt sie dazu.

Charlotte Gneuß ist 1992 in Ludwigsburg geboren. Nach ihrem Fach-Abitur hat sie in Dresden Soziale Arbeit studiert. Später sudierte sie außerdem am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Szenisches Schreiben in Berlin. 2023 erschien ihr Debütroman "Gittersee" für den sie den Aspekte-Literaturpreis und den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung erhielt. 2024 wird sie Stadtschreiberin in Dresden sein.

Quelle MDR KULTUR (Carsten Tesch)
Redaktionelle Bearbeitung: tsa

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Café | 10. Dezember 2023 | 12:00 Uhr

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