Patriotismus-Unterricht an Schulen in Russland
Kinder und Jugendliche in Russland sollen zu mehr Patriotismus erzogen werden. Kritikern zufolge geht es in Wahrheit aber um Militarismus, nicht um Patriotismus. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Russland So züchtet Putin neues "Kanonenfutter"

07. August 2023, 11:48 Uhr

Die Massenflucht russischer Männer vor der Einberufung im September 2022 hat die Regierung in Moskau offenbar mit mangelnder patriotischer Erziehung in Zusammenhang gebracht. Als Folge wurden schnell "patriotische Gespräche" an russischen Schulen eingeführt. Ein Geschichtslehrer erzählt, warum er trotz großer Abneigung dabei mitmacht.

Jeder Montagmorgen beginnt an russischen Schulen seit dem 1. September 2022 mit "Gesprächen über Wichtiges" – hinter dieser Bezeichnung verbergen sich halbstündige Diskussionen, die bei Schülern patriotische Gefühle fördern sollen. Als wichtigste Werte sollen den jungen Russinnen und Russen Heimatliebe und historisches Bewusstsein vermittelt werden. Laut Sergej, Aktivist und Geschichtslehrer in einer russischen Kleinstadt, ist der Inhalt dieser Gespräche primitiv und hat gar nichts mit Patriotismus zu tun. (Sergej ist ein Pseudonym – der richtige Name ist der Redaktion bekannt.)

Dass die russische Führung heute verstärkt auf patriotische Erziehung setzt, führt der Lehrer auf die Folgen des Kriegs gegen die Ukraine zurück. "Erstens hatte Moskau auf einen schnellen Sieg im Krieg gegen die Ukraine gehofft", sagt der 41-Jährige. "Zweitens hatte die Regierung mit einer vollkommenen und unerschütterlichen Unterstützung des Kriegs seitens der Gesellschaft gerechnet."

Beide Erwartungen wurden teilweise oder komplett enttäuscht, so der Pädagoge. "Vor den Einberufungsämtern bildeten sich keine Schlangen von Männern, die für Russland in den Krieg ziehen wollten, und junge Russen verließen in Scharen das Land, um sich der Einberufung zu entziehen." Da sahen sich die Behörden mit einem Problem konfrontiert.

Patriotismus-Unterricht an russischen Schulen

Nach einer "Lösung" suchte man unter anderem im Schulunterricht. "Die Zuständigen für Bildung argumentierten so: Lasst uns die Kinder patriotisch erziehen, dann haben wir dieses Problem in Zukunft nicht mehr", so der Pädagoge.

Der Inhalt der neuen Montagsgespräche wurde 2022 kurz vor Beginn des neuen Schuljahres bekannt. Das Bildungsministerium veröffentlichte "methodisches Material" für Schulen – eine Art Drehbücher, nach denen die Diskussionen ablaufen sollten, gestaffelt nach Altersstufen.

Den Drittklässlern sollte etwa eingeschärft werden, dass man sich nicht zu fürchten brauche, für die Heimat zu sterben. Den Fünftklässlern sollten die Lehrer erklären, wie die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine die Opferzahl des Krieges in die Höhe treiben. In der Diskussionsvorlage für die zehnte und elfte Klasse heißt es, dass "echte Patrioten bereit sind, die Heimat mit Waffen zu verteidigen".

Kriegsgedenken in Russland, "Unsterbliches Regiment"
Der Mythos des "Großen Vaterländischen Krieges", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, wird auch an Schulen gepflegt – wie hier, an einer Dorfschule in der Region Krasnojarsk im Mai 2023. Bildrechte: IMAGO / SNA

Auf die Veröffentlichung folgten empörte Reaktionen von Eltern und Aktivisten. Die unabhängige Gewerkschaft "Allianz der Lehrer" (russisch "Альянс учителей") und die Frauenbewegung "Soft Power" (russisch "Мягкая сила") riefen Lehrkräfte und Eltern zu einem Boykott auf. In einem offenen Brief bezeichneten die Aktivisten den Inhalt der Gespräche als propagandistisch und verwiesen auf das russische Bildungsgesetz, welches politische Indoktrination an Schulen verbietet.

Der Protest zeigte Wirkung: Aus den "Drehbüchern" wurden Anfang September alle Erwähnungen der Ukraine, der "Speziellen Militäroperation" (wie der Ukraine-Krieg im russischen öffentlichen Raum offiziell heißt) sowie Formulierungen wie "Schutz von Russen" oder "für die Heimat sterben" entfernt, teilte die Gewerkschaft auf Telegram mit und feierte dies als gemeinsamen Sieg von Eltern, Lehrern und Schülern.

Behörden wollen bei Putin punkten

Neben den Montagsgesprächen sollen noch andere Maßnahmen helfen, russische Kinder und Jugendliche auf Linie zu bringen. So wird seit knapp einem Jahr an russischen Schulen jeden Montag vor Unterrichtsbeginn die Nationalflagge gehisst und die Hymne gesungen. Kritik daran weist die Regierung mit dem Verweis auf die Vereinigten Staaten zurück: Jeden Tag würden dort Schüler vor Unterrichtsbeginn der Flagge und dem Land ihre Treue geloben.

Wladimir Putin trifft Mitglieder staatlicher Patrioten- und Jugendorganisationen.
Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer historischen Debatte mit Jugendlichen zum Jahrestag der Schlacht um Stalingrad Bildrechte: IMAGO / SNA

Für Sergej sind solche Patriotismus-Initiativen der Regierung eine Farce: Dem Bildungsministerium und Politikern gehe es bloß darum, sich Putin anzubiedern und die eigene Loyalität zu beweisen. Davon zeuge auch die Halbherzigkeit bei der Umsetzung solcher Projekte: Zwar hätten russische Schulen konkrete Richtlinien für "Gespräche über Wichtiges" erhalten, doch der Prozess werde kaum kontrolliert. Ob und wie die patriotischen Unterrichtsstunden abgehalten werden, sei oft der Schulleitung überlassen, betont der Lehrer.

Grund sei die vorsichtige Haltung russischer Behörden: "Sie wollen eine Empörungswelle vermeiden. Würde man diese patriotischen Gespräche den Schulen brutal aufzwingen, gäbe es womöglich einen starken Gegenwind", betont der Geschichtslehrer. Politiker setzten deshalb auf weniger konfrontative Methoden. "Schließlich sitzen ja keine Idioten in diesen Ministerien", meint Sergej.

Schleichende Militarisierung der Jugend

Doch Farce hin oder her: Die "patriotischen Aktivitäten" an Bildungseinrichtungen sind laut Sergej keineswegs harmlos, denn dadurch werde die Gesellschaft im Endeffekt schleichend militarisiert:

In Wahrheit geht es hier um Militarismus und nicht um Patriotismus. Es ist ein militanter Patriotismus.

Sergej, russischer Lehrer

Der Krieg werde dabei zum Alltag. "Selbst wenn man den Krieg ablehnt, gewöhnt man sich allmählich daran und protestiert am Ende nicht," sagt Sergej.

Militärtraining für Schüler und Studenten in Russland
Sommerferien 2023: Beim Militärlager "Armata" konnten Schüler der Klassen 8-10 schießen lernen und einen Sanitäterkurs belegen. Auch Taktik und das Verhalten bei atomaren und chemischen Angriffen standen auf dem Lehrplan. Bildrechte: IMAGO / SNA

Auch die patriotische Jugendorganisation "Junarmija" (zu Deutsch "Junge Armee"), die 2016 auf Initiative des Verteidigungsministers Sergej Schoigu gegründet wurde und der inzwischen landesweit mehr als eine Million Kinder und Jugendliche angehören, tritt seit Kriegsbeginn aktiver auf. So startete sie im Sommer 2022 etwa die Aktion "Brief an den Soldaten", im Rahmen derer Schüler in ganz Russland Briefe an die Front schrieben.

Bereits 2017 war "Junarmija" ins Blickfeld deutscher Medien gerückt, als im Erlebnispark "Patriot" südöstlich von Moskau minderjährige Junarmisten ein Modell des Berliner Reichstags erstürmten. Den Vorwurf, er fördere eine Militarisierung von Jugendlichen, wies Schoigu zurück. "Man sagt, wir würden das Land militarisieren, damit bei uns alle im Gleichschritt marschieren. Das ist natürlich nicht so." Warum genau das nicht so ist, ließ der Verteidigungsminister offen.

Wehrpflichtige nehmen an einer Lektion über das Zerlegen und Zusammensetzen eines Kalaschnikow-Sturmgewehrs während eines Ausbildungslagers im Avangard-Ausbildungszentrum im Dorf Georgievsky, Region Tambov, Russland, teil.
Russische Jugendliche lernen den Umgang mit einer Kalaschnikow. Bildrechte: IMAGO/SNA

Vorwürfe einer Militarisierung von Jugendlichen wurden auch am 100. Jubiläum von Michail Kalaschnikow laut. Anlässlich des Geburtstags des Waffenkonstrukteurs hatte das Bildungsministerium im Oktober 2019 Schulen bestimmte Aktivitäten empfohlen. So hatten Schüler in verschiedenen Städten AK-47-Maschinenpistolen um die Wette zusammengesetzt. Der prominente russische Psychologe Alexander Asmolow reagierte entsetzt und kritisierte:

Das Bildungsministerium verwandelt sich in ein Ministerium der Grausamkeit und Gewalt.

Alexander Asmolow, Psychologe und Bildungsexperte

Kriegsgegner macht bei Patriotismusstunde mit

Ungeachtet der eigenen Kritik an den Patriotismusstunden macht Geschichtslehrer Sergej dabei mit. "Mich hat man von diesen patriotischen Gesprächen nicht befreit." Das sei aber nicht der wichtigste Grund. "Wenn ich mich weigere, diese Gespräche zu führen, dann wird irgendein durchgeknallter Kollege kommen und die Kinder mit reiner Propaganda bombardieren. Meine Schüler will ich davor bewahren."

Seine Anti-Kriegs-Haltung sei allgemein bekannt – auch dem Schulleiter, betont der 41-Jährige. Trotzdem könne er sich im Unterricht keine direkte Kritik am russischen Krieg gegen die Ukraine erlauben. Stattdessen setze er auf Allegorien. "Ich gebe meinen Schülern Beispiele aus der Weltgeschichte, damit ihnen nach einer Weile einleuchtet, was ich sagen will." Nicht jeder Schüler verstehe seine Botschaft – das sei ihm klar. "Doch Kinder, die fähig sind, kritisch zu denken, sehen am Ende, was ich meine."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 22. Juli 2023 | 07:17 Uhr

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