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1990Bürgerrechtler besetzen die Stasi-Zentrale

17. Juni 2021, 12:02 Uhr

Die Stasi-Akten sollen vernichtet werden. So steht es im Einigungsvertrag, den Wolfgang Schäuble und Günter Krause unterschrieben haben. Für Bürgerrechtler und Stasi-Opfer ist dieser Umgang mit den Unterlagen der Stasi unfassbar.

Am späten Vormittag des 4. September 1990 betreten 30 junge Leute den Hof der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße. Sie schlendern in Richtung Haus 7, dem Bürotrakt des Zentralarchivs der Staatssicherheit, in dem die Akten von etwa vier Millionen Ostdeutschen und zwei Millionen Westdeutschen lagern, die Mielkes Überwachungsapparat über sie anfertigen ließ. Plötzlich rennen alle gemeinsam los, überrumpeln die Wachleute an der Eingangstür und stürmen in das Gebäude. Sie hetzen die Treppe hinauf in die dritte Etage. Ihr Ziel: einer der Räume, in denen die Dokumente verwahrt sind. Doch die Stahltüren lassen sich nicht öffnen. Um von den mittlerweile alarmierten Wachleuten nicht festgenommen zu werden, verbarrikadieren sich die Besetzer in einer Abstellkammer.

Wir arbeiten die Akten auf!

Wenig später wird klar, wer sie sind: Bürgerrechtler aus dem Neuen Forum, der Vereinigten Linken, der Umweltbibliothek Berlin und der "Operativen Gruppe im Staatlichen Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit", darunter Bärbel Bohley, Reinhard Schult und Ingrid Köppe. Ihre Forderung, die sie mit der Aktion durchsetzen wollen: "Wir verhindern die Vernichtung oder Überstellung der Stasiakten. Wir arbeiten sie auf, nicht der Westen!", so der Bürgerrechtler Andreas Schreier. "Und wir wollen auch nicht, dass die Westgeheimdienste an die Akten herankommen. Wir wollen nicht nur keine Stasi, wir wollen gar keine Geheimdienste mehr."

Über die Wahl des Zeitpunktes für der Aktion schrieb Wolfram Kempe später: Es war "der letzte mögliche, weil in den kommenden zwei Wochen die letzten Lesungen des Einigungsvertrages in der Volkskammer stattfinden sollten und abzusehen war, dass eine große Mehrheit der Parlamentarier der Überstellung 'unserer Akten' an das Bundesarchiv Koblenz zustimmen würde."

Debatte über den Umgang mit den Stasiakten

Über den Umgang mit den Akten der Staatssicherheit hatte es seit Beginn des Jahres 1990 heftige Debatten gegeben. Viele meinten, es sei am besten, die Unterlagen zu vernichten oder wenigstens zu verschließen, weil sie eine "Zeitbombe" darstellen und das Klima in der Gesellschaft vergiften würden. Dagegen machten vor allem Bürgerrechtler unter dem Slogan "Meine Akten gehören mir!" mobil. Sie forderten, dass jeder Einsicht in seine Akte nehmen dürfe und selbst entscheiden sollte, was künftig mit ihr geschehe. Und die Forderung der Bürgerrechtler fand auch in der Volkskammer Gehör. Vertreter aller Fraktionen stimmten mehrheitlich darin überein, dass die Aktenhinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit im Interesse der Opfer und Betroffenen geöffnet werden müsse und beschlossen das "Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit".

Die Akten für 30 Jahre verschließen

Doch nicht nur maßgebliche DDR-Politiker wie etwa Ministerpräsident Lothar de Maizière, Innenminister Peter-Michael Diestel oder Staatsekretär Günter Krause sprachen sich entschieden gegen eine Öffnung der Stasi-Akten aus, sondern auch die Bundesregierung strebte an, die Akten für 30 Jahre im Bundesarchiv in Koblenz unter Verschluss zu halten. Und so wurde die Aufnahme des Volkskammergesetzes in den Einigungsvertrag von Wolfgang Schäuble und Günter Krause, den Verhandlungsführern beider Seiten, strikt abgelehnt. Daraufhin entschlossen sich die Bürgerrechtler zu ihrer öffentlichkeitswirksamen Aktion. Eine andere Chance, sich Gehör zu verschaffen, sahen sie nicht mehr.

Hungerstreik

Eine Woche nach dem Beginn der Besetzung erhöhen sie noch einmal den Druck - sie treten in einen Hungerstreik. Die Berichterstattung in den Medien erzeugt nun eine Welle der Solidarisierung und wiederholte Versuche von Innenminister Diestel, die Stasizentrale von der Polizei räumen zu lassen, scheitern. Am 28. September schließlich verlassen die 30 Besetzer freiwillig die Normannenstraße. Sie haben ihr Ziel erreicht: In einem Anhang zum Einigungsvertrag wird der Gesetzgeber aufgefordert, ein neues Stasiunterlagengesetz zu erarbeiten.

Geheimdienstakten für jeden zugänglich

Am 3. Oktober 1990 nimmt der erste "Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen", Joachim Gauck, mit zunächst 52 Mitarbeitern seine Arbeit auf. Ein Jahr später, am 20. Dezember 1991, verabschiedet der Bundestag das vom Einigungsvertrag geforderte "Stasiunterlagengesetz". Kaum 14 Tage danach, am 2. Januar 1992, öffnet die Behörde des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR", kurz "Gauck-Behörde" genannt, ihre Türen für die Öffentlichkeit. Jeder DDR-Bürger kann jetzt einen Antrag auf Einsichtnahme in seine Akte stellen. Wegen des enormen Andrangs beträgt die Wartezeit teilweise mehrere Monate. Zum ersten Mal in der Geschichte haben nun Bürger Zugang zu den Unterlagen, die ein Geheimdienst über sie angelegt hat.

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