Langfinger auf der Leipziger MesseStasi-Langfinger auf der Leipziger Messe
Die Frühjahrs- und Herbstmesse in Leipzig war eines der wichtigsten Aushängeschilder der DDR-Wirtschaft und zentraler Platz des Ost-West-Handels. Tausende Aussteller aus der ganzen Welt präsentierten sich in den Messehäusern, die Stadt atmete internationales Flair. Es gab Waren zu bestaunen, von denen die Bürger sonst nur träumen konnten. Und das brachte so manchen auf dumme Gedanken – auch in den Reihen der Stasi.
Jedes Jahr im Frühling und Herbst weht der Duft der großen weiten Welt durch Leipzig. Es ist Messezeit. In diesem sogenannten "Schaufenster der Welt" präsentieren sich tausende Aussteller mit ihren Produkten. Produkte, die es üblicherweise in der DDR nicht gibt.
Zwischen Heimelektronik, Textilien oder Kosmetika aus dem Westen gehen den DDR-Bürgern, die massenhaft durch die Messehäuser strömen, nicht selten die Augen über. Doch beim bloßen Anschauen bleibt es oft nicht. Denn Gelegenheit macht schließlich Diebe – auch im Sozialismus.
Manfred Passenheim war damals Angestellter im Messebüro. Er erinnert sich: "Wir haben immer gehört, dass sehr viel passiert, dass sehr viel gestohlen wird und man hat dann immer gedacht, dass ist die DDR-Bevölkerung gewesen. Durch die Mangelwirtschaft vielleicht oder den Wunsch, das auch mal haben zu können."
Stasi auf der Leipziger Messe
Auch das ist ein Grund dafür, dass sich Hunderte von Stasi-Mitarbeitern unter die Besucher mischen, um die Messe abzusichern. Alles soll seine Ordnung haben, jeder Geschäftskontakt registriert und Diebstähle verhindert werden. Dumm nur, dass die Stasi-Kontrolleure wenig Erfolg haben mit ihrer Überwachung. Denn auf der Messe wird tatsächlich geklaut, und das nicht zu knapp. Aus den Ständen von West-Firmen verschwindet nahezu alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Taschenrechner, Werkzeug, Parfums, Jeans und Pelze.
Michael Goll ist Historiker an der Universität Leipzig mit dem Schwerpunkt DDR-Geschichte. Er hat sich intensiv mit den "Messedieben" beschäftigt und stellt fest: "Wir wissen ja nur von den Dingen, die zur Anzeige gebracht wurden. Wie viel tatsächlich gestohlen wurde, wissen wir nicht. Ich würde spekulieren, dass die meisten Unternehmer kleine Diebstahlhandlungen in den ersten Jahren zunächst gar nicht zur Anzeige gebracht haben."
Anzeigen bei der Volkspolizei
Denn die Firmen wollen ihre Produkte verkaufen und Geschäfte machen. Polizeiliche Ermittlungen würden da nur stören. Doch bei der Frühjahrsmesse 1980 ist bei den Ausstellern aus dem Westen das Maß voll. Am 7. März geht bei der Volkspolizei die erste Anzeige ein: Diebstahl einer italienischen Lederjacke. Nun werden es Jahr für Jahr mehr Anzeigen. Nach fünf Jahren liegen 141 Diebstahls-Meldungen vor, alles ist akkurat dokumentiert. Doch in all den Jahren bleiben die Ermittlungen der Volkspolizei erfolglos. Doch dann passiert etwas Unerwartetes.
Mafiöse Strukturen bei der Stasi
Im März 1985 kommt es in Magdeburg zu einem ungewöhnlichen Polizeieinsatz. Ein Hauptmann der Stasi wird festgenommen. Der Offizier, seit den 70er-Jahren regelmäßig auf der Leipziger Messe im Einsatz, soll mit gefälschten Schecks eingekauft haben. Nun droht dem zweifachen Familienvater eine lange Haftstrafe. Bei seiner Vernehmung überrascht er mit einem bahnbrechendem Geständnis: die jahrelang gesuchte Diebesbande der Leipziger Messe stammt aus den Reihen der Stasi.
Der Stasi-Hauptmann will seine Haut retten und lässt alles auffliegen. Er selbst, so gesteht er, ist seit Jahren Mitglied der Bande. Seine Aufgabe: als Organisator der Dienstpläne dafür sorgen, dass die Bandenmitglieder möglichst außerhalb der Öffnungszeiten der Messe eingesetzt werden - um ungestört stehlen können. Über ein Dutzend Stasi-Mitarbeiter, die eigentlich zur Sicherung der Messehäuser eingesetzt sind, stehlen in der Nachtschicht alles, was der gemeine DDR-Bürger begehrt.
Stasi ermittelt gegen Diebe in eigenen Reihen
Durch sein Geständnis ist die Sache mit den gefälschten Schecks für den Hauptmann vom Tisch, der Stasi geht es nun ausschließlich um die Diebe in den eigenen Reihen. Seine eigentlichen Kollegen sind nun seine Vernehmer - und die wollen alle Details wissen. Jetzt erlebt der Stasi-Hauptmann selbst, was es heißt, von der Staatssicherheit vernommen zu werden. Seine Wohnung wird nach Beweisen durchsucht und auch seine Familie unter Druck gesetzt.
Da sind zehn bis fünfzehn Mann mit Maschinenpistolen in die Wohnung, das war schon heftig. Alles wurde durchsucht. Für meine Mama war die Zeit sehr, sehr schwer, das muss man ganz ehrlich sagen.
Ralf H. | Sohn des Haupttäters
Sozialistische Bruderhilfe der besonderen Art
Der Druck und die Verhöre zeigen Wirkung. Innerhalb kürzester Zeit nimmt die Stasi 17 eigene Mitarbeiter aus verschiedenen Bezirksverwaltungen fest. Sie werden in einer MfS-Außenstelle nahe Magdeburg inhaftiert und einzeln vernommen. Alle packen aus, hoffen auf milde Strafen. So klärt sich schnell auf, wie es eigentlich zu den Diebeszügen auf der Leipziger Messe kam.
Der Auslöser war eigentlich, dass sowjetische Genossen auf uns zukamen und bestimmte Sachen haben wollten. Und leider kam dann der Gedanke auf, wenn du für die was besorgen sollst, warum kannst du dir eigentlich nicht selber für den Eigenbedarf etwas nehmen.
ehemaliger Stasi-Hauptmann
Ein Generalschlüssel ermöglicht nachts den uneingeschränkten Zugang zu den Messeständen. Der eigentliche Auftrag der Stasi-Leute besteht - neben üblichen Kontrollgängen zur Objektsicherung - vornehmlich darin, an westlichen Messeständen eventuell Unterlagen zu sichten und zu sichern, die für die Volkswirtschaft der DDR von Bedeutung sein könnten. Doch statt subtile Wirtschaftsspionage zu betreiben, lassen die MfS-Leute alles mitgehen, was man im DDR-Alltag gut gebrauchen kann. Im Morgengrauen wird das Diebesgut in die eigenen PKW gepackt und nach Hause transportiert.
Die Stasi: Staat im Staat
Minutiös bringen die Ermittlungen ans Tageslicht, wer was wann und wie in die eigene Tasche gesteckt hat. Und die Ermittler erkennen, warum sie bislang bei der Tätersuche immer im Dunkeln tappten. Die Stasi war gewissermaßen über ihre eigenen Machtstrukturen gestolpert. Sie hatte nämlich die Hoheit über alle anderen Institutionen im Sicherheitsapparat der DDR, also auch über die Polizei.
Historiker Goll dazu: "Die Staatssicherheit hat die anderen Sicherheitseinrichtungen mit koordiniert und hat die Einsatzpläne entwickelt und war, wenn man so will, Herr der Dinge und konnte dementsprechend auch verhindern, das Dinge bekannt wurden, die sie selbst betrafen."
Mielke kümmert sich persönlich
Und das gilt auch, nachdem die Stasi-Diebesbande enttarnt war. Offizielle Ermittlungen oder gar einen Gerichtsprozess gegen die Beteiligten wird es nicht geben. Denn was in der DDR nicht offiziell ist, gibt es auch nicht. Erich Mielke nimmt sich der Sache an und alles wird intern geklärt. Alle Beteiligten werden zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet. Zu groß ist die Angst der Funktionäre vor einem öffentlichen Skandal. In der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße wird schließlich entschieden: Für die Messeräuber gibt es lediglich Verweise und Versetzungen. Auf Haftstrafen wird verzichtet, nur der Haupttäter muss die Stasi verlassen. Wie hoch letztlich der Schaden war, ist bis heute nicht bekannt. Die Akten der BStU enthalten dazu keine Angaben.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:MDR Zeitreise | 25.10.2020 | 22:20 Uhr