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Walter Ulbricht: Der Naturbursche

29. Dezember 2020, 17:57 Uhr

In den Bergen soll Walter Ulbricht "ein anderer Mensch gewesen" sein. Seine Wanderjahre beschreibt er als die "glücklichsten" seines Lebens. In einem Buch hat sein Ur-Enkel Florian Heyden den Politiker außen vor gelassen und persönliche Seiten des späteren SED-Chefs gesucht.

von Johanna Weinhold

Schon in frühen Kindheitsjahren ist Walter Ulbricht sehr naturverbunden. Vater Ernst kennt alle Bäume und Vögel und sonntags wandert die Familie ins Leipziger Umland. Schon zu Schulzeiten zieht es Walter lieber raus zum "Räuber und Gendarm"- oder "Trapper und Indianer"-Spielen. Mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft stromert er in der Gerberstraße umher, am Flussbett der Parthe am Tröndlinring oder in der Parkanlage Rosental. Im Winter läuft er, wie alle Kinder, Schlittschuh. Die Liebe zum Winterspor hält ein Leben lang. Er gibt sie auch an seine Tochter Dora weiter.

"Räuber und Gendarm" statt Mathe und Deutsch

Walter Ulbricht zieht es nach draußen. In dem Buch "Mein Ur-Großvater Walter Ulbricht" von Florian Heyden, kann man nachlesen: "Später notiert er, er hätte lieber Fußball gespielt, als gelernt." Aber die Mutter ist streng. Er darf erst raus, wenn die Hausaufgaben erledigt sind. Im Mai 1907 beginnt Walter Ulbricht seine Lehre als Tischlergesell. Freizeit hat er wenig. Die Arbeitszeiten in der Werkstatt in der Dorotheenstraßen gehen von 6 Uhr bis 19 Uhr. Doch an den Wochenenden zieht es Ulbricht ins Leipziger Umland, was er schon von seiner Kindheit gut kennt.

Wanderjahre als "die glücklichsten Jahre"

Nach dem Ende der Tischlerausbildung 1911 geht Walter Ulbricht auf Wanderschaft. Begleitet wird er durch seine Freunde Otto Heyden und Alfred Arnhold. Die Tippelei startet ab Dresden, in Richtung Elbsandsteingebirge. Weiter geht es mit dem Schiff nach Österreich, zurück über Teplitz nach Karlsbad. Von Dort Richtung Fichtelgebirge, Nürnberg, München, Starnberg, Garmisch. Hier bleiben die drei Gesellen eine Weile.

Die beiden gehen Klettern. Otto fasst einen Steinvorsprung um sich hinaufzuschwingen, aber so wie er ihn erfasst, fällt er herunter ein zweiter stürzt hinterher. Er ruft nach unten: 'Walter duck dich aber schnaks! Geh auf die Seite!' Von unten ruft Walter 'Was hast denn Du? Gottverdammich, ich kann sie kaum halten!' Kaum ist Walter außer Schußweite als auch schon beide Steine polternd (...) zu Thale stürzen: 'Wie währe es geworden, wenn ich nicht fest gewesen währe? Gewiß nicht gut für alle beide.' Danach werden die beiden vorsichtiger. Walter hatte genügend zu tun um den Gesteinen aus dem Wege zu gehen.

Aus dem Tagebuch von Otto Heyden 1911/12

Ulbricht: Weltreisender seiner Zeit

Florian Heyden hat das Wandertagebuch von seinem anderen Ur-Großvater Otto Heyden durchgelesen. In einer Passage beschreibe Otto, wie er mit Walter ungesichert durch die Alpen klettere und sie sich nachts den Mond anschaue. "Das ist menschlich wirklich Schöngeistig - da ist irgendwas, was mich berührt", sagt Florian Heyden.

In Turin ist Weltausstellung. Wenn wir nicht von Venedig aus nach Ägypten können, dann über die oberitalienischen Seen nach Mailand und Turin.

Tagebucheintrag Otto Heyden von 1911

Doch es zieht die drei weiter Richtung Venedig, wo die Walzbrüder tatsächlich ankommen. Allerdings ohne Alfred Arnhold. Der darf als "Ausgehobener des Militärs" nicht Ausreisen aus dem Kaiserreich.

... Fruchtverkäufer, randalierende Bengel, stöckelschuhbehackte tändelnde Damen und keine Wagen - wie traumhaft wirkt das alles auf den Fremdling.

Die Naturfreunde und Karl Liebknecht

Der Besuch in Venedig ist nach zwei Tagen vorbei - sie finden keine Unterkunft und müssen sich eine Nacht von der Polizei in Schutzhaft nehmen lassen, um überhaupt ein Dach über den Kopf zu haben. Die verbliebende Zeit der Wanderjahre verbringt Walter in der Schweiz, um dann im Herbst 1912 über einen Umweg zieht es ihn zurück nach Leipzig, wo seine Freundin Martha wartet.

Walter hängt sehr an der Natur. In den Jahren seiner Wanderschaft hatte er sich sehr mit ihr verbunden, und hatte er nur einen Tag frei zwischen zwei Nächten Eisenbahnfahrt, zogen wir los. Das Bergsteigen war sein Lieblingssport, und nach dem mühsamen Steigen war er - wenn oben angelangt - ein anderer Mensch.

Rosa, zweite Frau von Walter | Aus: Florian Heyden - Mein Ur-Großvater Walter Ulbricht

Walter Ulbricht zieht wieder zu seinen Eltern und auch Tippeleifreund Otto Heyden wird  bei Ulbrichts heimisch. Beide haben regen Kontakt zu den Naturfreunden, die sich 1911 in Leipzig gegründet haben, um "gemeinsam in der Natur zu wandern, sie zu erleben und so den Gemeinsinn, die Solidarität untereinander zu fördern". Im April 1916 findet unter dem Deckmantel der Naturfreunde in Jena ein "konspiratives Treffen der sozialistischer Jugendgruppen" statt. Unter den Naturfreunden sind auch die Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht aus Berlin und Otto Rühle aus Dresden.

Über das BuchJahrelang war Florian Heyden unterwegs und hat in deutschen, russischen, amerikanischen und britischen Archiven recherchiert, Fachleute und Familienangehörige konsultiert, um sich selbst ein Bild von Walter Ulbricht, seinem Urgroßvater, zu machen. Aus dem Erfahrenen webt er einen aufschlussreichen Text. Er verknüpft die Geschichte seiner Familie mit der Geschichte eines Politikers. Ulbrichts Geschichte endet im Buch 1945, mehr als dreißig Jahre, nachdem er Martha Schmellinsky in Leipzig kennengelernt hatte. Die beiden haben eine Tochter. Dora heiratet den Sohn von Walters Freund Otto Heyden, mit dem dieser auf Wanderschaft war. Und die beiden Heydens wiederum setzen in Lübeck einen Sohn in die Welt - den Vater des Autros Florian Heyden.


Florian Heyden: Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater. Verlag edition ost. ISBN 978-3-360-01893-9.

Naturfreunde, FDJ und Landwirtschaftsprojekt

Die Naturfreunde sind während der Zeit der Nationalsozialisten verboten. Mitglieder wurden verfolgt, die Naturfreundehäuser beschlagnahmt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges scheitern mehrere Versuche, wieder als aktiver Verein tätig zu sein. Die Naturfreunde müssen sich auf die Organisationen FDJ, BSG und dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands aufteilen. Walter Ulbricht war es dann auch, der mit der FDJ das erste Landwirtschaftsjugendprojekt der DDR - "Ab in die Wische" - vorschlug. Hier half die Jugend bei der sozialistischen Umgestaltung der altmärkischen Wische.

Rückzug in den Bergen

"Er war auch gerne Skifahren. Martha hat sich später vom Munde abgespart, dass ihre Tochter Dora mit den Naturfreunden Berchtesgadener Land Ski fahren kann. So wie der Papa", erzählt Ur-Enkel Heyden. Das erste Mal ist Ulbricht meiner seiner ersten Frau Martha und der Tochter Dora in den Alpen, als diese fast vier Jahre alt ist. Die Naturfreunde im Berchtesgadener Land haben sie eingeladen. Zu den hatte Ulbricht seit seiner Zeit als Wandergesell immer noch Kontakt.

Auf den Krottenkopf zum Sonnenaufgang unter Führung Garmischer Naturfreunde. Pünktlich 5 vor 10 Uhr sind die beiden am Treffpunkt – aber die Naturfreunde nicht. Warten bis halb elf. Es will sich niemand sehen lassen. Endlich um 11 Uhr haben die Jungen einen aufgegabelt. Es wird halb Mitternacht. Nun nach Partenkirchen. Um Mitternacht gehen sie auf St. Anton. Sie sind froh, überhaupt jemand erwischt zu haben, der mit ihnen geht. Sie gehen in die dunkle Nacht hinaus, einem unbekannten Ziele zu. Eine Laterne wird angezündet. Über ihnen funkelt der klare Nachthimmel. Im Tal leuchten die Lichter von Garmisch und in der Ferne liegt eine dunstig kohlschwarze Masse, die Berge.

Aus dem Tagebuch von Otto Heyden 1911/12 | über ihren Besuch bei den Garmischer Naturfreunden

Auch seine zweite Frau Rosa nimmt er oft mit in die Natur: Walter Ulbricht zeigt Rosa "die Pracht der Bergstraße, zur Zeit der Kirschblüte". Die beiden sind zusammen "in Schierke und auf dem Brocken im Sommer und im Winter, zu Fuß und auf Ski". Und tatsächlich hat Ulbricht später versucht, seine Liebe zum Wintersport auch in der DDR umzusetzen. Für Oberhof plante er in den 1960er Jahren Seilbahnen. Ulbricht sagte damals: "Oberhof wird das St. Moritz der DDR."

Gemeinsam wandern sie durch die Berge, wie Martha berichtet: Wimbachklamm, Münchener Haus, Watzmann, St. Bartholomä, Königssee und Almbachklamm.

Martha, erste Frau von Walter Ulbricht | Aus: Florian Heyden - Mein Ur-Großvater Walter Ulbricht

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:MDR Die Wische - Ulbrichts blühende Landschaften | 25.06.2019 | 21 Uhr

Anmerkung der Redaktion zum Änderungsstand 29.12.2020, 17:57 Uhr: Dieser Text ist keine Würdigung des Politikers Walter Ulbricht. Sondern befasst sich mit der Recherche seines Ur-Enkels zu dessen eigener Familiengeschichte. Diese bisher im Text deutlich enthaltene Information, steht nun auch im Vorspann.

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