Die Seefahrernation DDR
Seit Anfang der 1970er-Jahre gehörte die DDR zu den bedeutendsten Seefahrernationen der Welt. Kein anderes europäisches Land hatte ein so weit verzweigtes Netz von Handelsrouten.
Die Geschichte der DDR-Handelsschifffahrt begann 1950 mit der Ausfahrt der "Vorwärts", eines altersschwachen Frachters, den Stralsunder Werftarbeiter in monatelanger Arbeit wieder einigermaßen flott gemacht hatten. Die "Vorwärts" war eines von drei Schiffen, das die Sowjets nach Kriegsende nicht als Reparation in die Heimat mitgenommen hatten. Entweder waren die schrottreifen Pötte von ihnen schlicht übersehen worden oder deren Zustand schien ihnen so jämmerlich, dass sie einen Abtransport für nicht mehr lohnenswert hielten. Neue Schiffe zu bauen, gestattete die Besatzungsmacht vorerst noch nicht.
Fischen gegen den Hunger
Doch auch einen Großteil der Fischereifahrzeuge hatte die Rote Armee in die Sowjetunion abtransportiert. Gleichwohl diktierte sie im Januar 1946 den Fischern an der Ostseeküste, "für die Versorgung der deutschen Bevölkerung und der Roten Armee" zu sorgen. Auf den wenigen verbliebenen Kuttern fuhren stets bewaffnete Rotarmisten mit, die die Erfüllung des Fangsolls überwachten. Und selbst das kleinste Boot musste eine internationale Signalflagge mit einem großen "C" führen – das "C" stand für "Capitulation". Die Arbeitsbedingungen der Fischer war hart: "Bei minus 20 Grad froren die Fische steif, kaum dass wir sie an Deck hatten. Dann haben wir sie in den nicht ganz so frostigen Betriebsgang gebracht und dort geschlachtet. Aber auch die Schiffe vereisten mitunter gefährlich", erinnerten sich Küstenfischer an die Anfangsjahre.
"Keine Seefahrernation"
Während die Fischer an der Ostsee unter schwierigsten Bedingungen um die Erfüllungen der Norm kämpften, diskutierte die Parteiführung über die Möglichkeit, eine Seeschifffahrt aufzubauen. Das Finanzministerium beschied allerdings bündig, die Sache werde sich nicht rentieren, die DDR sei "keine Seefahrernation". Die SED hielt dagegen: Die Einnahmen würden in kurzer Zeit die Investitionen bei weitem übertreffen. Auf ihrem 3. Parteitag entschied sie daher, umgehend eine leistungsfähige Handelsflotte zu schaffen. Und so vermerkte der erste "Fünf-Jahr-Plan" (1951-1955) folgerichtig: Fertigstellung von 22 Handelsschiffen "zur Sicherung der Überseetransporte für unseren Außenhandel".
Heimisch auf den Weltmeeren
Die ersten neu gebauten Dampfer des 1952 gegründeten VEB Deutsche Seereederei Rostock (DSR) schipperten zunächst entlang der Ostseeküste – sie holten Steinkohle aus Polen, Erz aus der UdSSR oder Maschinenteile aus Schweden. 1954 verließ erstmals ein Dampfer die Ostsee – seine Fahrt führte ins Mittelmeer. Drei Jahre später schließlich war die DSR-Flotte bereits auf fast allen Weltmeeren heimisch. Und auch die Anzahl der Schiffe war kontinuierlich gestiegen – bis 1964 auf immerhin 111. Politisch hatte die SED-Führung die Republik von der westlichen Welt weitestgehend abgeschottet, auf internationalen Handel war das rohstoffarme Land gleichwohl dringend angewiesen.
Fischfabriken auf hoher See
Doch auch die Fischereiflotte war in den 1950er-Jahren auf modernsten Stand gebracht worden. Die Fischer warfen ihre Netze schon längst nicht mehr nur in der Ostsee aus, sondern vor New York, der afrikanischen Küste und in der Antarktis. 1960 liefen auf der "Mathias-Thesen-Werft" in Wismar die ersten Fang– und Verarbeitungsschiffe vom Stapel. Ein Meilenstein auf dem Weg zum industriellen Fischfang. Die Fangschiffe konnten jahrelang auf hoher See bleiben, ohne Häfen anzulaufen zu müssen, um entladen zu werden. Eine Flotte von Verarbeitungsschiffen war unentwegt im Einsatz, um den Fang in die Häfen der DDR zu bringen.
Die DDR – eine Seefahrernation
Mitte der 1970er-Jahre gehörte die DDR zu den wichtigsten Seefahrernationen der Welt. Mehr als 10.000 Seeleute waren auf den insgesamt 203 Schiffen der Deutschen Seereederei unterwegs, die die Häfen in über 100 Ländern anliefen. Kein anderes europäisches Land hatte ein so weitverzweigtes Netz von Routen. Es waren die glanzvollsten Jahre der DDR-Seefahrt. Und der Beruf des Seemanns bei der Handelsflotte zählte zu den begehrten im ummauerten Land: Man verdiente überdurchschnittlich und kam herum: "Wenn wir den Rostocker Hafen verließen, war das ein erhebendes Gefühl", beschreibt ein Seemann seine damalige Stimmung. "Die DDR lag im Rücken und vor uns die Welt."
Tintenfische gegen Makrelen
In den 1980er-Jahren aber kam schleichend der Niedergang der stolzen Seefahrernation. Zuerst bemerkten das die Hochseefischer – die Meere waren schlicht leergefischt und die Erträge halbierten sich im Vergleich zu den 1970er-Jahren. Die einst so lukrative Hochseefischerei drohte zur Subventionsfalle zu werden. Verzweifelt suchte man nach Auswegen. "Fangt Tintenfische" hieß nun beispielsweise eine Order der Partei.
Tintenfische gab es vor Afrikas Küsten nämlich im Überfluss. Und der Umstand, dass in der DDR niemand Tintenfische essen wollte, fiel nicht weiter ins Gewicht, da die Meerestiere gegen Heringe und Makrelen in Skandinavien "getauscht" werden konnten. Später fischte die Hochseeflotte der DDR dann auch Tintenfische im Auftrag anderer Länder, die nicht so viele Schiffe besaßen. Aber rentabel waren diese Geschäfte keineswegs. Die Fischereiflotte musste jedes Jahr mit Millionen subventioniert werden.
Die Handelsflotte kommt in die Jahre
Doch auch die mächtige Handelsflotte hatte im letzten Jahrzehnt der DDR heftige Probleme. An vielen Schiffen nagte der Zahn der Zeit und sie galten mittlerweile als ineffektiv – sie verbrauchten viel zu viel Treibstoff, die Motoren fielen häufig aus und Ersatzteile waren Mangelware. Nur mit viel Improvisationsvermögen und Kreativität konnten die Besatzungen ihre Kähne überhaupt in Betrieb halten. "Obwohl laufend von der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gesprochen wurde, gab es deutliche Anzeichen des Niedergangs", erinnert sich ein Matrose der Handelsflotte. "Rationalisierungen und der Neuerwerb von Schiffen war in weite Ferne gerückt. Die Kähne wurden auf Verschleiß gefahren."
Verschrottung der DDR-Seeflotte
Am 3. Oktober 1990 wurde auf allen Schiffen die DDR-Flagge eingeholt und die der Bundesrepublik aufgezogen. Es war das Ende der ostdeutschen Seefahrtgeschichte. Bleiben sollte von ihr fast nichts: Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Schiffe der Fischerei- und Hochseeflotte der einstigen DDR in den kommenden Jahren verkauft oder verschrottet, die Mehrzahl der Seeleute ging in die Arbeitslosigkeit. So verloren von den etwa 4.000 Hochseefischern mehr als 3.600 ihren Job. Ein alter Fahrensmann, der Matrose Klaus Oschlies, beschrieb jene Jahre so: "Noch nie zuvor hatte es das gegeben, dass eine so bedeutende Flotte in nur zwei Jahren samt Seeleuten 'versenkt' wurde. So was war nur bei großen Seeschlachten passiert."
(Quelle: Andreas Biskupek, Olaf Jacobs: "DDR ahoi! Kleines Land auf großer Fahrt"; Mitteldeutscher Verlag Halle, 2010)
(Zuerst veröffentlicht am 25.05.2010)
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV:MDR ZEITREISE Spezial: DDR ahoi - Seefahrt im Osten | 06.01.2019 | 22:00 Uhr