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Das Plattenbaugebiet Suhl-Nord soll bis 2025 nahezu vollständig rückgebaut werden. Bildrechte: imago/Bild13

PlattenbausiedlungenEinwohnerschwund: Was tun mit der leerstehenden "Platte"? Suhl geht eigene Wege

04. Januar 2023, 10:38 Uhr

Seit der Wende verzeichnen viele ostdeutsche Städte einen starken Einwohnerrückgang. Das zeigt sich auch in den einst so begehrten Plattenbau-Siedlungen der ehemaligen DDR. Besonders hart trifft es die südthüringische Stadt Suhl.

von Max Beuthner

Ostdeutschland ist seit der Wiedervereinigung von starken Einwohnerrückgängen sowie einer rapiden Alterung der Bevölkerung betroffen. Lebten 1991 noch gut 14 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern, sind es heute nur noch 12 Millionen. Bis zum Jahr 2005 war der Einwohnerschwund flächendeckend, sagt der Stadtforscher Prof. Dr. Frank Eckardt von der Bauhaus-Universität in Weimar. Erst danach habe sich die Lage zumindest in einigen Städten stabilisiert. Dies hatte laut Eckardt drei Ursachen. "Zum einen ist die Geburtenrate sehr stark gefallen, dann haben viele Bewohner die Plattenbaugebiete verlassen, um sich den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Es kam zur Suburbanisierung. Die Leute sind vor die Stadt gezogen. Außerdem sind viele Menschen für die Ausbildung oder auf der Suche nach Jobs in den Westen abgewandert."

Plattenbaugebiete wie Halle-Neustadt erlebten nach der Wiedervereinigung einen starken Einwohnerschwund. Während hier 1980 noch knapp 90.000 Menschen lebten, waren es 2019 nur noch 45.000. Bildrechte: imago/epd

Laut Eckardt verstärken sich derartige Entwicklungen gegenseitig: "Je weniger gutausgebildete Menschen da bleiben, desto weniger Nachfrage nach Wohnraum gibt es auch." Viele Städte seien in einen Teufelskreis gekommen, der nur schwer zu verlassen war. Solche Orte wollen sich seit Jahren "gesund schrumpfen", was den Rückbau von leerstehenden Plattenbauten zur Folge hat. Im Rahmen des "Stadtumbau Ost" wurden so zwischen 2001 und 2018 bereits 370.000 Wohnungen abgerissen.

Diese Städte haben so massiv an Einwohnern verloren, dass es letztlich an allen Ressourcen fehlte, um gegenzusteuern. Sowohl personellen als auch finanziellen Ressourcen. Zudem war eine gewisse Orientierungslosigkeit vorhanden.

Prof. Dr. Frank Eckardt, Stadtforscher

In Suhl verschwindet ein komplettes Wohngebiet

Als Extrembeispiel für eine solche negative Entwicklung kann die südthüringische Stadt Suhl dienen, die zu DDR-Zeiten noch boomte. Seit der industriellen Revolution hatte sich die Stadt stetig weiterentwickelt und an Einwohnern dazugewonnen. In der DDR wurde Suhl schließlich zur Bezirkshauptstadt erhoben und industriell weiter ausgebaut, Jahr für Jahr zogen neue Menschen dorthin. 1989 erreichte Suhl mit 56.000 Einwohnern seinen historischen Höchststand.

Das Wohngebiet Suhl-Nord von oben. 1990 wohnten hier knapp 13.000 Menschen Bildrechte: IMAGO / fossiphoto

Um Platz für die neuen Bewohner zu schaffen, wurde ab 1978 das Plattenbaugebiet Suhl-Nord erbaut, welches sich im Eiltempo zum größten Wohnviertel der Stadt entwickelte. Bis zum Jahr 1990 sollten hier knapp 13.000 Menschen leben. Doch nach der Wiedervereinigung wendete sich das Blatt – Arbeitsplätze gingen verloren, viele Menschen wanderten ab. "Suhl hatte eine relativ schwache wirtschaftliche Position im Jahr 1990 mit Industrien, die nicht so schnell an den freien Weltmarkt anschlussfähig waren. Dazu kam die Ratlosigkeit im Umgang mit dieser Situation und dann auch die fehlenden Ressourcen, um neue Wege zu gehen", so Eckardt. Bis zum Jahr 2021 sank die Einwohnerzahl von Suhl auf 36.000.

Suhl-Nord wird fast komplett zurückgebaut

Die Folge waren hohe Leerstandsquoten und ein unvermeidbarer Rückbau des Viertels ab 2001, welches nun als CO2-neutrales Gewerbe- und Forschungsgebiet mit den Schwerpunkten Holzwirtschaft und Photovoltaik umgenutzt werden soll.

"Meiner Einschätzung nach waren die Stadtplaner sehr unter Zugzwang, eine finanzielle Nachhaltigkeit dieser Wohnsituation zu schaffen. Betriebswirtschaftlich kann man es kaum rechtfertigen, großflächig leerstehende Gebäudekomplexe am Leben zu halten, wenn man nicht zumindest mittelfristig sagen kann, dass sich die Situation irgendwann ändert", meint Eckardt. Die Pläne der Stadt für das Viertel lobt der Sozialwissenschaftler. "Das sind schon die richtigen Ansätze und man kann davon ausgehen, dass es einen gewissen stabilisierenden Effekt hat."

Es wird eine konstruktive Antwort auf das Problem geplant. Das sind Programme, die man sich so eigentlich schon vor 20 Jahren gewünscht hätte. Vielleicht hätte man den Abriss damit langfristig verhindern können.

Prof. Dr. Frank Eckardt, Stadtforscher

Situation in vielen Plattenbaugebieten stabil

Auch andere Plattenbaugebiete Ostdeutschlands waren nach der Wende von enormer Abwanderung betroffen. Die Lage in Suhl sei allerdings kein allgemeingültiges Beispiel, weiß Peer Pasternack, Direktor des Institutes für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In seiner Arbeit befasst sich der Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker mit Plattenbauten.

"Inzwischen liegen die Leerstandsquoten in fast allen ostdeutschen Plattenbaugebieten bei 15 Prozent. Das ist normal. Diesen Leerstand kann jede Wohnungsgesellschaft verkraften. Die braucht man auch aus Flexibilitätsgründen." Dies zu erreichen, sei vielerorts allerdings auch nur durch den Abriss von Wohneinheiten gelungen. "Der Leerstand wäre heute sicherlich höher, wenn man nicht Anfang der 2000er angefangen hätte, Blöcke abzureisen. Das wurde aber gegen 2012 eingestellt, weil man merkte, dass man die preiswerten Wohnungen braucht."

Plattenbauten profitieren vom Wohnungsmarkt

Inzwischen werde stark in die Wohnanlagen investiert, so Pasternack. "Viele Plattenbaugebiete wurden massiv baulich aufgewertet. Der Komfort wurde erhöht, zum Beispiel durch eine verbesserte Wärmedämmung, Grundrissveränderungen oder den Einbau von Fahrstühlen." So komme es aktuell nur noch selten zu Abrissen ganzer Blöcke. "Teilweise werden Blöcke noch abgetragen, d.h. die Etagenzahl reduziert, um das Wohnumfeld zu verbessern."

Man merkt schon, dass die Plattenbaugebiete durch den derzeit angespannten Wohnungsmarkt profitieren.

Peer Pasternack, Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker

Ob das jedoch zu einer dauerhaften Auslastung der Wohnsiedlungen führt, sei unklar. Der Grund hierfür liegt bei den derzeitigen Bewohnern dieser Siedlungen. "Zum einen leben dort Menschen, die Teil der Erstbezugs-Generation waren. Dann leben dort auch deren Kinder und Menschen, die nach 1990 aus Preisgründen dorthin gezogen sind." Erst nach dem Ableben dieser Gruppen werde sich zeigen, inwiefern die Plattenbauten weiter benötigt werden. "Dann müsste Neuzuzug stattfinden", meint Pasternack. "Das ist derzeit schwer zu prognostizieren. Es hängt davon ab, wie angespannt die Wohnungsmärkte bis dahin sind."

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Exakt - Die Story | Arm in der Platte. Reich in der Villa | 30. November 2022 | 20:45 Uhr