Was wussten die Weimarer Bürger vom KZ Buchenwald?
Von 1937 bis 1940 wurden die Toten von Buchenwald von der SS in das Krematorium des Weimarer Zentralfriedhofs geschafft und dort verbrannt. Insgesamt waren es mindestens 3.500 Leichname. Das enthüllen die sogenannten "Leicheneingangsbücher" des Zentralfriedhofs - ein bislang wenig beachtetes Zeitdokument, das nun von der MDR ZEITREISE-Redaktion ausgewertet wurde. Die Aufzeichnungen legen nahe, dass viele Weimarer von Anfang an von den unmenschlichen Zuständen im KZ Bescheid wussten.
Der 16. April 1945 war ein sonniger, warmer Frühlingstag. Seit einer guten Woche herrschte Frieden. Auf Befehl der Amerikaner mussten 1.000 Weimarer Bürger an diesem Tag das KZ Buchenwald besichtigen. Die amerikanischen Soldaten führten die Weimarer an Leichenbergen vorbei, in die Häftlingsbaracken und schließlich auch zu den Öfen des Krematoriums. Die Bürger der damaligen thüringischen Landeshauptstadt waren schockiert. Sie weinten, schauten apathisch vor sich hin, schüttelten immer wieder die Köpfe oder drehen sich demonstrativ weg, um das Grauen nicht sehen zu müssen.
Was wussten die Weimarer vom KZ?
Viele Weimarer behaupteten - wie die meisten Deutschen - immer wieder: Konzentrationslager? Davon haben wir nichts gewusst! Und erst recht nichts davon, was in ihnen passiert war. Dabei ist es nur wenig plausibel, dass sie von dem KZ vor den Toren der Stadt nichts gewusst haben wollen. Vielleicht ahnten sie aber, was auf dem Ettersberg geschah? Im April 1945 jedenfalls musste es ihnen spätestens klar geworden sein, als Tausende Häftlinge des Konzentrationslagers auf einen Todesmarsch geschickt worden. Aber nicht auch schon vorher?
Die MDR ZEITREISE hat im Stadtarchiv Weimar Dokumente ausfindig gemacht, die belegen, dass etliche Bürger Weimars von den grauenhaften Verhältnissen im KZ gewusst haben müssen. Und zwar schon seit Ende der 1930er-Jahre. Bei den Dokumenten handelt es sich um sogenannte "Leicheneingangsbücher" des Weimarer Hauptfriedhofs.
Stille Zeugen der Nazi-Verbrechen
Eine halbe Stunde dauerte die Fahrt vom Konzentrationslager Buchenwald hinunter nach Weimar. Hunderte Male sind die Lastkraftwagen der SS die knapp 13 Kilometer lange Strecke gefahren - ins Krematorium des Weimarer Hauptfriedhofs. Verpackt in Holzkisten, lieferte die SS seit Ende 1937 die Toten von Buchenwald auf dem Hauptfriedhof ab. Drei Jahre lang. Insgesamt sind mehr als 3.500 Leichen dokumentiert. Jeder Tote wurde vor dem Weg ins Feuer in den "Leicheneingangsbüchern" penibel erfasst.
Diese Bücher sind Zeugnisse einer beklemmenden Routine. Denn den Umgang mit den Toten von Buchenwald mussten die Weimarer Stadtangestellten schnell lernen. "Die Friedhofsmitarbeiter heben die KZ-Häftlinge in den Büchern hervor, indem sie einen roten Stift für sie verwenden und als deren Herkunft nicht zivile Wohnadressen in Weimar eintragen, sondern 'K.L.' für Konzentrationslager", erklärt Jens Riederer, Direktor des Stadtarchivs Weimar. Im September 1937 gehen die Mitarbeiter aber schon dazu über, die Häftlinge nur noch mit roten Kreuzchen zu versehen. Wenig später sind es schon so viele Häftlinge, dass man eine eigene Liste für sie anlegt. 1938 und 1939 wurden dann täglich Leichen von der SS angeliefert. KZ-Häftlinge machten bis zu 90 Prozent aller kremierten Leichen aus.
KZ zunächst ohne eigenes Krematorium
Natürlich hätte die SS lieber ein eigenes Krematorium im KZ betrieben, doch dieses Recht stand zum Zeitpunkt der KZ-Gründung 1937 ausschließlich den Städten und Gemeinden zu. Noch bevor das KZ Buchenwald überhaupt in Betrieb genommen wurde, hatte die SS daher mit den Verantwortlichen der Stadt Weimar im Sommer 1937 die Modalitäten der Einäscherung von Häftlingen fixiert. Man war unter anderem übereingekommen, dass verstorbene Häftlinge das billigste Begräbnis erhalten - eine Feuerbestattung, um Sarg und Leichenhemd einsparen zu können. "Wenn sie das Leichenhemd einsparen, sehen sie die nackte Leiche", sagt Stadtarchiv-Chef Jens Riederer. "Die Mitarbeiter des Friedhofs sahen also immer wieder die abgemagerten Hungerleichen, die später von der SS angeliefert wurden."
Keine Fragen, keine Erklärungen
1938 bereits transportierte die SS etwa 800 jener ausgemergelten Leichen ins Weimarer Krematorium - immerhin ein Zehntel der im KZ registrierten Gefangenen. Die städtischen Behörden schien die hohe Sterblichkeitsrate im KZ Buchenwald nicht weiter gestört oder verwundert zu haben. Keiner der Beamten stellte Fragen oder forderte gar Erklärungen von der SS oder der Lagerleitung. Alle schwiegen und erledigten Tag für Tag ganz selbstverständlich ihre Arbeit - die städtischen Beamten und auch die Mitarbeiter des Zentralfriedhos.
Ein neuer großer Ofen für die KZ-Leichen
1938 machte man sich in der Stadt Weimar darüber Gedanken, wie die Zusammenarbeit mit der SS künftig gestaltet werden könne. Die Öfen des Krematoriums waren nämlich zerschlissen und die SS lieferte immer mehr Leichen. Eine Lösung musste gefunden werden. "Und da dachte die Stadt darüber nach, dass sie sich einen neuen Ofen kaufen muss, um diesen Leichenmassenanfall zu bewältigen", erzählt Jens Riederer. In einem Eilverfahren entschied der Stadtrat am Heiligen Abend 1938, einen neuen Ofen anzuschaffen, obwohl dafür eigentlich keine Haushaltsmittel vorhanden waren. Wenig später sprach der Stadtrat auch mit der Lagerleitung in Buchenwald über dieses Problem. Und weil die SS glaubhaft eine permanente und hohe Lieferung von Leichen zusichern konnte, entschied der Stadtrat, nicht nur einen neuen, sondern auch einen möglichst geräumigen Ofen anzuschaffen.
Geruch verbrannter Hungerleichen in Weimar
Mit dem Bau des Ofens wurde die Erfurter Firma "Topf & Söhne" betraut. Nur sie konnte versprechen, die gemeinsam mit der SS kalkulierten 1.200 "Hungerleichen" pro Jahr auch schnell und effizient beseitigen zu können. Ein halbes Jahr später ging der neue Ofen auf dem Weimarer Zentralfriedhof "in Betrieb". Die SS hielt sich an ihre Zusage und schaffte eine kontinuierlich steigende Zahl toter Häftlinge ins Krematorium. Der neue Ofen machte sich also schnell bezahlt. Ein Problem allerdings gab es nun: Es stank bestialisch in der Klassikerstadt. "Im kollektiven Gedächtnis der Stadt ist dieses stinkende, rauchende Krematorium präsent", sagt Archivar Jens Riederer. Und er erklärt, warum es so fürchterlich stank - weil die Leichen aus Buchenwald nicht kremiert werden konnten. "Im Ofen wird eine Umgebungstemperatur erzeugt, die also extrem hoch ist und dann entzündet sich die Leiche selbst", erläutert Jens Riederer. "Und das, was sich zuerst entzündet, ist Fett. Eine Leiche braucht Fett, um von innen heraus zu verbrennen."
Die Toten aus Buchenwald aber waren abgemagert. Sie hatten keine Fettpolster und konnten nicht kremiert werden. Aus diesem Grund feuerten die Angestellten des Krematoriums mit Gas nach und die Leichen wurden regelrecht verbrannt. Eine Prozedur, die Gestank und Rauch erzeugt. "Und das hat man in der Stadt gerochen. Man hat gemerkt, dass das kein normaler Krematoriumsbetrieb ist", so Jens Riederer.
Eigenes Krematorium im KZ Buchenwald
An dem Gestank, der nun fast täglich über der Stadt waberte, störten sich die Weimar. Doch öffentliche Fragen oder gar Proteste blieben aus. Man arrangierte sich. Und so beendete diesen Zustand nicht etwa die Bürgerschaft, sondern die SS selbst. Denn 1940, es war Krieg und gewissermaßen Ausnahmezustand, durfte sie endlich ihre eigenen Verbrennungsöfen direkt im KZ Buchenwald errichten. Zunächst ließ die SS stationäre Verbrennungsöfen aufstellen, sogenannte Kadaververbrennungsöfen, wie sie in der Landwirtschaft Verwendung fanden. Dann installierte die Firma "Topf & Söhne" Verbrennungsanlagen, die speziell für die Bedürfnisse der SS konzipiert waren. Im Keller des Krematoriums, in dem sich auch die Hinrichtungsstätte befand, wurden die Leichen gesammelt und mit einem Aufzug in den Verbrennungsraum gebracht. In den Öfen konnten ohne Unterbrechung mehrere Leichname gleichzeitig verbrannt werden. Und das Feuer ging nie aus. Die Arbeit im Krematorium verrichteten Häftlinge. Wenn der Wind ungünstig stand, legte sich der Gestank aus dem Krematorium in Buchenwald wie Nebel über die schöne Stadt Weimar.
Weimar testet Ofen mit KZ-Leichen
Dort stritten die Stadtvertreter mit dem Ofenbauer noch lange Zeit über diverse Qualitätsmängel. Der Brennstoffverbrauch sei entschieden zu hoch, monierte die Stadt. Die Firma versprach Verbesserungen. "Mit Topf & Söhne machte die Stadt drei Versuchsreihen und man verglich immer 'Fettleichen' und Magerleichen aus Buchenwald", erzählt Jens Riederer. "Sie wählten also bewusst KZ-Leichen, um ihren Ofen zu testen. Als wäre das etwas Normales und als hätten sie ein Recht darauf, das fortzuführen. Es geht gar nicht mehr darum, dass das getötete Menschen sind, sondern das sind Nummern, die den Ofen am Laufen zu halten haben. Und das ist schon bedrückend und beklemmend."
Dieser Artikel wurde 2020 erstmals veröffentlicht.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 22. Januar 2023 | 22:20 Uhr