8. November 1923Der Hitlerputsch von München: Gründungsmythos der Nazis
Am 8. November 1923 will Adolf Hitler mit einem Militärputsch die Macht in Bayern an sich reißen. Doch der Putsch wird schnell niedergeschlagen. Hitler wird wegen Hochverrats angeklagt und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt - ein ausgesprochen mildes Urteil. Nach nur neun Monaten wird er dann bereits auf Bewährung wieder entlassen. Der gescheiterte Putsch wird in den Folgejahren zum Gründungsmythos der nationalsozialistischen Bewegung stilisiert.
Inhalt des Artikels:
Hitlers Versuch, sich am 8. November 1923 in München an die Macht zu putschen, scheiterte kläglich. Gleichwohl ließ Hitler den Putschversuch später in einen heroischen Aufstand umdeuten und das trostlose Geschehen mythisch verklären. Der Putschversuch galt ihm hinfort als "Bluttaufe" der nationalsozialistischen Bewegung. Die mit dem Blut der Putschisten getränkte "Blutfahne" wurde zu einer Nazi-Reliquie - mit ihr wurden alle neuen NSDAP-Fahnen "geweiht".
Hitlers Überfall auf den Münchner Bürgerbräukeller
Es ist der Abend des 8. November 1923. Der 33-jährige Chef der NSDAP, Adolf Hitler, überfällt mit Gesinnungsgenossen den Bürgerbräukeller in München. In dem Lokal findet gerade eine Kundgebung des bayerischen Regierungschefs, Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, statt. Anwesend ist die halbe Regierung. Die SA umstellt das Lokal, drinnen richten Hitlers Leute ihre Maschinengewehre auf die Politiker. Um auf sich aufmerksam zu machen, schießt Hitler mit seiner Pistole in die Decke. Dann ruft er: "Ich erkläre die bayerische Regierung für abgesetzt. Eine provisorische Regierung wird gebildet. Bis zum Ende der Abrechnung mit den Verbrechern, die Deutschland heute zu Grunde richten, übernehme ich die Leitung der provisorischen Regierung."
Hitler als neuer Regierungschef
Nach langen Unterredungen verspricht von Kahr den Putschisten, sie zu unterstützen. Hitler sieht sich schon als neuer Regierungschef. Alles scheint grandios für ihn zu laufen. Doch es kommt anders, weil er den Fehler macht, von Kahr und seine Mitstreiter noch in der Nacht gehen zu lassen. "Dadurch war er eines wesentlichen Druckmittels beraubt", erklärt der Historiker Reinhard Weber. Kaum nämlich sind von Kahr und seine Leute in Freiheit, stellen sie sich gegen Hitler und verurteilen dessen Putschversuch.
Nationalistische Kräfte in der Weimarer Republik
Im Freistaat Bayern sind seit Anfang der zwanziger Jahre nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch. Der Regierung steht seit September 1923 Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr "mit diktatorischen Vollmachten" vor. Kahr sind sowohl die Demokratie als auch die Weimarer Republik zutiefst zuwider.
Es gab in Bayern starke Kräfte in Politik und Militär, die die Weimarer Verfassung revidieren wollten. Das war das eine. Das andere: Aufgrund dieser rechtslastigen Politik haben sich im Freistaat sehr viele Rechtsradikale angesammelt. Die fühlten hier Mogenluft und die bayerischen Behörden haben sie gewähren lassen und zum Teil auch unterstützt.
Reinhard Weber, Historiker
Zu den Rechtsradikalen gehört auch der Österreicher Adolf Hitler. Seit 1921 steht er an der Spitze der NSDAP. Bei jeder Gelegenheit ruft er zum Sturz der Reichsregierung auf. Gustav von Kahr und seine politischen Mitstreiter haben im Grunde nichts gegen Hitler und seine NSDAP einzuwenden - sie wollen sich nur von den Nationalsozialisten die Macht nicht streitig machen lassen.
Hitlers Marsch durch München
Am Morgen des 9. November 1923 ahnt Hitler bereits, dass der Putsch gescheitert ist. Doch er gibt nicht auf. Gegen Mittag verlässt er mit seinen Gefolgsleuten den Bürgerbräukeller und begibt sich auf einen Marsch durch München. Durch eine Besetzung der Innenstadt will Hitler das Blatt doch noch zu seinen Gunsten wenden. An der Feldherrnhalle werden die Putschisten jedoch von der Landespolizei gestoppt. Wenig später kommt es zu einer Schießerei. Vier Polizisten und 16 Aufständische sterben im Kugelhagel. Dabei wird auch jene NSDAP-Fahne mit dem Blut von drei gefallenen Putschisten getränkt, die als "Blutfahne" in die Geschichte eingehen wird - als eine der wichtigsten Reliquien der Nazi-Bewegung.
Kult um "Blutfahne" der NSDAP
Die "Blutfahne" hatte einer der Putschisten retten können. Er hatte sie sich um den Körper gewickelt und war nach Hause geeilt. Lange wurde die Fahne in Wohnungen von NSDAP-Mitgliedern versteckt, ehe sie 1931 in der "Fahnenhalle" des "Braunen Hauses" in München ihren endgültigen Platz fand. Seit 1926 war die "Blutfahne" zentraler Bestandteil des schaurigen nationalsozialistischen Märtyrerkults, insbesondere bei den alljährlichen Gedenkfeiern am Jahrestag des gescheiterten Putschversuchs und den Nürnberger Parteitagen. Durch eine Berührung mit der "Blutfahne" wurden später außerdem alle neuen Fahnen der NSDAP "geweiht" - als ob der "Blutfahne" besondere mysthische Kräfte innewohnen würden.
Anklage wegen Hochverrats
Hitler selbst wird bei dem Putschversuch leicht verletzt und kann in einem Krankenwagen entkommen. Er versteckt sich in der Nähe von München, in Uffing am Staffelsee. Zwei Tage später, am 11. November 1923, wird er dort aufgespürt und festgenommen.
Hitler rechnet mit dem Schlimmsten. Er weiß, die Anklage wird auf Hochverrat lauten. Dafür kann er auch zum Tode verurteilt werden. Hochverrats-Prozesse werden vor dem Reichsgericht in Leipzig verhandelt. Doch einen Prozess in Leipzig will Bayern auf jeden Fall verhindern. Als Hitlers Komplize wäre vor dem Reichsgericht nämlich auch Gustav von Kahr, der den Putsch anfänglich unterstützte, angeklagt worden. Und so beginnt der Prozess gegen die Putschisten im Februar 1924 in München. "Die Angeklagten sind verdächtig, es unternommen zu haben, die Verfassung des Deutschen Reichs und des Freistaats Bayern gewaltsam zu verändern. Unter den Truppen hat sich besonders der Stoßtrupp Hitler durch sein gewalttätiges Vorgehen ausgezeichnet", heißt es in der Anklageschrift.
Gerichtliche Sympathie für Hitler
Der Prozess in der bayerischen Landeshauptstadt verläuft für Hitler und die anderen Mitangeklagten ganz nach ihren Vorstellungen. Der Vorsitzende Richter sympathisiert unverhohlen mit den Nationalsozialisten und lässt Hitler ausführlich zu Wort kommen. Und der macht die Anklagebank umgehend zu einem Forum für nationalsozialistische Propaganda.
Der viel zu milde Prozess hat eine historische Chance, Hitler völlig aus dem Verkehr zu ziehen, versäumt. Im Übrigen hätte die Ausweisung des österreichischen Staatsbürgers Hitler, die eigentlich dringend vorgeschrieben war, genügt, um für Deutschland künftiges Unheil zu verhindern.
Reinhard Weber, Historiker
Kurze, komfortable Festungshaft
Hitler wird, entgegen den Vorschriften, nicht ausgewiesen. Das äußerst milde Urteil lautet auf fünf Jahre Festungshaft. Verbüßen muss er die Strafe in Landsberg am Lech. Am 1. April 1924 wird Hitler in die Festung eingewiesen. Doch mit einem Zuchthaus haben seine Haftbedingungen nichts zu tun: Hitler steht eine eigene Zelle zur Verfügung, er darf nach Belieben Besucher empfangen und sich mit seinen ebenfalls inhaftierten Gesinnungsgenossen in einem Gemeinschaftsraum treffen. Nach nur neun Monaten wird er auf Bewährung schon wieder entlassen. Im Koffer hat er ein fertiges Manuskript - den ersten Band von "Mein Kampf", geschrieben in den neun Monaten Festungshaft. Jetzt hat die faschistische "Bewegung" auch ein Programm.
Hitlerputsch als Gründungsmythos der NSDAP
Und schon bald wird sie auch einen Gründungsmythos haben: den gescheiterten Hitlerputsch von München. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wird darum alljährlich ein bombastischer Kult betrieben. In gespenstischen Totenfeiern wird der gefallenen Putschisten gedacht. Sie werden zu Märtyrern verklärt, die ihr Leben für die Sache des "Nationalsozialismus" geopfert hätten. Hitler stiftet 1933 den sogenannten "Blutorden", der allen am Putsch beteiligten Männern verliehen wird - es ist eine der höchsten Auszeichnungen der NSDAP. Am 8. November 1939 nutzt der Widerstandskämpfer Georg Elser die Chance, um einen Anschlagsversuch auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller zu verüben. Das Attentat scheitert nur knapp. Noch im selben Jahr wird der 9. November als "Gedenktag für die Bewegung" zum staatlichen Feiertag erklärt. In einer Gedenkrede erklärt Hitler, aus den Opfern der misslungenen Revolte sei "doch erst recht die Rettung Deutschlands gekommen".
Dieser Artikel erschien erstmals im November 2018.
Dieses Thema im Programm:MDR Aktuell | 20. Juli 2020 | 22:45 Uhr