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Männer des Wettertrupps "Haudegen" Ende April 1945 auf der Spitzbergen-Insel Nordostland. Bildrechte: Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Nachlass Wilhelm Dege

Kriegswetterstation "Haudegen"4. September 1945: Als auf Spitzbergen die letzten Wehrmachtsoldaten kapitulieren

04. September 2020, 05:00 Uhr

Vier Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, am 4. September 1945, kapitulieren auf dem Spitzbergen-Archipel die letzten deutschen Soldaten. Es ist der Marinewettertrupp "Haudegen", den man fast auf der Insel Nordostland vergessen hätte. Doch dann kommen norwegische Robbenfänger und befreien die Männer aus ihrer misslichen Lage.

von Dr. Daniel Niemetz

Die letzten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges kapitulieren in beschwingter Runde bei gutem Essen, reichlich Schnaps und Zigaretten vor norwegischen Robbenfängern. Wir schreiben den 4. September 1945, Wordiebucht, Rijpfjord, Nordküste der Spitzbergen-Insel Nordostland (norweg. Nordaustlandet). In der Wetterstation "Haudegen" der deutschen Kriegsmarine richten elf Soldaten des Wettertrupps von Leutnant Dr. Wilhelm Dege ein Festmahl für die siebenköpfige Besatzung des norwegischen Robbenfangbootes "Blaasel" von Kapitän Ludwig Albertsen aus. Die Norweger sind gekommen, um die Wehrmachtsoldaten vier Monate nach dem Kriegsende in Europa von ihrer abgelegenen Station in der Arktis zu evakuieren. Lange haben die Deutschen auf diesen Moment gewartet.

"Haudegen" nicht der einzige Wettertrupp

"Haudegen"-Expeditionsleiter Leutnant Dr. Wilhelm Dege Ende März 1945. Bildrechte: Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Nachlass Wilhelm Dege

Seit fast einem Jahr ist der Wettertrupp "Haudegen", benannt nach seinem Missionsleiter Dr. Dege, einem Geografen und Kenner der Arktis, auf Nordostland stationiert. "Haudegen" ist nicht die einzige Kriegswetterstation der Wehrmacht in arktischen Gefilden. Auch auf der gleichnamigen Hauptinsel des Spitzbergen-Archipels, im Nordosten Grönlands, an der Küste des kanadischen Labrador und auf dem zur Sowjetunion gehörenden Nordpolarmeer-Archipel Franz-Josef-Land betreiben Kriegsmarine und Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg Wetterstationen. Einige werden geräumt, andere von alliierten Kommandounternehmen liquidiert. Der "Krieg um das Wetter" wird mit äußerster Härte geführt, denn präzise Wettervorhersagen sind für die Kriegführung von immenser Bedeutung. Die Daten aus der Wetterküche Arktis sind dabei unabdingbar.

Zwei Millionen Reichsmark für Expedition

Nordostland ist der entlegenste Winkel des Spitzbergen-Archipels. Bildrechte: imago/imagebroker

Entsprechend viel lassen sich Kriegsmarine und Luftwaffe ihre arktischen Kriegswetterstationen an Land und auf See kosten. So investiert die Kriegsmarine allein in das Unternehmen "Haudegen" zwei Millionen Reichsmark. In Sonderlehrgängen werden die Marinesoldaten für den Winter- und Gebirgskampf, aber auch im Kochen und Backen, im Zähneziehen und der Amputation gefrorener Gliedmaßen geschult. Anfang September 1944 schifft der "Haudegen"-Trupp mit 80 Tonnen Ausrüstung im nordnorwegischen Tromsø ein. An Bord des Unterseeboots U-307 und des Versorgungsschiffes "Karl. J. Busch" wird die Expedition auf die 1.000 Kilometer nördlich gelegene Spitzbergen-Insel Nordostland gebracht.

Wetterstation aus Fertigteilen

Die "Haudegen"- Wetterstation bietet elf Soldaten und ihrem Material ausreichend Schutz und Komfort im arktischen Winter. Bildrechte: Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Nachlass Wilhelm Dege

In der Wordiebucht des Rijpfjordes im Norden Nordostlands entsteht aus vorgefertigten Holzsegmenten eine 50 Quadratmeter große Wetterstation. Die mitgebrachte Verpflegung ist auf 1,4 Kilogramm pro Mann und Tag für ein Jahr berechnet. Auch Alkohol und Zigaretten gehören dazu. Neben den meteorologischen Instrumenten und Gerätschaften, die die Männer benötigen, um alle möglichen Wetterdaten zu sammeln und per Funk weiterzuleiten, gehören auch große Mengen an Waffen und Munition zur Ausrüstung. Zwei Maschinengewehre, mehrere Karabiner, MPi, Pistolen und Jagdwaffen bilden das Arsenal. Hinzu kommen knapp 32.000 Schuss Munition, 300 Handgranaten sowie fast 350 Spreng- und Panzer-Gewehrgranaten.

Wetterdaten für deutsche Kriegführung

Ein deutscher Nahaufklärer Focke-Wulf Fw 189 auf einem Flugplatz in Nordnorwegen: Von dort greifen Luftwaffe und Marine die Nordmeergeleitzüge der Alliierten an. Bildrechte: imago/United Archives International

Zum Schutz des Lagers legt der "Haudegen"-Trupp einen Minengürtel und eine gut gesicherte Reservefunk- und Beobachtungsstelle an. Auch wenn die Marinesoldaten an einem der einsamsten Orte der Erde gelandet sind, befinden sie sich immer noch im Krieg. Mit ihren Wetterdaten versorgen sie auch die deutschen Luft- und Marinekräfte in Nordnorwegen, die bis 1945 die alliierten Nordmeergeleitzüge in die Sowjetunion angreifen. Bei einer Enttarnung der "Haudegen"-Station würden die Alliierten alles unternehmen, diese auszuschalten. So heben Anfang November 1944 in Ostgrönland 200 US-Soldaten den Wettertrupp "Edelweiß 2" aus. Einen Monat später geht zwischen Grönland und Spitzbergen das Wetterschiff "Zugvogel" verloren. Nach dem "Zugvogel"-Untergang ist "Haudegen" die letzte Arktis-Station der Wehrmacht.

Gefahr durch Eisbären

Eisbären auf einer Scholle im Rijpfjord im Norden von Nordostland. Bildrechte: imago/ZUMA Press

Auch die "Haudegen"-Männer müssen sich ihrer Haut erwehren. Im Lager erschießen sie einen Eisbären, der sich von den Gerüchen der Küche angelockt fühlt. Rentiere bereichern den Speiseplan des Wettertrupps. Den Hauptteil des Tages verbringen die Marinesoldaten jedoch mit dem Sammeln von Wetterdaten. Dreimal täglich melden sie Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchte, Windrichtung und -stärke, Bewölkung und Niederschlag verschlüsselt an die Marinefunkstelle Tromsø. Einmal pro Woche lassen sie einen wasserstoffgefüllten Wetterballon 8.000 Meter hoch aufsteigen. Im arktischen Winter bei minus 50 Grad, Orkanen und meterhohem Schnee eine "verflucht kalte Angelegenheit", wie "Haudegen"-Chef Dege in seinen Erinnerungen "Gefangen im arktischen Eis" später schreibt.

Endlose Nächte und große Sorgen

Die Rentiere auf Nordostland bereichern den Speiseplan des "Haudegen"-Trupps. Bildrechte: imago/robertharding

Die "Haudegen"-Männer erleben auf Nordostland zwischen Ende Oktober und Mitte Februar die fast viermonatige Polarnacht, in der die "Nächte" wegen des Mondlichtes und der Polarlichter heller sind als die "Tage". Sie feiern Weihnachten und teilen ihre Sorgen um die Angehörigen in der Heimat. Zwei Soldaten, die aus Dresden stammen, sind besonders geschockt, als sie im Februar 1945 die Nachricht von der Bombardierung ihrer Heimatstadt erreicht. Als die Männer am 1. Mai vom Tode Adolf Hitlers erfahren, trinken sie erstmal einen Steinhäger und sagen sich: "Jetzt kommt eine andere Zeit", wie sich der damals 21-jährige Wetterfunker Heinz Schneider später in der MDR-Dokumentation "Der Krieg in der Arktis" erinnert.

Nach dem Kriegsende vergessen

Nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai wird der Schwere Kreuzer "Prinz Eugen" im dänischen Kopenhagen festgesetzt. Bildrechte: imago/United Archives International

Am 8. Mai geht der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. "Haudegen" sendet seine Wetterdaten ab sofort unverschlüsselt. Aus Tromsø kommt eine letzte Anfrage, wie viele Vorräte der Wettertrupp noch habe. Danach herrscht Funkstille. Die Briten übernehmen das Kommando in Norwegen. 375.000 Mann deutscher Besatzungstruppen gehen in Gefangenschaft. Das Marineoberkommando Norwegen unter Admiral Theodor Krancke bleibt jedoch bis zum 26. August 1945 unter britischem Kommando bestehen. Es soll die Entminung der deutschen Seeminenfelder vor Norwegen und die Entmilitarisierung der deutschen Marineeinrichtungen überwachen. Der deutsche Marinefunker in Tromsø, Rolf Wieck, schildert später, dass er seine neuen Vorgesetzten immer wieder an den Marinewettertrupp auf dem Spitzbergen-Archipel erinnert. Doch: "Es war niemand da, der die Verantwortung übernahm, um 'Haudegen' abzuholen."

Gerüchte vom deutschen Elitetrupp

U-Boot-Bunker in Trondheim: Auch die deutschen Unterseeboote werden nach Kriegsende von den Briten kontrolliert. Bildrechte: imago/United Archives International

Die deutschen Soldaten auf Nordostland rechnen schon damit, dass man sie vergessen hat und sie einen weiteren Winter in der Arktis verbringen müssen. Dann erreicht am 25. August ein Funkspruch aus Tromsø die "Haudegen"-Station. Ein norwegisches Schiff soll die Deutschen abholen. Doch wieder vergeht Zeit. In Norwegen hat man Angst vor den deutschen Soldaten auf dem Spitzbergen-Archipel. Gerüchte von einem Elitetrupp, der nicht kampflos kapitulieren würde, machen die Runde. Genaues über die geheime Wettermission der Kriegsmarine weiß man nicht, da die deutschen Dienststellen alle Unterlagen vernichtet haben.

Zwei alte Bekannte

Doch dann findet sich mit dem Robbenfänger "Blaasel" unter Kapitän Albertsen eine Crew, die bereit ist, den Marinewettertrupp von Nordostland abzuholen. Am späten Abend des 3. September taucht das norwegische Schiff tatsächlich in der Wordiebucht auf.

Ein Schiff fährt 2017 in die Phippsøyabucht von Nordostland ein. Ein ähnliches Bild dürfte sich 1945 den "Haudegen"-Männern in der Wordiebucht geboten haben. Bildrechte: imago/alimdi

Als Albertsen an Land geht, staunen die "Haudegen"-Soldaten nicht schlecht, dass ihr Expeditionsleiter Dege den Norweger am Strand herzlich umarmt. Beide Männer kennen sich von Spitzbergen-Expeditionen aus der Vorkriegszeit. Die Deutschen laden ihre norwegischen Retter zu einem letzten Festmahl ein. Nach mehreren Schnäpsen und Zigaretten erinnert Albertsen den deutschen Wettertruppführer daran, dass er doch nun mal kapitulieren müsste. Dege legt daraufhin seine Dienstpistole auf den Tisch, wie sich der damals 19-jährige Wetterfunker Siegfried Czapka erinnert, und sagt: "Hiermit kapituliere ich."

Nicht die allerletzte Kapitulation

Damit streckt am Morgen des 4. September 1945 die letzte deutsche Einheit des Zweiten Weltkrieges auf der Spitzbergen-Insel Nordostland in beschwingter Runde vor norwegischen Robbenfängern die Waffen. Die letzten kapitulierenden Soldaten des gesamten Krieges sind die "Haudegen"-Männer aber nicht. Dieser zweifelhafte Ruhm gebührt dem japanischen Leutnant Onoda Hirō, der sich erst im März 1974 auf der Philippinen-Insel Lubang ergibt. Zu diesem Zeitpunkt ist der frühere "Haudegen"-Expeditionsleiter Dr. Wilhelm Dege bereits seit zwölf Jahren Professor in Dortmund.

Insel Nordostland im Spitzbergen-Archipel

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