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StadtgeschichteGörlitz: Die geteilte Stadt im geeinten Europa

24. August 2021, 15:05 Uhr

Görlitz, die zu Sachsen gehörende Stadt an der Neiße, trägt gemeinsam mit dem polnischen Stadtgebiet Zgorzelec den Titel "Europastadt" und verweist damit auf den verbindenden Charakter des polnischen und deutschen Stadtteils. Als bedeutendes Handelszentrum an der Via Regia gelegen, erfährt die Stadt im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit eine erste Blüte.

Die deutsch-polnische Grenze in Görlitz Bildrechte: Imago/Werner Otto

Görlitz und Zgorzelec – bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine gemeinsame Stadt – sind sich trotz unmittelbarer Nachbarschaft im Laufe der Jahre fremd geworden. Nur langsam erfolgt heute eine Annäherung der beiden Stadtteile. Gemessen an der gewaltigen Zäsur von 1945, grenzt das beinahe an ein Wunder. Damals, Ende des Zweiten Weltkriegs, sprengt die Wehrmacht alle Brücken über die Neiße. Einen Monat später heißt es nunmehr auf der polnischen Seite: Alle deutschen Bewohner des Ostteils der Stadt müssen raus.

Teilung einer Stadt

Ein gewaltiger Flüchtlingsstrom – auch gespeist von den Bewohnern der ehemals deutschen Ostgebiete drängt ab Sommer 1945 in den Westteil der Stadt. Über 40.000 Flüchtlinge hoffen, dass es bald wieder zurückgeht, in die alte Heimat. So warten sie über Jahre, dicht gedrängt, oft in nur einem Zimmer und spüren deutlich, dass sie nicht willkommen sind.

Unter den vielen, die in Görlitz landen, ist auch die damals 8-jährige Brigitte Beckmann.

Flüchtlinge waren eben Habenichtse. Und wir hatten eben nichts. Haste was, dann biste was. Die Flüchtlinge erinnerten ständig daran, dass man den Krieg verloren hatte. Und in Görlitz wollte man das so schnell wie möglich vergessen. Vor allem die alte Görlitzer Bevölkerung.

Brigitte Beckmann-Pohl

In der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften erinnern heute viele Zeugnisse an dieses schmerzhafte Kapitel, aber auch an die zweite große Zäsur: dem Görlitzer Abkommen von 1950. Mit dessen Unterzeichnung beginnt auch für Brigitte Beckmanns Familie eine neue Zeit. Denn nun ist es Gewissheit: Es gibt kein Zurück über den Fluss in die alte Heimat. Auch die geschönte Bezeichnung "Oder-Neiße-Friedensgrenze" kann nicht über die offizielle Teilung hinwegtäuschen.

Das war ja nur Propaganda. Die Grenze war geschlossen. Es gab keine Kontakte von der einen zur anderen Seite. Von Hände reichen usw. war in der Praxis gar nicht die Rede.

Brigitte Beckmann-Pohl

"Görlitzer Abkommen" von 1950

Im "Görlitzer Abkommen" einigen sich DDR und Polen über den Verlauf der Grenze, die weitgehend der Oder-Neiße-Linie folgt. Damit erkennt die DDR östlich von Oder und Neiße gelegenen Gebiete und einige westlich von Stettin gelegene Territorien als polnisches Territorium an. Im offiziellen Sprachgebrauch der DDR wird die Grenze als "Oder-Neiße-Friedensgrenze" bezeichnet.

Für die Regierung der DDR führt Walter Ulbricht die Verhandlungen in Warschau, die polnische Seite wird von Jozef Cyrankiewicz vertreten. Die Unterschrift unter diese Deklaration erfolgt auf Druck der Sowjetunion.

Die Regierung der BRD - anfänglich strikt gegen das Abkommen - erhebt zwar faktisch schon seit dem Warschauer Vertrag von 1970 keine Ansprüche mehr auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie, erkennt die Grenze aber endgültig erst im Zuge der Zwei-plus-Vier-Gespräche an, um den Wiedervereinigungsprozess zwischen den beiden deutschen Staaten nicht zu gefährden. Mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag wird sie am 14. November 1990 völkerrechtlich bestätigt.

Selbst nachdem 1972 die Visumspflicht zwischen den Nachbarstaaten fällt und die Grenze fortan durchlässiger wird, wagten sich viele der Bewohner links und rechts der Neiße nicht, die wieder aufgebaute Stadtbrücke zum Nachbarn zu überqueren. 

Dass der Fluss die Stadt in zwei Hälften teilt ist neu in der Stadtgeschichte und doch prägt der Wasserlauf von Anbeginn das Antlitz der Stadt.

Görlitz als Handelsplatz

1071 wird Görlitz als "Gorelic" erstmals erwähnt. Es handelt sich um ein slawisches Dorf, das Heinrich IV. dem Bischof von Meißen übereignet, was dazu führt, dass sich Siedler aus Thüringen und Franken in diesem Gebiet niederlassen. Um 1220 entsteht dann im Bereich des heutigen Untermarktes die Stadt Görlitz als Handelsplatz.

Die Lage der Stadt, entlang der Via Regia ist für die Stadtentwicklung von entscheidender Bedeutung. Ende des 13. Jahrhunderts wird die Ost-West-Achse der Via Regia erweitert. Daraufhin entsteht in Görlitz der heutige Obermarkt, der zum neuen, großen Handelsplatz wird. Eine Mauer umschließt die gesamte Stadt, die 600 Jahre lang in ihrer Größe fortbesteht und heute die historische Altstadt bildet.

1303 erhält Görlitz das Stadtrecht. Zwar zählt die Stadt nicht zu den tonangebenden Metropolen in Europa, doch schafft sie es über die Jahrhunderte hinweg, ein bedeutender Warenumschlagplatz zu bleiben. Schon im 14. Jahrhundert ist die Stadt wirtschaftlich so stark, dass man es sich leisten kann, eine hölzerne Neißebrücke zu errichten. Erwähnt wird die Brücke erstmals 1376.

Auch die Zollfreiheit für die Görlitzer Kaufleute und der Waidhandel – das sind in einem Indigo-Ton gefärbte Textilien - bringen der Stadt und der gesamten Region großen Reichtum.

Görlitz im Sechsstädtebund

1346 schließt sich Görlitz mit Zittau, Kamenz, Löbau, Lauban/ Lubań und Bautzen zum Sechsstädtebund zusammen. Der Bund soll vor allem dem Schutz des Handels dienen. Und so erleben die Städte entlang der Via Regia in dieser Zeit eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte.

Doch Görlitz muss seine Stellung als Umschlag- und Stapelplatz auch immer wieder gegen konkurrierende Straßenverläufe verteidigen. So versucht z.B. die südlicher gelegene Stadt Zittau den Verkehr der Via Regia gezielt umzuleiten, was am Ende des Mittelalters zu einem jahrzehntelangen Kleinkrieg zwischen den beiden Ortschaften führt.

Görlitz wird preußisch

Die Kaisertrutz in Görlitz bekam während des Dreißigjährigen Krieg 1641 ihren Namen Bildrechte: MDR/Nadine Jejkal

Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges erleidet Görlitz einen schweren Niedergang und fällt 1635 an das Kurfürstentum Sachsen. Mit dem allmählichen Rückgang des Handels auf der Via Regia schwindet im 17. und 18. Jahrhundert auch die Bedeutung der Stadt.

Erst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erlebt sie eine zweite Blütezeit. 1815 wird Görlitz preußisch und Teil der Provinz Schlesien. Mit der beginnenden Industrialisierung und der kommunalen Selbstverwaltung erfährt sie einen lebhaften Aufschwung und dehnt sich zum wirtschaftlichen, politischen und geistigen Zentrum der preußischen Oberlausitz aus.

Die Stadt wird wichtiger Standort für Unternehmen, Verwaltungen und Gerichte und bietet als Garnisonsstadt und kirchliches Zentrum seinen Bewohnern eine hohe Lebensqualität. So steigt die Einwohnerzahl von 30.000 Menschen im Jahr 1860 auf rund 80.000 zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wird diese Phase des steten Aufschwungs jäh beendet. Zwar übersteht die Stadt den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet, doch dann kommt es beim Rückzug der deutschen Truppen aus dem Osten zu jener Zerstörung der Brücken über die Neiße und letztlich zur vorweg genommenen Teilung der Stadt.

Tolerantes Görlitz

Heute trifft man in Görlitz auf eine Vielfalt von Einflüssen aus fremden Ländern, die sich aus den damals modernen Verkehrsachsen des Mittelalters erklären. Die Zeugen dieser kulturellen Verflechtungen finden sich noch immer in der Stadt im unmittelbaren Nebeneinander prachtvoller Bürgerhäuser aus Gotik, Barock und Renaissance oder im respektvollen Umgang der verschiedenen Religionen. Nicht nur christliche Gotteshäuser sind auf überschaubarem Raum zu finden, auch die einzige Synagoge Mitteldeutschlands, die nicht in der Reichspogromnacht zerstört wurde. Diese eröffnete unlängst nach fast 30 Jahren Rekonstruktion als Kulturforum neu.

Die Griechen in Zgorzelec

Von dieser Toleranz kündet auch auf polnischer Seite der "Bulvard Grecki".  Warum die Ufer-Promenade  "Griechischer Boulevard" heißt, hat seinen Ursprung in einer außergewöhnlichen Geschichte.

Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kommen Tausende Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Zgorzelec an. Es sind vor allem vertriebene Kommunisten, mitsamt ihren Familien. Sie alle landen in einer Geisterstadt, aus der die Deutsche verschwunden sind, jedoch viele Polen sich scheuen, einzuziehen.

Die Stadt war leer. Alle Häuser waren leer. Und es gab eben ein paar Polen, die sagten: Wunderbar, das ist ja eine ideale Basis.

Nikos Rusketos,  Musiker mit griechischen Wurzeln

Doch die Ansiedelung ist geheim. Zu sehr fürchtet die polnische Regierung, dass es bei der Bevölkerung nicht gut ankommt, wenn man sich um griechische Flüchtlinge kümmert, während ringsum bittere Not herrscht.

Heute leben in Zgorzelec die Nachkommen von rund 50 griechischen Familien. Nikos Rusketos ist geblieben, weil er in Polen mit seiner griechischen Musik Erfolg hat. Inzwischen ist er hier fest verwurzelt. Auch wenn seine Lieder noch immer von der Sehnsucht nach der griechischen Heimat erzählen.

Menschliche Begegnung, Freundschaften und zweisprachige Familien – das ist mittlerweile der Nährboden des Miteinanders auf beiden Seiten der Europastadt: In Zgorzelec mit seinen rund 30.000 Einwohnern und in Görlitz mit rund 56.000. Täglich wechseln viele von ihnen die Fluss-Seite - zur Arbeit, zur Schule, für Freizeit-Aktivitäten oder zum Einkaufen. So entsteht allmählich ein Dialog, der Vorurteile abbaut und alte Wunden heilt. Das Miteinander existiert in Görlitz/ Zgorzelec nicht nur auf dem Papier: Man kann es hören, sehen, hautnah erleben.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 24. August 2021 | 21:00 Uhr