Die Tradition der DDR-BürgerrechtsbewegungMontagsdemonstrationen: Wer ist das Volk?
Egal, ob bei den Corona-Demonstrationen oder jetzt wieder bei den Demonstrationen gegen die steigenden Energiepreise oder beim AfD-Wahlkampf für die Landtagswahlen 2019 in Ostdeutschland - immer wieder wird an die Tradition der DDR-Bürgerrechtsbewegung angeknüpft. Auf den Wahlplakaten der AfD stand: "Wir sind das Volk!" Die vielleicht wichtigste Parole der Friedlichen Revolution von 1989 ist aber schon oft in den vergangenen Jahrzehnten von diversen Protestbewegungen für ihre Zwecke vereinnahmt worden.
Sommer 2019. In Deutschlands Osten tobt der Wahlkampf. Kandidaten und Parteien buhlen um die Gunst der Wähler. Ausgetragen wird der Wahlkampf auch auf Wahlplakaten. Ein Wahlspruch sticht dabei vor allem ins Auge. Er lautet: "Wir sind das Volk!" Er steht auf einem Wahlplakat der Alternative für Deutschland (AfD). Warum aber macht die AfD Wahlkampf mit der vielleicht wichtigsten, der kraftvollsten Parole der Friedlichen Revolution in der DDR?
Leipziger Montagsdemonstrationen
Ganz sicher sind sich die Historiker nicht, doch vieles spricht dafür: Zum ersten Mal als Sprechchor zu hören war der Ruf "Wir sind das Volk" auf der Leipziger Montagsdemonstration am 2. Oktober 1989. Also bereits eine Woche vor der so entscheidenden Demonstration am 9. Oktober, als 70.000 Bürger trotz angedrohter Gewalt von Seiten der Staatsmacht der DDR auf die Straße gingen und der Zug der Demonstranten erstmals den Leipziger Innenstadtring umrundete.
"Aber wir sind doch das Volk!"
Am 02. Oktober waren es zwischen 15.000 und 20.000 Demonstranten. Das waren schon sehr viele, doch noch konnte die Demonstration durch Polizei und Einheiten der Kampfgruppen gestoppt und aufgelöst werden. Eine Polizeikette sperrte den Ring am damaligen "konsument"-Warenhaus ab. Der Protestzug stoppte. Augenzeugen berichten, Polizisten forderten die Menge per Megafon auf, auseinander zu gehen. Und die Aufforderungen begannen stets mit dem Satz: "Hier spricht die Deutsche Volkspolizei." Empörung machte sich Luft. "Volkspolizei? Aber wir sind doch das Volk!" Ein neuer Sprechchor wurde nun skandiert. Nicht mehr nur "Keine Gewalt" und "Freiheit, Freiheit", nun wurde auch gerufen: "Wir sind das Volk!" Ein Ruf, der klarmachte, dass man die angemaßte Macht derjenigen, die behaupteten das Volk in einer Volksregierung zu vertreten und zu regieren, nicht mehr länger akzeptierte. Ein Ruf, der die Machtverhältnisse in der DDR, die sich als Volksrepublik verstand, vom Kopf auf die Füße stellte. Ein machtvoller und ein stolzer Ruf.
"Der wichtigste Satz der letzten Wochen"
Am 4. November 1989, auf der großen, von Künstlern organisierten Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, sprach auch Christa Wolf. Die berühmte Schriftstellerin wandte sich an die mehr als eine Million Teilnehmer der Protestkundgebung und sagte: "Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: 'Demokratie jetzt oder nie!' Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen, der Ruf: 'Wir sind das Volk!' Eine schlichte Feststellung und die wollen wir nicht vergessen."
Nicht von der Bürgerrechtsbewegung erfunden
Die berühmte Wortschöpfung "Wir sind das Volk" ist genau betrachtet aber keineswegs eine Erfindung der Leipziger Montagsdemonstranten. Sie taucht erstmals in Georg Büchners Drama "Dantons Tod" auf. In einer Szene des Stückes lässt Georg Büchner einen radikal-revolutionären Pariser Bürger ausrufen: "Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei..." Der Revolutionsdichter Ferdinand Freiligrath verwendet 1848, in den Tagen der Märzrevolution, die Parole in seinem berühmten Gedicht "Trotz alledem": "Wir sind das Volk, die Menschheit wir, // Sind ewig drum, trotz alledem!" Das soll nun aber durchaus nicht heißen, die Leipziger Montagsdemonstranten hätten sich an jenem 2. Oktober 1989 ungeniert bei Büchner und Freiligrath bedient. Es war tatsächlich ihre Parole.
Proteste gegen den Kosovo-Krieg und gegen "Hartz IV"
Die berühmte Parole der Friedlichen Revolution von 1989 ist in den vergangenen Jahrzehnten freilich bereits mehrfach für diverse Anliegen und Überzeugungen verwendet worden. Immer wieder versuchten Vereine oder Bewegungen, sich in die Tradition der Bürgerrechtsbewegung in der DDR zu rücken und deren Wirkmächtigkeit für sich zu nutzen. So legten etwa Friedensaktivisten, die 1999 gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg demonstrierten, ihre Friedensgebete (auch in der Leipziger Nikolaikirche) ganz bewusst auf Montage - durchaus in Anlehnung an die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Und auch die Protestbewegung gegen die von dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder initiierte "Agenda 2010" suchte 2004 an die DDR-Oppositionsbewegung anzuschließen. Ihre Proteste gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" fanden vor allem in Montagsdemonstrationen ihren Ausdruck. Auf ihrem Höhepunkt demonstrierten jeden Montag im Herbst 2004 etwa 200.000 Menschen in 200 deutschen Städten. Ihre Parolen: "Wir sind das Volk und nicht die Sklaven von Hartz IV!" sowie "Nieder mit Hartz IV, das Volk sind wir!"
"Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes"
Seit dem Herbst 2014 ruft in Dresden die rechtspopulistische Protestbewegung PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) immer Montags zu Demonstrationen auf. Der Montag ist bewusst gewählt. Man wähnt sich in der Tradition der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR. PEGIDA demonstriert vor allem gegen die Asylpolitik der Bundesregierung und gegen eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands. Auf dem Höhepunkt der Bewegung versammelten sich bis zu 15.000 Bürger auf den Straßen und dabei erschallte auch der Ruf: "Wir sind das Volk!"
AfD: "Vollende die Wende!"
Nun versucht also die AfD, sich in die Tradition der DDR-Opposition zu stellen und den Anschein zu erwecken, als würde sie, 30 Jahre später, deren Ziele nun endlich verwirklichen, eine "Vollendung der Wende" gewissermaßen. Und genau dies steht auch auf ihren Wahlplakaten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warf der AfD indessen vor, die Friedliche Revolution in der DDR bewusst zu Wahlkampfzwecken zu missbrauchen.
(Der Artikel wurde erstmals im März 2021 veröffentlicht.)
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV auch in "MDR Aktuell"02.08.2019 | 19:30 Uhr